Dem Autor des Hebräerbriefs gehen die Argumente zur Ermutigung seiner Gemeinde nicht aus, auch in Zeiten der Bedrängnis im Glauben nicht nachzulassen. Da seine christliche Leserschaft vermutlich zu einem erheblichen Teil ursprünglich aus dem Judentum kommt, argumentiert er sehr oft auf der Basis des Alten Testaments. Nach der Ausnahme Hebräer 12,1-4 (vorigen Sonntag), die ganz auf das Beispiel Jesu geschaut hat, entscheidet er sich jetzt für eine Argumentation auf der Basis der alttestamentlichen Weisheit. Näherhin geht es um den (zugegebenermaßen oftmals, aber nicht immer patriarchalisch formulierten) Aspekt der Erziehung des Sohnes durch den Vater. Sie wird zum Vergleichspunkt für das Verhältnis zwischen Gott und den Seinen auf der einen Seite und den konkreten Bedrängniserfahrungen der Gemeinde auf der anderen Seite.
Kontext und Aufbau der Lesung
Der erste Satz der Lesung (Vers 5) knüpft im griechischen Text an den letzten Satz der Lesung vom vorigen Sonntag an:
4 Ihr habt im Kampf gegen die Sünde noch nicht bis aufs Blut Widerstand geleistet [letzter Sonntag]
5 und ihr habt die Mahnung vergessen, die euch als Söhne anredet: Mein Sohn, verachte nicht die Zucht des Herrn und verzage nicht, wenn er dich zurechtweist! (Hebräer 12,4-5)
Mit diesem Doppelsatz wird in der Argumentationskette des Hebräerbriefs ein neuer Absatz eröffnet. Dabei leitet Vers 4 mit dem Stichwort "Blut", das sich für den Hebräerbrief mit dem Kreuzestod Jesu verbindet, zu den Adressaten des Briefes über, die noch nicht "bis aufs Blut" - also eventuell bis zur eigenen Lebenshingabe - für den Glauben einstehen mussten. Wenn es aber dazu kommen sollte, braucht es dafür die notwendigen Kräfte. Dies gilt genau so, wenn man den Text beim Wort nimmt, wonach der Kampf ja nicht den Gegnern, sondern der umstrickenden Sünde gilt, also der Versuchung, den Glauben aufzugeben angesichts der Verlockungen des römischen Staates oder weil man einfach des Widerstandes müde ist. Immer geht es um Kraftreserven, die im Widerstehen erforderlich sind. Diese leiten die Verse 5-11 aus dem besonderen Verhältnis zwischen Gott und den an ihn Glaubenden ab. Es wird offensichtlich als Ressource verstanden!
Für die Lesung sind die Verse 8-10 ausgelassen, die das Argument durch den Rückgriff auf die Erfahrung der Angesprochenen mit ihren eigenen Vätern nachvollziehbarer und anschaulicher zu machen versuchen.
Die Verse 12-17 verlassen das Erziehungsthema ganz und greifen wieder zurück auf das Bild des Wettkampf-Laufs aus Hebräer 12,1 (20. Sonntag). Typisch für den Hebräerbrief, der entsprechend jüdischer Predigtmethode einen Gedanken gerne auf der Bais eines Bibelworts entwickelt, wird in Vers 12-13 vor allem mit Versatzstücken aus Jesaja 35 gearbeitet. Demgegenüber stand im Mittelpunkt des vorangehenden Teils (Verse 5b-6) Sprichwörter 3,11-12.
Verse 5-6
Als neues Argument greift der Verfasser des Hebräerbriefs auf die Welt der Erziehung zurück. Dabei lässt er gleich am Anfang seine Absicht erkennen, die in der Fassung der Einheitsübersetzung leider etwas untergeht. Denn das Wort "Ermahnung" hat vom Griechischen her ("paráklēsis") vor allem die Bedeutungen "Ermutigung" und "Trost". Von der Einheitsübersetzung her zieht sich eine Linie durch den Text, die mit den Begriffen "züchtigen" und "schlagen" ihre Fortsetzung findet. Geht man hingegen von der Übersetzung "Ermutigung, Zuspruch" aus, stellt sich die Sache anders dar. Denn man stellt fest, dass auch die Wiedergabe "züchtigen" des griechischen Wortes "paideúō" eher einseitig und durch das Verb "mit der Rute schlagen" geprägt ist. Tatsächlich meint "paideúō" aber "erziehen", "den Charakter formen", so dass das "Schlagen" nicht als gleichwertige Parallele zum Wort "Erziehung", sondern als nur eine von durchaus auch anderen denkbaren "Methoden" der Erziehung (zur damaligen Zeit) zu verstehen ist.
Mit anderen Worten: Der Hebräerbrief-Autor will seine Adressaten ermutigen, der Versuchung der Glaubensermattung nicht zu erliegen, und wählt dazu ein Zitat aus Sprichwörter 3,11-12. Seine Absicht ist dabei:
1. Erziehung gehört in den Kontext von Beziehung! Die Angesprochenen dürfen sich als geliebte Kinder verstehen (zum Begriff "Sohn" s. unter der Rubrik "Auslegung", die den tieferen Zusammenhängen des Zitats aus dem Buch der Sprichwörter noch genauer nachgeht) .
2. Was die Angesprochenen als leidvolles Aushalten von Nachteilen ihres Glaubens erleben - so wie Schläge Schmerz bzw. Leiden bedeuten -, ist keine Strafe für irgendetwas. Auch gilt nicht der eher banale Satz "Schläge haben noch nie jemandem geschadet", der u. U. sadistische Brutalität kaschieren soll. Nein, es geht um einen Vergleich: So wie die Formung des Charakters der Kinder durch die Erziehung der liebenden Eltern für die Kinder in der Regel auch mit schmerzhaften Phasen verbunden ist - allein schon, weil sie lernen müssen, Grenzen auszuhalten, die sie gerne überschreiten würden -, so ist auch die Formung des Glaubens als einer allen Verlockungen zur Glaubensaufgabe standhaltenden Haltung mit Schmerzen verbunden. Dies erlebt die Hebräer-Gemeinde aktuell.
Vers 7
Genau dieses Ziel, das Standhalten, Durchhalten bzw. die Ausdauer (griechisch: hypomonē) ist es, um das es dem Hebräerbrief geht. Das Wort "aushalten" (griechisch hypoménō) ist dabei übrigens dasselbe, das schon als Hauptwort in Hebr 12,1b begegnete:
"Lasst uns mit Ausdauer in dem Wettkampf laufen, der vor uns liegt..."
Und auch in Hebräer 10,36 hieß es schon: "Was ihr braucht, ist Ausdauer, damit ihr den Willen Gottes erfüllt und die Verheißung erlangt".
Vers 11
Allerdings ist weder die "Formung des Charakters" noch die "Ausdauer" ein Selbstzweck. Man könnte sagen: Auch hier gilt nicht das Motto: "Das Weg ist der Ziel".
Das angestrebte Ziel nennt Vers 11: "Gerechtigkeit als Frucht des Friedens". Noch genauer müsste man übersetzen, dass die auch mit Schmerzerfahrung verbundene Erziehung "Freude" und "friedensreiche Frucht der Gerechtigkeit" bringt. Die komplizierte griechische Konstruktion ist wohl aufzulösen in dem Sinn: Das Bestehen der göttlichen Erziehung trägt Früchte, die in sich friedlicher Natur sind und sich im Tun der Gerechtigkeit erweisen. Das Tun der Gerechtigkeit - für den Hebräerbrief eine Zusammenfassung dessen, was Leben aus dem Glauben sein sollte - ist grundsätzlich Frieden stiftend. Diesen engen Zusammenhang zwischen Frieden und Gerechtigkeit hat bereits Hebräer 7,2 bei der Deutung des Namens des alttestamentlichen Priesters von Salem, Melchisedek, verdeutlicht: "dessen Name König der Gerechtigkeit bedeutet und der auch König von Salem ist, das heißt König des Friedens". Was Gerechtigkeit tun und Frieden schaffen für die Gemeinde konkret bedeutet, entfaltet das 13. Kapitel des Hebräerbriefs.
Der insgesamt wohl von der alttestamentlichen Weisheit inspirierte Gedanke findet übrigens seine Parallele im Jakobusbrief 3,17-18:
"17 Doch die Weisheit von oben ist erstens heilig, sodann friedfertig, freundlich, gehorsam, reich an Erbarmen und guten Früchten, sie ist unparteiisch, sie heuchelt nicht. 18 Die Frucht der Gerechtigkeit wird in Frieden für die gesät, die Frieden schaffen."
Verse 12-13
Die beiden Schlussverse der Lesungseinheit greifen auf das Bild vom Wettkampflauf aus Hebräer 12,1b zurück (Lesung vom vorigen Sonntag). Zur Ermutigung im Durchhalten des Glaubens wird als Erstes Jesaja 35,3 bemüht: "Stärkt die schlaffen Hände und festigt die wankenden Knie!". Das Zitat ist insoweit passwend gewählt, weil auch das Prophetenwort trösten und ermutigen will. Es wendet sich nämlich an ein entmutigtes Israel , damit es wieder die "die Beine in die Hand zu nehmen" und zu laufen, d. h. es mit seinem Gott JHWH neu zu versuchen bereit ist. (Zum zweiten in Vers 13 versteckten Zitat s. unter "Auslegung")
Dass es dabei nicht nur um die Mobilisierung der eigenen Kräfte geht, sondern dass letztlich Gottes Stärkung zu solcher Neumotivierung erhofft wird, wird aus der passivischen Formulierung in Vers 13 deutlich: "dass die lahmen Glieder ... geheilt werden". In biblischer Sprache verweist diese Redeweise (das sogenannte passivum divinum, also das "göttliche Passiv) auf Gott selbst als Urheber einer Handlung, in diesem Fall des Heilens.
Ebenfalls in biblischer Sprache erweist sich dieses "Heilen" als Gegenbegriff zu "schlagen" (s. oben Vers 6 der Lesung), insofern Gott als derjenige bekannt wird, "der schlägt, aber auch heilt" (vgl. Ijob 5,18; Jesaja 19,22; Hosea 6,1). Damit gibt es nun doch auch einen Rückbezug zum Zitat aus dem Buch der Sprüche: Der erziehende Vater weiß um die Schmerzen, die er bei seinem Erziehungsprozess zufügt, sorgt aber auch für deren Heilung.