Nach der "Theorie" und der "reinen Glaubenslehre" in Kapitel 1 und 2 in Abgrenzung von einer den Glauben mit Zusatzballast beschwerenden und verunklarenden Philosophie wendet sich das dritte Kapitel des Kolosserbriefes der Lebenspraxis zu.
Einordnung in den Kontext
Der Lesungsabschnitt Kol 3,1-5.9-11 greift mit seiner Eröffnung (Vers 1a: "Seid ihr nun mit Christus auferweckt") wörtlich auf Kolosser 2,12 zurück (der erste Vers der Lesung vom 17. Sonntag im Jahreskreis). Dort heißt es:
"Mit Christus wurdet ihr in der Taufe begraben, mit ihm auch auferweckt, durch den Glauben an die Kraft Gottes, der ihn von den Toten auferweckt hat" (Kolosser 2,12).
Dieser Vers Kolosser 2,12 funktioniert innerhalb des gesamten Briefes wie eine These, die in zwei Schritten entfaltet wird:
1. Schritt: Kolosser 2,13-23 macht deutlich, dass Getauftsein und die Übernahme der Sonderlehre, von der die Gemeinde infiziert zu werden droht, nicht zusammenpassen.
2. Schritt: Kolosser 3,1b - 4,1 leitet aus der Taufe, verstanden als "auferweckt werden mit Christus", konkrete Folgen für die praktische Lebensgestaltung ab. Dieser Abschnitt ist in sich noch einmal in zwei Teile zu gliedern:
a) 3,1b-17: Was ist zu lassen bzw. zu tun, wenn man seine Taufe ernst nimmt und sich an Christus orientiert?
und
b) 3,18-4,1: Wie gestalten sich aufgrund der Taufe die Beziehungen in der Lebensgemeinschaft eines "Hauses" (im Sinne einer Großfamilie)? [s. zu diesem Abschnitt die Ausführungen zur Zweiten Lesung am Fest der Heiligen Familie)
Der heutige Lesungsabschnitt erweist sich damit als ein Auszug aus 3,1-17. Die ausgelassenen Verse verstärken und konkretisieren einerseits das, was gemieden werden soll (3,6-8), andererseits konkretisieren sie das, was positiv für die Getauften zu tun ist (Verse 12-14), woran sich noch Segenswünsche des Verfassers anschließen (Verse 16-17).
Vers 1-2: Ausrichtung "nach oben"
Der Mensch kann nur in Raum und Zeit denken. Innerhalb dieser Koordinaten ist nicht nur in der Bibel, sondern in der ganzen Alten Welt Gott mit dem "Oben" verbunden. Ob die Götter auf dem Olymp oder anderen Götterbergen wohnen, ob vom "Himmel" die Rede ist ("Vater unser") oder vom "Gott in der Höhe" (Gloria) oder ob schließlich Sonne oder Mond als oberste Gottheit verehrt werden - die Richtung bleibt immer dieselbe.
Wer hier in einer dinglichen Sicht der Dinge stecken bleibt, wird nicht weiter als der Kosmonaut Jurij Gagarin kommen, der Gott bekanntlich bei seiner Exkursion in der Raumkapsel Wostok I nicht finden konnte. Nein, Himmel und Erde bzw. Oben und Unten stehen für die Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen Unvergänglichkeit und Vergänglichkeit, zwischen Sehen und Nicht-Sehen (Gott sehen bedeutet Sterben; vgl. Exodus 33,22b: "kein Mensch kann mich schauen und am Leben bleiben."), zwischen Leben unter dem Vorzeichen der Todesverfallenheit und einer Wirklichkeit, für die diese Grenze nicht gegeben ist.
Menschwerdung Gottes in Jesus Christus bedeutet unter dieser Rücksicht: Der unvergängliche Gott lässt sich auf die Bedingungen der Vergänglichkeit ein einschließlich des Todes, um diese zu öffnen für die Wirklichkeit, die keine Todesgrenze mehr kennt. Diesen Weg ist Jesus in der Auferweckung als Erster vorausgegangen. In der Bildsprache heißt dies: Er ist "oben" angekommen.
Wenn Taufe als ein Akt gesehen wird, der in diese Öffnungsbewegung vom todverfallenen zum unvergänglichen Leben hineinführt, dann heißt die Konsequenz: Du, Getaufte und Getaufter, richte Deinen Blick genau dahin, wohin es für dich schließlich gehen soll: "auf das, was oben ist"!
Verse 3-4: Zwischen "schon" und "noch nicht"
Die Taufe ist ein Anfangsgeschehen. Die Öffnung für die Perspektive der Unvergänglichkeit ist eben etwas Anderes als das Erreichen derselben. So bleibt zu Lebzeiten das "Oben" verborgen. Im Tod jedoch wird es "sich zeigen"; in theologischer Sprache: "offenbar werden" (Vers 4). Dann erst ist Begegnung mit dem auferweckten Christus als wirkliches und unvergängliches "Sehen"möglich.
Verse 5.9a: Laster aller Arten
"Oben" und "Unten" sind nicht nur wesensmäßig unterschieden, sondern in gewisser Weise auch moralisch. Der "Heiligkeit" Gottes entspricht biblisch die Aufforderung an den Menschen, "heilig" zu sein (vgl. dazu die Auslegung von Levitikus 19 unter "Kontext"). Aber gerade in der Aufforderung wird deutlich, dass das Bild - der Mensch - immer hinter seinem Vor-Bild - Gott - zurückbleibt. Deutlich wird dies unter anderem in einer Formulierung des Buches Hosea:
"Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte. Darum komme ich nicht in der Hitze des Zorns." (Hosea 11,9b).
Genau dieser "Zorn" wird in dem - leider ausgelassenen - Vers 8 im 3. Kapitel des Kolosserbriefes als eines der Laster genannt, das die Getauften ablegen sollen. Darin würde die Ausrichtung "nach oben" in Taten bzw. Grundhaltungen sichtbar werden.
Der Lesungstext selbst nennt insgesamt fünf zu meidende Laster. Was sich konkret hinter ihnen verbirgt, hängt vom Bezugsrahmen ab. Denkt man eher hebräisch-alttestamentlich, so ergibt sich ein ganzes Spektrum von zu Unterlassendem: keine unerlaubten sexuellen Beziehungen zwischen Blutsverwandten ("Unzucht"); Verbrechen, bei denen man sich "die Hände schmutzig macht" ("Unreinheit"), den Verstand ausschaltende und Verderben anrichtende "Leidenschaft", das Schielen nach der Frau/dem Mann der/des Anderen oder nach fremdem Eigentum. Denkt man eher griechisch, und dieses Denken ist z. B. über das Buch Jesus Sirach auch in das Alte Testament gelangt bzw. über Philo von Alexandrien (s. zu ihm am 15. Sonntag im Jahreskreis die Rubrik "Kunst etc.") überhaupt in das jüdische Denken, dann wird man alle Laster vornehmlich sexuell verstehen vom Prostituiertenbesuch ("Unzucht") bis hin zur verblendenden "Leidenschaft" des Eros. Schließlich wird aus dem ausgelassenen Vers 8, der u. a. mehrere Laster aus dem Bereich der Sprache nennt (schlecht über Andere reden) in Vers 9a noch die Lüge genannt. Fake News und Mobbing zeigen auch in der Moderne, was es bedeutet, nur "nach unten" zu schauen.
Verse 9b-10: Ein neues Kleid
Verse 9b-10 kommen zurück auf die Taufe (s. o. den Rückbezug von Kolosser 3,1 auf 2,12), nun aber in neuer Bildsprache. Die Neuausrichtung "nach oben" wird in das Bild des "Anziehens" gekleidet. Wie bereits oben angedeutet: In der Neuausrichtung soll sich eine größere Entsprechung der Geschöpfe zu ihrem Schöpfer verwirklichen. Das Bild des Anziehens wird übrigens etwas später gegenüber dem Kolosserbrief in Epheser 4,22 aufgegriffen:
"Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit!"
Vor allem aber greift der Kolosserbrief zurück auf Paulus selbst. Er schreibt in Galater 3,27-28
"27 Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. 28 Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus."
(zu dieser Lesung und besonders zum Motiv des Taufkleides s. die Kommentierung am 12. Sonntag im Jahreskreis unter "Kunst etc.")
Ein weiter Bezugstext ist Römer 13,12-14:
"12 Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe. Darum lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts! 13 Lasst uns ehrenhaft leben wie am Tag, ohne maßloses Essen und Trinken, ohne Unzucht und Ausschweifung, ohne Streit und Eifersucht! 14 Vielmehr zieht den Herrn Jesus Christus an und sorgt nicht so für euren Leib, dass die Begierden erwachen."
Galater- wie Römerbrief kennen bereits das Bild des Anziehens. Doch das "neue Kleid" ist hier, anders als im Kolosser- und Epheserbrief, nicht das neue tugendhafte Leben, sondern Christus selbst. Römer- und Galaterbrief sprechen also von der Christusverbindung durch die Taufe, der Kolosserbrief denkt eher in den Kategorien der Moral, die sich ändert. Diese Verbindung von Taufe und Moral entnimmt der Kolosserbrief aus der Römerbrief-Passage, den folgenden Gedanken der Einheit aus dem Galater-Zitat.
Vers 11: Alle sind gleich
Vers 11 bringt einen innerhalb des Kolosserbriefs gänzlich neuen Gedanken als Folge der allen gemeinsamen Taufe ein: Der Ausrichtung "nach oben" entspricht eine grundsätzliche Gleichheit all derer, die sich entsprechend orientieren. Sie werden gleich durch die identische Herkunft und das identische Ziel: Jesus Christus selbst. Der an sich schon revolutionäre Gedanke der Gleichheit hinsichtlich nationaler Herkunft, sozialem Stand und Geschlecht (vgl. Galater 3,28: "Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.") wird durch den Kolosserbrief verstärkt. Die Aufhebung des Unterschieds zwischen Beschneidung und Nicht-Beschneidung relativiert einmal mehr die Betonung der Wichtigkeit der Beschneidung durch die rivalisierende Philosophie, die die christliche Gemeinde durcheinanderbringt. Die im damaligen weltlichen Bereich noch viel stärker wirksame Unterscheidung zwischen Griechentum und Barbarentum zählt ebenfalls nicht. Da die Griechen als einzige "Nicht-Barbaren" - so die Selbsteinschätzung - schon genannt sind, führt der Kolosserbrief nun die Paarung Barbaren und "Ober-Barbaren" an, denn als solche galt das Volk der "Skythen" damals: "von wilden Tieren kaum zu unterscheiden" (Josephus Flavius, Apologie II, 269). Das doppelte "alle" verweist wieder zurück auf den "Hyper-Text" des gesamten Kolosserbriefs: Kolosser 1,15-20, das Lehrgedicht auf Christus (s. dazu die Kommentierung am 15. Sonntag im Jahreskreis).