Lesejahr C: 2024/2025

2. Lesung (Hebr 12,5-7.11-13)

5[und] ihr habt die Mahnung vergessen, die euch als Söhne anredet:


Mein Sohn, verachte nicht die Zucht des Herrn / und verzage nicht, wenn er dich zurechtweist!

6Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; / er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat.

7Haltet aus, wenn ihr gezüchtigt werdet! Gott behandelt euch wie Söhne. Denn wo ist ein Sohn, den sein Vater nicht züchtigt? ...

11Jede Züchtigung scheint zwar für den Augenblick nicht Freude zu bringen, sondern Leid; später aber gewährt sie denen, die durch sie geschult worden sind, Gerechtigkeit als Frucht des Friedens.

12Darum macht die erschlafften Hände und die wankenden Knie wieder stark,

13schafft ebene Wege für eure Füße, damit die lahmen Glieder nicht ausgerenkt, sondern vielmehr geheilt werden!

Überblick

Dem Autor des Hebräerbriefs gehen die Argumente zur Ermutigung seiner Gemeinde nicht aus, auch in Zeiten der Bedrängnis im Glauben nicht nachzulassen. Da seine christliche Leserschaft vermutlich zu einem erheblichen Teil ursprünglich aus dem Judentum kommt, argumentiert er sehr oft auf der Basis des Alten Testaments. Nach der Ausnahme Hebräer 12,1-4 (vorigen Sonntag), die ganz auf das Beispiel Jesu geschaut hat, entscheidet er sich jetzt für eine Argumentation auf der Basis der alttestamentlichen Weisheit.  Näherhin geht es um den (zugegebenermaßen oftmals, aber nicht immer patriarchalisch formulierten) Aspekt der  Erziehung des Sohnes durch den Vater. Sie wird zum Vergleichspunkt für das Verhältnis zwischen Gott und den Seinen auf der einen Seite und den konkreten Bedrängniserfahrungen der Gemeinde auf der anderen Seite.

 

Kontext und Aufbau der Lesung

Der erste Satz der Lesung (Vers 5) knüpft im griechischen Text an den letzten Satz der Lesung vom vorigen Sonntag an:

4 Ihr habt im Kampf gegen die Sünde noch nicht bis aufs Blut Widerstand geleistet [letzter Sonntag]

und ihr habt die Mahnung vergessen, die euch als Söhne anredet: Mein Sohn, verachte nicht die Zucht des Herrn und verzage nicht, wenn er dich zurechtweist! (Hebräer 12,4-5)

Mit diesem Doppelsatz wird in der Argumentationskette des Hebräerbriefs ein neuer Absatz eröffnet. Dabei leitet Vers 4 mit dem Stichwort "Blut", das sich für den Hebräerbrief mit dem Kreuzestod Jesu verbindet, zu den Adressaten des Briefes über, die noch nicht "bis aufs Blut" - also eventuell bis zur eigenen Lebenshingabe - für den Glauben einstehen mussten. Wenn es aber dazu kommen sollte, braucht es dafür die notwendigen Kräfte. Dies gilt genau so, wenn man den Text beim Wort nimmt, wonach der Kampf ja nicht den Gegnern, sondern der umstrickenden Sünde gilt, also der Versuchung, den Glauben aufzugeben angesichts der Verlockungen des römischen Staates oder weil man einfach des Widerstandes müde ist. Immer geht es um Kraftreserven, die im Widerstehen erforderlich sind. Diese leiten die Verse 5-11 aus dem besonderen Verhältnis zwischen Gott und den an ihn Glaubenden ab. Es wird offensichtlich als Ressource verstanden!

Für die Lesung sind die  Verse 8-10 ausgelassen, die das Argument durch den Rückgriff auf die Erfahrung der Angesprochenen mit ihren eigenen Vätern nachvollziehbarer und anschaulicher zu machen versuchen.

Die Verse 12-17 verlassen das Erziehungsthema ganz und greifen wieder zurück auf das Bild des Wettkampf-Laufs aus Hebräer 12,1 (20. Sonntag). Typisch für den Hebräerbrief, der entsprechend jüdischer Predigtmethode einen Gedanken gerne auf der Bais eines Bibelworts entwickelt, wird in Vers 12-13 vor allem mit Versatzstücken aus Jesaja 35 gearbeitet. Demgegenüber stand im Mittelpunkt des vorangehenden Teils (Verse 5b-6) Sprichwörter 3,11-12.

 

Verse 5-6

Als neues Argument greift der Verfasser des Hebräerbriefs auf die Welt der Erziehung zurück. Dabei lässt er gleich am Anfang seine Absicht erkennen, die in der Fassung der Einheitsübersetzung leider etwas untergeht. Denn das Wort "Ermahnung" hat vom Griechischen her ("paráklēsis") vor allem die Bedeutungen "Ermutigung" und "Trost". Von der Einheitsübersetzung her zieht sich eine Linie durch den Text, die mit den Begriffen "züchtigen" und "schlagen" ihre Fortsetzung findet. Geht man hingegen von der Übersetzung "Ermutigung, Zuspruch" aus, stellt sich die Sache anders dar. Denn man stellt fest, dass auch die Wiedergabe "züchtigen" des griechischen Wortes "paideúō" eher einseitig und durch das Verb "mit der Rute schlagen" geprägt ist. Tatsächlich meint "paideúō" aber "erziehen", "den Charakter formen", so dass das "Schlagen" nicht als gleichwertige Parallele zum Wort "Erziehung", sondern als nur eine von durchaus auch anderen denkbaren "Methoden" der Erziehung (zur damaligen Zeit) zu verstehen ist.

Mit anderen Worten: Der Hebräerbrief-Autor will seine Adressaten ermutigen,  der Versuchung der Glaubensermattung nicht zu erliegen, und wählt dazu ein Zitat aus Sprichwörter 3,11-12. Seine Absicht ist dabei:

1. Erziehung gehört in den Kontext von Beziehung! Die Angesprochenen dürfen sich als geliebte Kinder verstehen (zum Begriff "Sohn" s. unter der Rubrik "Auslegung", die den tieferen Zusammenhängen des Zitats aus dem Buch der Sprichwörter noch genauer nachgeht) .

2. Was die Angesprochenen als leidvolles Aushalten von Nachteilen ihres Glaubens erleben - so wie Schläge Schmerz bzw. Leiden bedeuten -, ist keine Strafe für irgendetwas. Auch gilt nicht der eher banale Satz "Schläge haben noch nie jemandem geschadet", der u. U. sadistische Brutalität kaschieren soll. Nein, es geht um einen Vergleich: So wie die Formung des Charakters der Kinder durch die Erziehung der liebenden Eltern für die Kinder in der Regel auch mit schmerzhaften Phasen verbunden ist - allein schon, weil sie lernen müssen, Grenzen auszuhalten, die sie gerne überschreiten würden -, so ist auch die Formung des Glaubens als einer allen Verlockungen zur Glaubensaufgabe standhaltenden Haltung mit Schmerzen verbunden. Dies erlebt die Hebräer-Gemeinde aktuell.

 

Vers 7

Genau dieses Ziel, das Standhalten, Durchhalten bzw. die Ausdauer (griechisch: hypomonē) ist es, um das es dem Hebräerbrief geht. Das Wort "aushalten" (griechisch hypoménō) ist dabei übrigens dasselbe, das schon als Hauptwort in Hebr 12,1b begegnete:

"Lasst uns mit Ausdauer in dem Wettkampf laufen, der vor uns liegt...

Und auch in Hebräer 10,36 hieß es schon: "Was ihr braucht, ist Ausdauer, damit ihr den Willen Gottes erfüllt und die Verheißung erlangt".

 

Vers 11

Allerdings ist weder die "Formung des Charakters" noch die "Ausdauer" ein Selbstzweck. Man könnte sagen: Auch hier gilt nicht das Motto: "Das Weg ist der Ziel".

Das angestrebte Ziel nennt Vers 11: "Gerechtigkeit als Frucht des Friedens". Noch genauer müsste man übersetzen, dass die auch mit Schmerzerfahrung verbundene Erziehung "Freude" und "friedensreiche Frucht der Gerechtigkeit" bringt. Die komplizierte griechische Konstruktion ist wohl aufzulösen in dem Sinn: Das Bestehen der göttlichen Erziehung trägt Früchte, die in sich friedlicher Natur sind und sich im Tun der Gerechtigkeit erweisen. Das Tun der Gerechtigkeit - für den Hebräerbrief eine Zusammenfassung dessen, was Leben aus dem Glauben sein sollte - ist grundsätzlich Frieden stiftend. Diesen engen Zusammenhang zwischen Frieden und Gerechtigkeit hat bereits Hebräer 7,2 bei der Deutung des Namens des alttestamentlichen Priesters von Salem, Melchisedek, verdeutlicht: "dessen Name König der Gerechtigkeit bedeutet und der auch König von Salem ist, das heißt König des Friedens". Was Gerechtigkeit tun und Frieden schaffen für die Gemeinde konkret bedeutet, entfaltet das 13. Kapitel des Hebräerbriefs.

Der insgesamt wohl von der alttestamentlichen Weisheit inspirierte Gedanke findet übrigens seine Parallele im Jakobusbrief 3,17-18:

"17 Doch die Weisheit von oben ist erstens heilig, sodann friedfertig, freundlich, gehorsam, reich an Erbarmen und guten Früchten, sie ist unparteiisch, sie heuchelt nicht. 18 Die Frucht der Gerechtigkeit wird in Frieden für die gesät, die Frieden schaffen."

 

Verse 12-13

Die beiden Schlussverse der Lesungseinheit greifen auf das Bild vom Wettkampflauf aus Hebräer 12,1b zurück (Lesung vom vorigen Sonntag). Zur Ermutigung im Durchhalten des Glaubens wird als Erstes Jesaja 35,3 bemüht: "Stärkt die schlaffen Hände und festigt die wankenden Knie!". Das Zitat ist insoweit passwend gewählt, weil auch das Prophetenwort trösten und ermutigen will. Es wendet sich nämlich an ein entmutigtes Israel , damit es  wieder die "die Beine in die Hand zu nehmen" und zu laufen, d. h. es mit seinem Gott JHWH neu zu versuchen bereit ist. (Zum zweiten in Vers 13 versteckten Zitat s. unter "Auslegung")

Dass es dabei nicht nur um die Mobilisierung der eigenen Kräfte geht, sondern dass letztlich Gottes Stärkung zu solcher Neumotivierung erhofft wird, wird aus der passivischen Formulierung in Vers 13 deutlich: "dass die lahmen Glieder ... geheilt werden". In biblischer Sprache verweist diese Redeweise (das sogenannte passivum divinum, also das "göttliche Passiv) auf Gott selbst als Urheber einer Handlung, in diesem Fall des Heilens. 

Ebenfalls in biblischer Sprache erweist sich dieses "Heilen" als Gegenbegriff  zu "schlagen" (s. oben Vers 6 der Lesung), insofern Gott als derjenige bekannt wird, "der schlägt, aber auch heilt" (vgl. Ijob 5,18; Jesaja 19,22; Hosea 6,1). Damit gibt es nun doch auch einen Rückbezug zum Zitat aus dem Buch der Sprüche: Der erziehende Vater weiß um die Schmerzen, die er bei seinem Erziehungsprozess zufügt, sorgt aber auch für deren Heilung.

Auslegung

Das Zitat in Vers 5-6

"5 Mein Sohn, verachte nicht die Zucht des Herrn und verzage nicht, wenn er dich zurechtweist!
6 Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat."

Hebräer 12,5-6 übernimmt bei diesem Zitat aus dem Buch der Sprichwörter wortwörtlich dessen griechische Übersetzung aus der sogenannten Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments aus dem 3. - 1. Jh. v. Chr.:

"11 Sohn, achte nicht gering die Erziehung des Herrn und sei nicht verzagt, wenn du von ihm getadelt wirst; 12 denn wen der Herr liebt, den erzieht er, er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er annimmt" (Sprichwörter 3,11-12 in der Fassung der Septuaginta).

Einzig das Wörtchen "mein" in der Anrede "Mein Sohn" fügt der Hebräerbrief selbst hinzu. Ob der Autor dabei in die hebräische Fassung des alttestamentlichen Textes geschaut hat, wo ebenfalls "mein Sohn" steht (allerdings nicht als eröffenende Anrede), oder ob er es eigenständig ergänzt hat, lässt sich nicht sicher sagen. Immerhin nimmt er die Spannung in Kauf zwischen Vers 4 "... die euch als Söhne" anredet (Mehrzahl!) und "Mein Sohn" in Vers 5 (Einzahl!). Dies erinnert sehr stark an Hosea 11,1. Dort spricht Gott mittels des Propheten Hosea auch sein Volk (also Viele!) in der Einzahl (!) an: "Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen", um im Folgenden zu zeigen, wie die Erziehung nicht so recht gelingen wollte. Dennoch läuft der Vater seinem Sohn liebevoll hinterher ("Mit menschlichen Fesseln zog ich sie [Mehrzahl!], mit Banden der Liebe.").

Das passt genau in die Denkwelt des Hebräerbriefs. Denn das Entscheidende bei dem Erziehungsbild ist die enge Beziehung zwischen Vater und Sohn und damit auch zwischen Gott und der angesprochenen Gemeinde, denn auf beide hin ist das Bild ja zu übertragen. Nicht zufällig fällt in Vers 6 das starke Wort "Liebe": "Denn wen der Herr liebt ...". Wenn die Gemeinde an ihrer gegenwärtigen Glaubens- und Bedrängungssituation leidet, soll sie dies nicht als Strafe Gottes deuten und auf Sündensuche gehen, sondern gerade jetzt Gott vertrauen, dass er sie nicht aus seiner Liebe fallen lässt.

Diese Akzentseztung kann man leicht übersehen, weil man sich als moderner Mensch natürlich heute vor allem am Einsatz von Schlägen im Rahmen der Pädagogik stört. Doch bedenke man, dass die Einsicht in die Unangemessenheit des Schlagens  als Erziehungsinstrument erst relativ jungen Datums ist (60er/70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts). Für die Bibel wie auch für die griechisch-römische Kultur stellte sich dies offensichtlich anders dar. In diesem Rahmen geht es dem Autor nun auch nicht darum, zur Prügelstrafe zu ermuntern. Vielmehr will er die Erfahrungen der Gemeinde mit Hilfe dessen, was sie von der göttlichen Pädagogik aus der Heiligen Schrift und aus ihrern eigenen Erziehungserfahrungen wissen, beleuchten und deuten und damit schließlich ermutigen. Damit wird das Leben als ein göttlicher Erziehungsprozess - oder aus menschlicher Perspektive: als ein menschlicher Reifungsprozess - verstanden, bei dem schmerzvolle Erfahrungen nicht ausbleiben, wenn dieser Prozess zu wirklichem Wachsen und Reifen führen soll. Es geht hier weniger um letzte Zwangsläufigkeiten als vor allem darum, aus Gedankenwelten herauszuführen, die Leid in Selbstmitleid, Depression Lähmung oder falsche Fluchtbewegungen umschlagen lassen. Zumindest für die Zeit des Hebräerbriefs war die Erziehungs-Antwort - auch im Kontext griechischer Philosophie - zumindest eine plausible.

 

Eine Frage der "Gymnastik" (Vers 11)

Vers 11 spricht unter anderem von einer "Schulung" durch "Züchtigung". Bleibt man einmal bei der erweiternden Interpretation der "Züchtigung" im Sinne der "Formung des Charakters" bzw. der "Erziehung" (s. die Ausführungen unter "Überblick"), dann gehört dazu auf Seiten des "zu Formenden" auch ein aktiver Anteil. Das griechische Wort dafür lautet "gymnázō" "üben, trainieren". Nicht schwer ist in diesem Wort die Wurzel unseres Wortes "Gymnastik" erkennbar. Handlungen, die zu "Frieden" und "Gerechtigkeit" führen, bedürfen ständiger eigener Einübung, auch gegen Widerstand, denn längst nicht jeder will "Gerechtigkeit" und "Frieden", weil sie auch Nachteile bedeuten können. Ein ganz banales Beispiel: Der Kriegsgewinnler hat kein wirkliches Interesse an absolutem Frieden, in dem sich z. B. die Produktion von Waffen erübrigen würde, mit denen man aber viel größere Geschäfte machen kann als mit "Friedensware".

Die Vorstellung des "Einübens" ist im Übrigen eine dem Hebräerbrief eigene und zugleich besonders wichtige. Sie begegnet bereits in Hebräer 5,14:

"feste Speise aber ist für Erwachsene, deren Sinne durch Gebrauch geübt sind, Gut und Böse zu unterscheiden."

Hier geht es um das Ideal der Glaubenden, die durch selbstständigen Gebrauch ihres Gewissens, nachdem sie zuvor die inhaltlichen Grundlagen des Glaubens kennengelernt haben, "geübt haben" ( "gymnázō"), ihren Glauben als Entscheidungsgrundlage für ihr ethisches Handeln einzusetzen und so die rechte Wahl zwischen dem Richtigen und dem Falschen (zwischen "Gut und Böse") zu treffen. Dies bedarf ständigen "Trainings", da jede Situation eine neue Entscheidung erfordert. Dafür gibt es keine fertigen Rezeptbücher.

Im Lesungstext tritt an die Stelle des gegensätzlichen Begriffspaars "Gut und Böse" der sich verstärkende und ergänzende Doppelausdruck "Frieden" und "Gerechtigkeit". Zu ihnen zu gelangen, bedarf es einer Mischung aus göttlicher Erziehung und eigenständigem "Üben" im Sinne des ständig ausprobierenden Tuns.

 

"... schafft ebene Wege für eure Füße" (Vers 13)

Die Ausführungen unter "Überblick" deuteten schon an, dass sich in den Versen 12-13 des Lesungstextes noch ein zweites Zitat versteckt. Auf das Jesaja-Zitat in Vers 12 folgt nämlich am Beginn von Vers 13 noch einmal ein Zitat aus dem Buch der Sprichwörter:

"Ebne die Straße für deinen Fuß und alle deine Wege seien geordnet" (Sprichwörter 4,26).

Der Wechsel in die Mehrzahl ist lediglich eine Anpassung an das vorangehende Zitat aus Jesaja 35.

Der Rückgriff auf das Buch der Sprichwörter ist bermerkenswert, weil damit dieselbe Quelle angezapft wird, die schon in den Versen 5-6 sprudelte. Mit anderen Worten: Der Hebräerbrief verlässt mit dem Bild von den"erschlafften Händen und wankenden Knien" aus dem Prophetenbuch nur scheinbar die Gefilde der Weisheit. Sie bleibt weiterhin bestimmend, und zwar um diesmal den Bogen zurück zu Vers 4 zu schlagen (durch die Leseordnung leider zum Abschnitt des vorigen Sonntags gezogen):

"Ihr habt im Kampf gegen die Sünde noch nicht bis aufs Blut Widerstand geleistet" (Hebräer 12,4).

Denn genau um das Thema Widerstand gegen die Sünde geht es auch in Sprichwörter 4,26, wie die verdeutlichende Fortsetzung 4,27 zeigt: "Bieg nicht ab, weder rechts noch links, halt deinen Fuß vom Bösen zurück!"

Durchhalten des Glaubens, die Widerstände als letztlich zur Reifung führende Erziehung verstehen, Früchte der Gerechtigkeit und des Friedes hervorbringen und unbeirrt das Böse - im Sinne des Glaubensabfalls wie auch all dessen, was den Gemeinde-Frieden stört - meiden, genau dazu will der Hebräerbrief an dieser Stelle ermutigen. Dabei setzt er darauf,  dass sich nicht erst im Jenseits, sondern schon im Jetzt die Folgen eines solchen Bemühens als heilsam erweisen - als heilender Balsam für die Wunden, die die Bedrängnis durchaus schlägt. Für diese Heilung sorgt Gott selbst.

 

Kunst etc.

Palaestra in Olympia, GNU Free Documentation License, Photo: Wknight94 talk/1.2.2010
Palaestra in Olympia, GNU Free Documentation License, Photo: Wknight94 talk/1.2.2010

"durch Erziehung geschult" (Vers 11)

Schulung - Gymnastik - Training. Das sind die Assoziationen, die Vers 11 aus der Hebräerbrief-Lesung weckt (s. dazu die Rubrik "Auslegung"). Gerechtigkeit und Frieden wachsen nicht von selbst, sondern bedürfen beständiger Einübung.

Bei diesem Gedanken dürfte jedem griechisch denkenden Menschen der neutestamentlichen Zeit das Gymnasion eingegfallen sein als Ort des sportlichen Wettkampfs, aber auch des Trainings dafür. Dieses fand näherhin in einem dem eigentlichen Gymnasion angegliederten, mit Säulen bestückten Hof statt. Das Photo zeigt die archäologischen Reste einer solchen Palaestra genannten Stätte aus der griechischen Stadt Olympia.

Die dort stattfindenden Trainings wurden begleitet von Trainer (Paidotribe), Sportlehrer (Gymnast) und Arzt (griechisch: iatrós, vgl. Psychiater). Als Übungen zur Kraftsteigerung galten z. B. das Tragen schwerer Lasten, das Biegen von Eisenplatten oder der Wettlauf mit Pferden oder gar Hasen. Die geforderte Anstrengung war also schon gewaltig.

Wenn der Hebräerbrief das Wort "gymnázō" auf dem Hintergrund dieser Wirklichkeit wählt, wird deutlich, dass hier kein harmloser Vergleich vorliegt. Der Autor verlangt seinen Adressaten wirkliche Anstrengung ab, um in Taten des Friedens und der Gerechtigkeit zu wachsen. Diese Aufgabe hat sich bis heute nicht erledigt.