Lesejahr C: 2021/2022

2. Lesung (Kol 1,24-28)

24Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Ich ergänze in meinem irdischen Leben, was an den Bedrängnissen Christi noch fehlt an seinem Leib, der die Kirche ist.

25Ihr Diener bin ich geworden gemäß dem Heilsplan Gottes, um an euch das Wort Gottes zu erfüllen.

26Er ist jenes Geheimnis, das seit ewigen Zeiten und Generationen verborgen war - jetzt aber seinen Heiligen offenbart wurde.

27Ihnen wollte Gott kundtun, was der Reichtum der Herrlichkeit dieses Geheimnisses unter den Völkern ist: Christus ist unter euch, die Hoffnung auf Herrlichkeit.

28Ihn verkünden wir; wir ermahnen jeden Menschen und belehren jeden Menschen in aller Weisheit, damit wir jeden Menschen vollkommen darstellen in Christus.

Überblick

Glaube will in erster Linie nicht gelehrt, sondern vor allem gelebt werden. Der Verfasser des Kolosserbriefes ist zutiefst überzeugt, dass Paulus für ein solches Leben aus dem Glauben ein absolut überzeugendes Beispiel gibt. Nicht Einbildung und Stolz diktieren hier die Feder, sondern der Wunsch, andere mit der eigenen Begeisterung anzustecken und "bei der Stange zu halten".

 

Einordnung in den Zusammenhang

Das erste Kapitel des Kolosserbriefs, aus dem der Lesungsabschnitt genommen ist, zeigt einen klaren und leicht nachvollziehbaren Aufbau:

Verse 1-11: Gruß, Dank und Fürbitte als Brieferöffnung

Verse 12-14: theologischer Verkündigungssatz: "Durch Christus haben wir die Erlösung"

Verse 15-20: Lehrgedicht über die Alleinbedeutsamkeit Christi ("Er ...") [Lesung des letzten Sonntags]

Verse 21-23: Der Glaube an diesen Christus muss gelebt werden ("Ihr ...")

Verse 24-29: Paulus als Verkündiger dieses Glaubens ("Ich ...") [heutige Lesung, die Vers 29 auslässt].

Die Stärkung der Gemeinde, sich nicht von Lehren beeinflussen und blenden zu lassen, die mit Zusatzlehren und -praktiken die Alleinbedeutsamkeit Jesu Christi in Frage stellen, erfolgt auf drei Wegen:

1. über die Erinnerung an einen vermutlich den angesprochenen Christen und Christinnen bekannten Glaubenstext (Verse 15-20; s. dazu sowie zur Einleitung in den Kolosserbrief den "Überblick" am vorigen Sonntag),

2. über eine klassische Ermahnung (Verse21-23)

3. und schließlich über die Vorbildlichkeit des Paulus.

Letztere steht im Mittelpunkt des Lesungsabschnitts Verse 24-28, zu dem eigentlich noch der zusammenfassende Schlussatz Vers 29 gehört ("Dafür mühe ich mich und kämpfe ich mit Hilfe seiner Kraft, die machtvoll in mir wirkt.") , der aber vermutlich wegen der betonten Ich-Botschaft nicht das Ende der Lesung bilden sollte.

 

Vers 24: Vorbild Paulus

Dieser Vers ist ganz aus der Perspektive des im Gefängnis sitzenden Paulus formuliert, der für die Verkündigung seines Evangeliums von Jesus Christus alle erdenkbaren Mühen auf sich nimmt, auch alle leidvollen Erfahrungen. Aus dem tiefen Glauben, dass in dem von ihm verkündeten Glauben eine wirkliche Lebens- und Hoffnungsbotschaft steckt - immerhin geht es um eine Lebensperspektive über den Tod hinaus - kann er sich selbst da noch freuen, wo er bekämpft und eingesperrt wird. Hier wird deutlich, dass der Kolosserbrief seine Wirkung entfaltet, unabhängig von der Frage ob er wirklich von Paulus stammt oder ob ein Späterer verborgen im Namen dieses Paulus schreibt (s. dazu die Einleitung in den Kolosserbrief unter dem oben markierten Link). Die Tatsache, dass jemand von dem im Christus-Lehrgedicht (Verse 15-20) festgehaltenen Glauben so erfüllt sein kann, dass ihn nichts von der Freude an diesem Glauben abbringen kann, wird der Gemeinde als ein stärkendes und ermutigendes Argument zugesprochen. Sie soll sich von den eher freudlosen, ja, letztlich Angst machenden kosmischen Mächten und lebenseinschränkenden asketischen Praktiken, die andere Missionare verkünden, nicht irre machen lassen und fernhalten (s. Lesung voriger Sonntag).

Zum Gedanken der "noch fehlenden Bedrängnisse Christi" siehe unter "Auslegung".

 

Vers 25:  Zur Fülle bringen

Gerade dieser Vers könnte ein Hinweis auf die nachpaulinische Verfasserschaft des Kolosserbriefes sein. Denn während Paulus von sich selbst immer als "Apostel" spricht aufgrund seiner Erfahrung mit dem auferweckten Christus, begegnet er hier als "Diener" (griechisch: diákonos) der Kirche nach der "oikonomía" Gottes. Das griechische Wort changiert zwischen "Heilsplan" und Umsetzung dieses Heilsplans in Form eines "Amtes": Paulus erfüllt seine Verkündigungsaufgabe als kirchlicher Amtsträger gemäß dem Heilswillen Gottes, der sich des Paulus (und aller in seinem Dienst ihm Folgenden) bedient, um Gottes Wort zur Fülle seiner Entfaltung zu bringen ("erfüllen"). Denn das Wort Gottes, das ein Wort der Verheißung ewigen Lebens ist und das in Jesus Christus menschliche Gestalt gewonnen hat, wird um seine Fülle und volle Wirkung gebracht, wenn niemand davon spricht.

 

Vers 26: Das "Geheimnis des Wortes Gottes"

Anders, als der deutsche Text vermuten lässt, dürfte das "Geheimnis" sich auf das "Wort Gottes" beziehen. Dieses schöpferische, heilsame und zuverlässige Wort nimmt seinen Anfang in der Schöpfung, die bereits mit dem immer schon beim Vater seienden Christus verbunden ist (s. Kolosser 1,15-16). Durch Menschwerdung, Kreuz und Auferweckung ist das beim Vater "verborgene" Wort1 erkennbar, d. h.  "offenbar" geworden. Dies gilt natürlich nur für die, die dies auch glauben können. Genau jene in ihrer Gesamtheit - für den Kolosserbrief: die Kirche - werden hier als "Heilige" bezeichnet. Es sind die Getauften.

 

Vers 27: "Hoffnung" und "Herrlichkeit"

Dieser Vers nennt mit den Begriffen "Hoffnung" und "Herrlichkeit" den eigentlichen Grund zur "Freude", von der in Vers 24 die Rede ist. Während die Begriffe hier relativ abstrakt bleiben, füllen sie sich von Kolosser 1,5 ("Hoffnung, die für euch im Himmel bereitliegt") und von Kolosser 3,4 her ("Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit. "): "Hoffnung" meint nicht das Tun des Menschen, der hofft, sondern das, was den, der glaubt, erwartet und worauf er hoffen darf: ewiges Leben. Dieses wird über den Begriff "Herrlichkeit", der ganz auf die Sphäre Gottes verweist, als Lebensgemeinschaft mit dem göttlichen Christus näher bestimmt.

Dieses Ziel bzw. die "herrliche Hoffnung" wird aber nicht exklusiv nur den Gläubigen vor Augen gestellt, sondern steht von Gott her prinzipiell Allen offen. Verkündigung, wie sie Paulus bzw. der Verfasser des Kolosserbriefes betreiben, soll dafür sorgen, dass diese Hoffnung die Menschen aus allen Völkern erreicht. Ob sich Menschen dann von dieser Hoffnung anstecken lassen - wie z. B. ein Paulus -, liegt in ihrer freien Entscheidung. Der Glaube zwingt nicht.

 

Vers 28: Gottes Ja zum Menschen

Die Schlussformulierung des Verses 28, der als Ziel der Verkündigung festhält, "damit wir jeden Menschen vollkommen darstellen in Christus", dürfte etwas rätselhaft klingen. Tatsächlich greift er zurück auf Kol 1,22: "Jetzt aber hat er euch durch den Tod seines sterblichen Leibes versöhnt, um euch heilig, untadelig und schuldlos vor sich hintreten zu lassen."

Für die beiden Verben "darstellen" und "hintreten lassen" steht im Griechischen dasselbe Wort paristánō. Verbindet man auf diesem Hintergrund beide Verse mteinander, so soll wohl gesagt werden: In der befreienden Verkündigungsbotschaft soll den Menschen klar werden, dass sie aufgrund des Erlösungstodes Jesu und nicht aufgrund irgendeiner eigenen Leistung vor Gott als "heilig, untadelig und schuldlos" gelten.  In anderen Teilen des Kolosserbreifes wird deutlich, dass damit nicht einfach ein Freifahrtschein erteilt wird für jegliches "unheilige, tadelige und schuldhafte" Handeln. Wohl aber wird gesagt: Die Voraussetzung, unter der der Mensch sein Leben führen und seine Entscheidungen für oder gegen diesen Gott treffen darf, ist erst einmal von Gott her ein vollkommenes Ja zum Nenschen und seiner Bestimmmung zum Leben.

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Auslegung

Kolosser 1,24: "Bedrängnisse" oder "Leiden"?

Die frühere Einheitsübersetzung aus dem Jahr 1980, aber auch andere Übersetzungen lasen in Vers 24:

"Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich, was an den Leiden Christi noch fehlt."

Dies klingt sehr danach, als habe Christus nicht "genug getan"; als sei sein Leiden in irgendeiner Weise unvollkommen gewesen und daher in jedem Fall ergänzungsbedürftig. Weil er am Kreuz nicht genug gelitten hat, müssen die Gläubigen durch selbst übernommenes Leiden das Erlösungswirken Jesu, die Beseitigung all dessen, was von Gott trennen mag ("Sünde"), erst zum Abschluss bringen. 

Der einzige Vers des Neuen Testaments, der eine solche Sicht überhaupt denkbar erscheinen lässt, wäre genau dieser Eröffnungsvers des Lesungsabschnitts Kolosser 1,24-28. Denn die übrige Verkündigung hält durchgängig fest, dass der Kreuzestod Jesu (zusammen mit seiner Auferweckung) keiner Ergänzung bedarf. Entsprechend hält der Hebräerbrief summarisch fest, dass Christus sich von den Hohepriestern am Tempel von Jerusalem unterscheidet. Sie mussten täglich "zuerst für die eigenen Sünden Opfer dar(zu)bringen und dann für die des Volkes;  ... das hat er ein für allemal getan, als er sich selbst dargebracht hat" (Hebr 7,27). Das "ein für allemal" schließt jegliche Zutat des Menschen und jede Ergänzungsbedürftigkeit aus.

Wie ist dann aber Kolosser 1,24 zu vertehen? Nicht zufällig lautet die neue Einheitsübersetzung (2016), auf die sich das Lektionar für den Gottesdienst ja seit Advent 2018 bezieht,  folgendermaßen:

"Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Ich ergänze in meinem irdischen Leben, was an den Bedrängnissen Christi noch fehlt an seinem Leib, der die Kirche ist."

Der Übersetzungsvergleich zeigt, dass auf einmal zwei verschiedene Begriffe gebraucht werden, wo vorher zweimal dasselbe Wort "Leiden" gebraucht wurde. Tatsächlich bestätigt der Blick in den griechischen Text des Neuen Testaments die Version von 2016. Denn im ersten Satz steht páthema ("Leiden"), im zweiten hingegen thlīpsis ("Bedrängnis"). Die Unterscheidung ist bedeutsam, denn die "Bedrängnisse Christi" beziehen sich nicht auf die "Leiden", sprich die Qualen im Rahmen seiner Passion - seien es die seelischen im Garten Getsemane, wenn Jesus vor Angst Blut schwitzt (Lk 22,44: "Und er betete in seiner Angst noch inständiger und sein Schweiß war wie Blut, das auf die Erde tropfte."), seien es die körperlichen im Vorfeld der Kreuzigung und am Kreuz. Diesem Leiden ist nichts hinzuzufügen und keiner ist aufgefordert, hier noch etwas zu ergänzen oder Jesus gar zu überbieten, auch wenn es Frömmigkeitsbewegungen der Kirche gegeben haben mag, die in solcher Leidensnacheiferung ihre Aufgabe sahen.

Die "Bedrängnisse am Leib Christi" beziehen sich einzig und allein auf das Geschick der Kirche ("Leib Christi"). Dies schließt Verfolgungen aller Art ebenso ein wie das Ausgesetztsein an die Einflussnahme anderslautender Lehren, wie sie der Kolosserbrief für die von ihm angesprochene Gemeinde(n) voraussetzt. Dabei steht ein vermutlich auch in der Umwelt damals bekanntes Vorstellungsmodell im Hintergrund, das mit Wachstum zu einem "Vollmaß" hin operiert. Möglicherweise meint der Autor des Kolosserbriefes, dass die Kirche auf dem Weg zum Erreichen dieses "Vollmaßes" -  also bis zur Erfassung möglichst aller Menschen" (vgl. Vers 28) - auch ein wie auch immer festgesetztes Maß an Bedrängnis erleiden muss. Davon einen Teil auszuhalten und auf sich zu nehmen ist Paulus gerne bereit.

Das "Auffüllen" (griechisch: anaplēróō) dessen, was an im Sinne des Wachstums zu erwartenden Bedrängnissen zur Zeit des Kolosserbriefes noch ausstand und realistischerweise noch weiterhin aussteht, dient letztlich dem "Zur-Fülle-Bringen"  (plēróō) des Wortes Gottes (Vers 25). Es meint nicht die Suche nach Leiden noch eine Form des Masochismus, sondern es ist der gewaltlose, aber konsequente Widerstand gegen alles, was der "Frohen Botschaft" (Evangelium) und ihrem Fruchtbarwerden sich in den Weg stellt. Es geht nicht um Leiden als Selbstzweck, sondern darum, wenn es nicht anders geht, der Bedrängnis nicht auszuweichen - in der Nachfolge Christi und in der Hoffnung, an seiner "Herrlichkeit" teilzuhaben, wenn die Zeit gekommen ist. 

Kunst etc.

Lovis Corinth, Der Apostel Paulus (1911); Wikimedia
Lovis Corinth, Der Apostel Paulus (1911); Wikimedia

Das Bild des Expressionisten Lovis Corinth (1853 - 1925) irritiert. Es zeigt nicht den eher gewohnten Philosophenkopf des Paulus, sondern einen von innen her glühenden Paulus. Das Schwert verweist auf die "Bedrängnisse", von denen Kolosser 1,24 spricht; der im Original goldene Hintergrund, aber auch das aufgeschlagene Buch verweisen auf die "Hoffnung auf Herrlichkeit" (Kolosser 1,28). Die Durchhaltekraft im Leiden und den Totaleinsatz für die Seinen, die der Kolosserbrief für Paulus als nachahmenswertes Beispiel voraussetzt, nimmt man dieser Darstellung sofort ab.

Was vielleicht nicht so sichtbar ist, das ist das Moment der "Freude" (Vers 24). Dies dürfte u. a. mit der persönlichen Lebenssituation Corinths zu tun haben, der sich seine Gemälde zu dieser Zeit gegen schlaganfallbedingte Lähmungen abringen musste.

Bilder zeigen eben nie Alles. An ihnen ist auf Betrachterseite weiterzuarbeiten!