Lesejahr C: 2021/2022

1. Lesung (Weish 11,22-12,2)

22 Die ganze Welt ist ja vor dir wie ein Stäubchen auf der Waage, wie ein Tautropfen, der am Morgen zur Erde fällt. 

23 Du hast mit allen Erbarmen, 

weil du alles vermagst, und siehst über die Sünden der Menschen hinweg, damit sie umkehren. 

24 Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast; 

denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen. 

25 Wie könnte etwas ohne deinen Willen Bestand haben oder wie könnte etwas erhalten bleiben, das nicht von dir ins Dasein gerufen wäre? 

26 Du schonst alles, 

weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens. 

1 Denn in allem ist dein unvergänglicher Geist. 

2 Darum bestrafst du die Sünder nur nach und nach; du mahnst sie und erinnerst sie an ihre Sünden, damit sie sich von der Schlechtigkeit abwenden und an dich glauben, Herr.

Überblick

Gottes Allmacht zeigt sich in seiner Barmherzigkeit und seinem Langmut, die auf die Umkehr der Sünder hofft – daran glaubt der Autor des Buches der Weisheit.

 

1. Verortung im Buch

Der Gott Israels ist zugleich ein strafender wie auch barmherziger Gott. Das Buch der Weisheit entfaltet diese beiden Seiten des Gottesbildes ausführlich anhand einer kreativen Erinnerung und Nacherzählung des Exodus (Weisheit 11,2-19,22). Dies ist unter anderem verbunden mit einer grundlegenden Überlegung, was es bedeutet, wenn man über Gott sagt, dass „er straft“ (Weisheit 11,15-12,27). Es handelt sich sozusagen um ein Traktat über die Liebe Gottes zu seiner Schöpfung, seine Art der Gerechtigkeit und seine Barmherzigkeit. Aus dem auf diese Frage antwortenden Gedankengang ist der Lesungstext entnommen.

 

2. Aufbau

Ausgangspunkt des Textes ist die Feststellung der Schöpferallmacht, die in Weisheit 11,17-20 bedacht wird. Der Lesungstext muss ausgehend von der einleitenden Frage in Vers 21 gelesen werden: „Denn du [Gott] bist immer imstande, deine große Macht zu entfalten. Wer könnte der Kraft deines Arms widerstehen?“ Das entscheidende Leitwort, das die Antwort auf diese Frage prägt, ist „alles“. Gott hat die souveräne Macht über alles Geschaffene (Vers 22) und dies bedeutet zugleich göttliches Erbarmen gegenüber jeder Kreatur (Weisheit 11,23-2,1). Somit wird die Barmherzigkeit Gottes aufgrund seiner Allmacht erklärt und dies führt zu einer summarischen Antwort („darum“) über das Strafen Gottes in Vers 2. 

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 22: Ein kleines Staubteil fällt nicht ins Gewicht; und der Tautropfen verschwindet im Laufe des Morgens. Widerstandlos und nichtig ist die Welt im Angesicht Gottes. Eine vergleichbare Aussage über die Macht der Nationen findet sich in Jesaja 40,15: „Siehe, die Nationen sind wie ein Tropfen am Eimer, sie gelten so viel wie ein Stäubchen auf der Waage. Ganze Inseln wiegen nicht mehr als ein Sandkorn.“

Vers 23: Das Wort „alles“ unterstreicht den scheinbaren Widerspruch: Gott ist all-barmherzig, weil er all-mächtig ist. So beweist er selbst Langmut gegenüber Sündern, damit sie umdenken, umkehren, büßen und reuen. Die Begründung für Gottes Handeln wird in Weisheit 12,18 gegeben: „Weil du über Stärke verfügst, richtest du in Milde und behandelst uns mit großer Schonung; denn die Macht steht dir zur Verfügung, wann immer du willst.“ Gottes Barmherzigkeit zögert sein strafendes Handeln nur heraus, aber es begrenzt nicht seine Fähigkeit in seiner Allmacht zu handeln.

Vers 24: Gottes Langmut und Barmherzigkeit wurzeln in seiner Existenz als Schöpfer: Er hat alles, was er erschaffen hat, aus Liebe erschaffen und handelt dementsprechend. Daraus ergibt sich, dass Gott nichts, was existiert, hasst. Im Hintergrund steht die wiederkehrende Aussage im ersten Schöpfungsbericht, dass Gott sah, dass seine Schöpfung sehr gut war (vgl. Gen 1).

Vers 25: Gottes Liebe ist nicht nur der Grund der Erschaffung alles in der Welt, sondern auch für dessen Fortbestand. Somit wurzelt Gottes barmherziger Langmut in seiner erschaffenden und erhaltenden Liebe. 

Vers 26: Dieser Vers wiederholt inhaltlich Vers 23 und fügt dessen Aussage noch zwei wichtige Aspekte hinzu: (1.) Gott wird hier als δέσποτα (gesprochen: despota) bezeichnet, das heißt: er ist der Herr und Meister der Schöpfung, er herrscht über sie. (2.) Im klassischen Griechisch bedeutet das Leben zu lieben, feige zu sein. Hier jedoch hat sich der Sinn verschoben. Gott ist als Lebenliebender jemand, der in liebender Beziehung zu allem steht, dem er das Leben geschenkt hat. 

Vers 1: Gott hat nicht nur dem Menschen den Lebensatem geschenkt, wie es in Gen 2,7 erzählt wird: „Da formte Gott, der HERR, den Menschen, Staub vom Erdboden, und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.“ Sondern durch die Gabe seines Geistes ermöglicht er alles Leben: „Du sendest deinen Geist aus: Sie werden erschaffen“ (Ps 104,30).

Vers 2: Das Ziel der göttlichen Pädagogik ist die Züchtigung zur Umkehr. Gottes Handeln zielt somit nicht primär auf Vergeltung, sondern auf Buße und Reue des Sichverfehlenden.

Auslegung

Wieso straft Gott anscheinend selbst schwerwiegende Sünden nicht direkt und vergilt nicht entsprechend? Und wenn er straft, warum fällt die Strafe oft nur geringfügig ist? Das sind die dem Lesungstext zugrundeliegenden Fragen. Hierbei geht es vor allem darum, zu klären, wie Gott in dieser Welt wirkt. Und die Antworten, die der Autor gibt, lassen sich mit zwei Worten zusammenfassen: Liebe und Umkehr. Diese beiden Worte sind die Antwort darauf, wie man sich die Allmacht Gottes im Gegenüber zu den Sündern vorstellen soll. Gott ist allmächtig, und man solle nicht denken, dass Gott nicht jederzeit strafend in die Geschichte der Welt eingreifen könnte, wie es die Grunderfahrung Israels in der Erzählung vom Auszug aus Ägypten ist. Doch als sein Handlungsprinzip wird die Liebe genannt. Aus Liebe hat er alles geschaffen und aus Liebe hält er alles am Leben. So ist auch sein Strafen zuvorderst eine Pädagogik der Züchtigung, die zu dieser Liebe zurückführen soll. Somit wird Gottes Handeln und auch sein Strafen sozusagen durch seine Liebe eingeklammert. Dieser Gedanke ist die Grundlage für das Verstehen des Kreuzestodes Jesu Christi. Die Allmacht Gottes hätte diesen qualvollen Tod verhindern und die Verantwortlichen bestrafen können. Aber in seiner Liebe geht Gott bis zum Tod am Kreuz.   

Kunst etc.

Der Tau am Morgen glitzert in der Sonne und ist ein Symbol für die strahlende Schönheit versorgter Natur. Doch er verschwindet langsam mit dem Aufgang der Sonne, als wäre er nie gewesen. Am Morgen spiegelt sich in ihm der Schein der Sonne, doch mit ihm vergeht der Tau zugleich. Diese vergängliche Schönheit ist für den Autor des Buches der Weisheit ein Bild für die Ohmnacht der Welt im Angesicht Gottes.

Fotografiert von Adina Voicu – Lizenz: Pixybay.
Fotografiert von Adina Voicu – Lizenz: Pixybay.