Lesejahr C: 2021/2022

2. Lesung (2 Thess 1,11-2,2)

11Darum beten wir auch immer für euch, dass unser Gott euch eurer Berufung würdig mache und in seiner Macht allen Willen zum Guten und das Werk des Glaubens vollende.

12So soll der Name Jesu, unseres Herrn, in euch verherrlicht werden und ihr in ihm, durch die Gnade unseres Gottes und Jesu Christi, des Herrn.

21Brüder und Schwestern, wir bitten euch hinsichtlich der Ankunft Jesu Christi, unseres Herrn, und unserer Vereinigung mit ihm:

2Lasst euch nicht so schnell aus der Fassung bringen und in Schrecken jagen, wenn in einem prophetischen Wort oder einer Rede oder in einem Brief, wie wir ihn geschrieben haben sollen, behauptet wird, der Tag des Herrn sei schon da!

Überblick

Es ist kein Zufall, dass an den letzten Sonntagen des Lesejahres in Vorbereitung auf das Christkönigsfest der Zweite Thessalonicherbrief als Zweite Lesung ausgesucht ist. Denn an der Grenze zwischen zu Ende gehendem Kirchenjahr und beginnendem neuen Kirchenjahr (1. Adventssonntag) "spielt" die Liturgie mit einem doppelten Verständis der "Ankunft" (lateinisch: adventus): nämlich der ersten Ankunft des Gottessohnes Jesus Christus in seiner Menschwerdung (Advent/Weihnachten) und der "zweiten Ankunft", d. h. seiner Wiederkunft am  Ende der Zeiten (Christkönigsfest). Hier geht es um den Satz des Glaubensbekenntnisses: "... bis er kommt in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten, und seiner Herrschaft wird kein Ende sein". Unter diesem Vorzeichen stehen auch schon die Evangelien der Sonntage im November als Vorbereitung auf das Christkönigsfest. "Wiederkunft" ist aber auch das Thema des des Zweiten Thessalonicherbriefs! Das deutet sich bereits in der heutigen Lesung an.

Unter dem Geischtspunkt des reinen Hörverständnisses ist die Begrenzung des heutigen Lesungsabschnitts mehr als unglücklich gewählt. Die offensichtlich beabsichtigte Kürze der Lesung lässt kaum eine Chance, in die Logik des Briefes einzutauchen.Auch wenn dieser mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht von Paulus stammt, sondern aus späterer Zeit (ausgehendes 1. Jh. n. Chr.), sich also nur als Paulusbrief ausgibt und dabei deutlich auf den Ersten Thessalonicherbrief zurückgreift (ein mit Sicherheit echter Paulusbrief), so hat der Zweite Thessalonicherbiref  nichtsdestoweniger eine sehr klare und geradezu vorbildliche Struktur. Für die ersten beiden Kapitel sieht sie folgendermaßen aus:

1,1-2     Gruß

1,3-4    Dank an die Gemeinde

1,5-10   Vorbereitung des Themas "Wiederkunft"

1,11-12  Fürbitte für die Gemeinde

2,,1-2    Eröffnung des ersten Hauptteils (insgesamt: 2,1-12).

In dieser Struktur sind die Verse 1,11-12 (erste Hälfte der Lesung) die Forsetzung, näherhin die Folgerung aus der Danksagung 1,3-4 und setzen diese voraus. Die Verse 2,1-2 hingegen (die zweite Häfte des Lesungstextes) setzt die vorausverweisenden Bemerkungen aus 1,5-10 voraus und sind ohne diese eigentlich nicht zu verstehen. 

 

Die Fürbitte (Verse 1,11-12)

Mit dem Stichwort "Berufung" greift der Zweite Thessalonicherbrief durchaus einen Begriff auf, den auch Paulus gerne verwendet. Bei ihm gilt die Berufung einem Lebensauftrag (Paulus versteht sich in Galater 1,1 und Römer 1,1 als "berufener Apostel") bzw. einer bestimmten Lebensweise, die statt auf auftriumphierende Stärke in der Nachfolge des Gekreuzigten auf "Schwäche" setzt (1 Korinther 1,26-31) oder als "Heiligung" im Gegensatz zur "Unzucht" interpretiert wird (1 Thessalonicher 4,7). Demgegenüber meint der Zweite Thessalonicherbrief mit Berufung das, was den Glaubenden im Endgericht bei der Wiederkunft Christi erwartet. Es geht also um die Berufung zur "Rettung". Diese wird so stark betont und zum Gegenstand der Fürbitte, weil für die Gemeinde eine Bedrängung durch angeblich "Gottnicht Kennende" (so in Vers 8) vorausgesetzt wird. Ihnen sollen die Gemeindeglieder auf gar keinen Fall nachgeben und so ihre "Berufung" aufs Spiel setzen. Die Bitte um "Vollendung" allen guten Willens und Glaubens knüpft an die Danksagung an, dass schon bislang so viel an Standhaftigkeit und Glauben in allen Bedrängissen für diese Gemeinde bezeugt ist (vgl. die ausgelassenen Verse 3-4). Aber aller Dank kann ja nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch der Stärkste in Versuchung geraten kann. Daher also die Fürbitte: Gott möge noch all das hinzufügen, was den Menschen eventuell an Kraft fehle.

 

Die Bitte (Verse 2,1-2)

Damit stellt sich natürlich die Frage, worin denn genau die "Bedrängnis" besteht bzw. was der Inhalt des "falschen Glaubens" ist. Die ersten Andeutungen erfolgten schon in 1,5-10. Sehr massiv spricht Vers 8 von denjenigen, "die Gott nicht kennen und dem Evangelium Jesu, unseres Herrn, nicht gehorchen." Das ist harter Tobak. Diesem schweren Vorwurf entspricht die In-Aussicht-Stellung von  "Vergeltung" (Vers 8), "ewigem Verderben" und "das Fernsein von des Herrn Angesicht" bei Christi Wiederkunft zum Gericht (Vers 9). Ausschluss von der Berfung zur Herrlichkeit lautet also das vorwegnehmende Urteil des Zweiten Thessalonicherbriefs. 

Dieser furchtbare Zusammenhang von Unglaube und Verdammnis wird nun hinsichtlich des "Irrglaubens" in 2 Thess 2,1-2 etwas konkretisiert: Die "Bedränger" der Gemeinde behaupten offensichtlich unter Berufung auf einen Brief oder ein mündliches ("prophetisches") Wort des Paulus, das der "Tag des Herrn", also die Wiederkunft Christi zum Gericht, unmittelbar bevorstehe (Vers 2: "sei schon da"). Ganz offensichtlich will der  unbekannte Verfasser des Zweiten Thessalonicherbirefs in vorangeschrittener Zeit des Christentums weg von einer allzu nahen und konkreten Naherwartung. Der "Tag des Herrn" lässt sich nicht terminieren, ist erst recht noch nicht da. Weder der Verweis auf eine angebliche Verkündigung des Paulus noch vielleicht die Griffigkeit der Parole selbst soll die Gemeinde "aus der Fassung bringen und in Schrecken jagen" (Vers 2).

Doch was ist daran so schlimm, dass der Brief mit so harten Strafen für die gegenteilige Sicht rechnet? Die Antwort wird erst das 3. Kapitel geben: Wer schon heute oder morgen mit der Wiederkunft Christi rechnet - und zwar nicht als Möglichkeit, sondern als sicherem Datum -, der entschließt sich zur Faulheit, stellt das Arbeiten ein, lässt höchstens andere für sich schaffen und genießt den Müßiggang (vgl. 3,6-12; zu dieser Lesung vgl. Überblick und Auslegung am 33. Sonntag im Jahreskreis).

Auch wenn die theologisch begründete Selbstbefreiung vom Leistungseinsatz kaum gutgeheißen werden kann, wird man aus heutiger Sicht denooch sagen müssen, dass der Verfasser des Zweiten Thessalonicherbriefs mit seiner harten Sicht wohl doch das Maß verloren hat. Zugute zu halten ist ihm sicherlich, dass Paulus selbst im Ersten Thessalonicherbrief und auch an anderen Stellen deutlich macht, dass er nie auf Kosten anderer Leute lebte, sondern bei aller Verkündigungsarbeit immer auch seiner Erwerbsarbeit als Zeltmacher nachging. Ob er aber diese ihn ehrende und zugleich unangreifbar machende Vorbildlichkeit in solcher Radikalität zum Maßstab gemacht hätte, wie es in der heutigen Lesung geschieht, bzw. zu vergleichbar harten Konsquenzandrohungen gegriffen hätte, darf zumindest angefragt werden. Belege dafür aus den echten Paulusbriefen (Römer, 1/2 Korinther, Galater, Philipper, 1 Thessalonicher, Philemon) gibt es jedenfalls nicht.

Auslegung

Fürbitte (Vers 1,11)

Das Thema Fürbitte verbindet Paulus und den Verfasser des Zweiten Thessalonicherbriefs. Nicht nur empfiehlt Paulus in 1 Thessalonicher das ununterbrochene Beten, welches das Fürbittgebet einschließt (1 Thess 5,17). Er betet für die Gemeinde (Philipper 1,4; 1 Thessalonicher 1,2), wie er auch um das Gebet für sich selbst bittet (1 Thessalonicher 5,25). Beide Gebetsrichtungen der Fürbitte begegnen auch im Zweiten Thessalonicherbrief: In 1,11 betet der Verfasser für die Gemeinde, in 3,1 bittet er um das Gebet für sich. 

Fürbitte hat 2 Dimensionen: Sie relativiert die Möglichkeiten menschlicher Machbarkeit und des menschlichen "guten Willens" (Vers 11 spricht wörtlich vom "guten Willen zum Guten").  Fürbitte stellt andere in den größeren Horizont Gottes und vergrößert so die Möglichkeiten, zu handeln oder manchmal auch nur das Unabänderliche zu ertragen. Zugleich schafft das Fürbittgebet eine Solidargemeinschaft des Aneinanderdenkens und Füreinandereintretens. Während diese "Solidargemeinschaft" bei Paulus und auch im Zweiten Thessalonicherbrief sich eher noch auf die jeweilige Gemeinde zu beschränken scheint, weiten die zeitlich wahrscheinlich noch späteren Pastoralbriefe den Adressatenkreis der Fürbitten:

1 Vor allem fordere ich zu Bitten und Gebeten, zu Fürbitte und Danksagung auf, und zwar für alle Menschen, 2 für die Herrscher und für alle, die Macht ausüben, damit wir in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können. (1 Timotheus 2,1-2)

In diese Tradiiotn stellt sich die Kirche, wenn sie in ihre Gottesdienste Fürbitten für alle Welt integriert.

 

"verherrlicht werden" (Vers 1,12)

Dieser für heutige Ohren eher weniger geläufige Ausdruck ist ebenfalls durch Paulus vorgeprägt. Wenn Gott "verherrlicht" wird, dann bedeudet es das bei ihm: Es geschieht etwas, aus dem sichtbar wird: Alles, was der Glaube bzw. die Verkündigung von Gott sagt, trifft zu: letztlich also das Zusammenkommen von todüberwindender Macht, die aber nicht in Willkür umschlägt, sondern mit Liebe und ständigem Willen zur Vergebung gepaart ist. Im Handeln von Menschen, die an diesen Gott und seinen Sohn Jesus Christus glauben, oder auch in der Unerschütterlichkeit ihres Glaubens selbst angesichts des Todes wird sichtbar, dass die Rede von Gott wahr ist. Im Blick auf den Menschen meint "verherrlicht werden", zu "profitieren" von der todüberwindenden Macht Gottes und an der Auferweckung Jesu teilzuhaben. Das ewige Leben ist die Verherrlichung des Menschen bzw. in der Auferweckung der Toten verherrlicht sich Gott. Darin nämlich erweist er das Bekenntnis zu ihm als zutreffend.

Im Zweiten Thessalonicherbrief scheint sich der Bedeutungsgehalt des Wortes "verherrlicht werden" einmal mehr zu verschieben. Es geht schlicht um die Anerkennung Gottes durch die Menschen. Das Parallewort "Bewunderung" spricht hier eine "verräterische" Sprache (s. 2 Thessalonicher 1,10). Damit wird das paulinische Verständnis allerdings sehr einseitig aufgelöst.

 

"... oder in einem Brief, wie wir ihn geschrieben haben sollen" (Vers 2,2)

Von welchem Brief spricht der Verfasser des Zweiten Thessalonicherbriefs? Die Sachlage ist verwirrend. Er gibt sich eindeutig als Paulus aus, als welcher er gelten will. Im englisch-amerikanischen Bereich hält auch die aktuelle Exegese an der tatsächlichen Verfasserschaft des Paulus fest. Die Gegenargumente sind allerdings deutlich stärker. Neben inhaltlichen und sprachlichen Gründen ist ein nicht zu unterschätzender Grund gegen die tatschliche paulinische Verfasserschaft, dass keiner innerhalb der Biographie des Paulus und der Abfolge seiner Briefe einen passenden Ort und einen passenden Zeitpunkt für die Abfassung findet. Nach 1 Thessalonicher beschäftigt das Thema "Wiederkunft Christi" Paulus in keinem weiteren Brief mehr wirklich. Die Themen hingegen, die Paulus fortan interessieren (Kreuz, Gesetz, Gerechtigkeit), kommen im Zweiten Thessalonicherbrief nicht vor. Seine Konzentration auf dieses eine Spezialthema "Nein, der Tag des Herrn ist noch nicht da" ist für Paulus nicht plausibel zu machen.

Dann aber schreibt ein Späterer, dem dieses Thema und nur dieses Thema offensichtlich ganz wichtig ist. Wenn er dabei in Formulierungen immer wieder auf den Ersten Thessalonicherbrief zurükgreift, um diese aber anders zu füllen, wird man den Verdacht nicht los: Mit der oben genannten Formulierung will der Autor den Ersten Thessalonicherbrief als ungültig erklären ("geschrieben haben sollen"). Dabei wird man bei genauer Lektüre dieses echten Paulusbriefes kaum die These, "der Tag des Herrn sei schon da", dort entdecken. Vielmehr schreibt Paulus ausdrücklich: "1 Über Zeiten und Stunden, Brüder und Schwestern, brauche ich euch nicht zu schreiben. 2 Ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht" (1 Thessalonicher 5,1-2). Zwar gibt es in demselben Brief öfters die Formulierung "bei der Ankunft des Herrn" (1 Thessalonicher 4,15; 5,23). Doch muss man Paulus schon böse missverstehen, wenn man daraus die These ableiten will, "der Tag des Herrn sei schon da". Nichtsdestoweniger haben entweder der Autor des Zweiten Thessalonicherbirefs oder einige Gemindeglieder, an die er schreibt, genau diese missverstehende Deutung herausgelesen. Leider stellt der Autor das Missverständnis nicht klar, sondern spricht dem Ersten Thessalonicherbrief - wenn nicht irgendein spekulativ angenommener, uns unbekannter Brief gemeint sein sollte - die Paulusverfasserschaft ab und lässt nur seinen eigenen Zweiten Thessalonicherbrief als Paulus-Schreiben gelten. Zum Beweis führt er am Ende an: "Den Gruß schreibe ich, Paulus, eigenhändig. Das ist mein Zeichen in jedem Brief; so schreibe ich" (2 Thessalonicher 4,17). Die Formulierung der eigenhändigen Unterschrift scheint aus 1 Korinther 16,21 übernommen zu sein.

"Pia fraus", "fromme Lüge" hat man so etwas in der späteren Tradition genannt. Auch wenn dieses Stilmittel in Zeiten der Entstehung des Neuen Testaments durchaus verbreitet war - in reiligiöser wie weltlicher Literatur -, wird man das Verfahren heute nicht einfach gutheißen können. Man wird aber im Fall des Zweiten Thessalonicherbirefs sagen dürfen: Er hat eine Aussage stark gemacht, die durchaus in der Linie des Paulus liegt, dass nämlich die Wiederkunft Christi kein erfolgtes, sondern ein ausstehendes und nicht wirklich berechenbares Geschehen ist. Damit hat er ein Plädoyer für das Tatigwerden von Kirche in dieser Weltzeit in der Heiligen Schrift verankert. Der Glaube an die Wiederkunft Christi ist nicht zur Lizenz für das Nichtstun geworden. Daran hat dieser Brief einen nicht unwesentlichen Anteil.

Kunst etc.

Diskus von Chinkultik, gezeichnet von Lacambalam, CC BY-SA 4.0
Diskus von Chinkultik, gezeichnet von Lacambalam, CC BY-SA 4.0

Es ist noch nicht lange her, da beschäftigte der Maya-Kalender sogar die Nachrichten im Fernsehen. Denn folgt man dem, was seine Entzifferer herausgefunden haben, so sagte dieser Kalender das Ende der Zeit für den 21. Dezember 2012 voraus. Es ist erstaunlich: Auch noch in unserer modernen und aufgeklärten Zeit gibt es Menschen, die solchen Berechnungen trauen und sich auf das Ende einstellen. Dies zeigt, dass das Thema des Zweiten Thessalonicherbriefs, die Frage nach der Wiederkunft Christi und die Feststellung, dass diese Zeitenwende noch nicht gekommen sei, keineswegs unsinnig oder definitv überholt ist. Das, womit offensichtlich eine uns nicht näher bekannte Gruppierung damals auftrat, nämlich mit der lähmenden und zumindest verunsichernden Botschaft vom Zeitenende, christlich formuliert als "Wiederkunft Christi", bleibt - in welcher Gewandung auch immer - eine Gefährdung auch in unserer Zeit.