Lesejahr C: 2021/2022

1. Lesung (Jes 66,10-14c)

10Freut euch mit Jerusalem und jauchzt in ihr alle, die ihr sie liebt! Jubelt mit ihr, alle, die ihr um sie trauert, 11 auf dass ihr trinkt und satt werdet an der Brust ihrer Tröstungen, auf dass ihr schlürft und euch labt an der Brust ihrer Herrlichkeit!

12 Denn so spricht der HERR:

Siehe, wie einen Strom leite ich den Frieden zu ihr und die Herrlichkeit der Nationen wie einen rauschenden Bach, auf dass ihr trinken könnt; auf der Hüfte werdet ihr getragen, auf Knien geschaukelt.

13 Wie einen Mann, den seine Mutter tröstet, so tröste ich euch; in Jerusalem findet ihr Trost.

14 Ihr werdet das sehen und euer Herz wird jubeln und eure Knochen werden sprossen wie frisches Grün. So offenbart sich die Hand des HERRN an seinen Knechten […].

Überblick

„Freut euch mit Jerusalem,“ denn Gott hat auch eine weibliche Seite. Er ist wie eine tröstende Mutter.

 

1. Verortung im Buch

Am Ende des Buches Jesaja herrscht Freude – „Freut euch mit Jerusalem“. Das Wunder des neuen Zions, des Wiederaufbaus des Gottesvolkes und der Gottesstadt in Jerusalem wird – überraschenderweise – als ein schmerzloser Geburtsvorgang geschildert: Die Geburt geschieht ohne Wehen (Verse 7-9). Gott wirkt auf eine ganz neue Weise für sein Volk. Im Angesicht des vorherigen Leids des Gottesvolkes im Exil ist auch die damit zusammenhängende rhetorische Frage überraschend: „Sollte ich den Schoß öffnen und nicht gebären lassen?, spricht der HERR. Sollte ich, der gebären lässt, den Schoß verschließen?, spricht dein Gott“ (Vers 9). Damit kehrt Gott die Verzweiflungsworte König Hiskijas in vorexilischer Zeit, als Jerusalem von dem assyrischen König Sanherib belagert wurde, um – aber dann von Gott ein letztes Mal vor der finalen Katastrophe doch noch gerettet wurde: „So spricht Hiskija: Heute ist ein Tag der Not, der Strafe und der Schande. Die Kinder sind bis an die Öffnung des Mutterschoßes gelangt, doch es fehlt die Kraft zum Gebären“ (Jesaja 37,3). Das nun in Jesaja 66 verkündete Heil lässt sich nicht mehr aufhalten. Doch in dem Heil, das den Grund für die Freude bietet, zeigt sich Gottes Macht in ihrer Zweiseitigkeit. Die Geburt ist sozusagen nicht lautlos: „Tosender Lärm aus der Stadt, Lärm aus dem Tempel, Lärm des HERRN: Er vergilt seinen Feinden ihr Tun.“ (Vers 6). Der Lobaufruf mündet in die Feststellung des wütenden Zorns Gottes. Bereits in Vers 14 – dem letzten Teilvers, der für die Lesung gestrichen wurde – heißt es abschließend: „aber er [= Gott] ergrimmt gegen seine Feinde.“ Und dann wird das Gericht Gottes gegen die Feinde Gottes angekündigt: „Denn siehe, der HERR kommt im Feuer heran, wie der Sturm sind seine Wagen, um in Glut seinen Zorn auszulassen und sein Drohen in feurigen Flammen. Denn mit Feuer und seinem Schwert geht der HERR ins Gericht mit allem Fleisch und die vom HERRN Durchbohrten werden zahlreich sein“ (Verse 15-16).

 

2. Aufbau

Dem Aufruf zur Freude in den Versen 10-11 folgt die Entfaltung in den Versen 12-14, was das in den Versen 7-9 verkündete Heil für das Gottesvolk bedeutet. Aus der Trauer über Jerusalem wird Freude: „Jubelt mit ihr [= Jerusalem], alle, die ihr um sie trauert“ (Vers 10). Im Zentrum dieses Jubels steht ein bemerkenswertes Gottesbild. Gott spricht von sich als liebender und tröstender Mutter: „Wie einen Mann, den seine Mutter tröstet, so tröste ich euch; in Jerusalem findet ihr Trost“ (Vers 13). Wie schon zuvor im Buch Jesaja betont, geht Trost mit Vergeltung einher: „einen Tag der Vergeltung für unseren Gott, um alle Trauernden zu trösten“ (Jesaja 61,2).

 

3. Erklärung einzelner Verse

Verse 10-11: In der Lobaufforderung gibt es eine im Alten Testament einmalige Konzentration von Begriffen und Bildern der Freude, des Trostes, der Sättigung und des Vergnügens. Die Stadt selbst selbst wird als eine stillende Mutter dargestellt, die ihre Kinder – die, die sie lieben – mit Freude versorgt. In Vers 13 wird dann indirekt die Stadt mit Gott in Verbindung gesetzt; Gott ist die tröstende Mutter. Die Vielzahl der Freudenausdrücke kontrastiert die herrschende Trauer über die brachliegende Stadt. In der Welt des Alten Testament geht Trauer mit Fasten als äußerem Zeichen einher. Das Trinken, Sattwerden und Laben ist somit eine Aufforderung die Trauer zu beenden (siehe zum Beispiel Sacharja 7,1-7).

Vers 12: Als Begründung für die Lobaufforderung wird ein Gotteswort eingeführt, das tief zurück in das Prophetenbuch greift. Frieden wird nun endlich wie ein Fluß in die Stadt strömen – vgl. Jesaja 48,18: „Hättest du [= Gottesvolk] doch auf meine [= Gottes] Gebote geachtet! Dein Heil wäre wie ein Strom und deine Gerechtigkeit wie die Wogen des Meeres“. Der Reichtum der Völker wird zum Reichtum des Gottesvolkes – vgl. Jesaja 60,5: „Da wirst du [= Zion] schauen und strahlen, dein Herz wird erbeben und sich weiten. Denn die Fülle des Meeres wendet sich dir zu, der Reichtum der Nationen kommt zu dir.“ Und das behutsam Tragen auf der Hüfte, wie man Kleinkinder trägt, könnte auf die Rückkehr der letzten Exilierten nach Jerusalem verweisen – vgl. Jesaja 60,4: „Erhebe deine [= Zions] Augen ringsum und sieh: Sie alle versammeln sich, kommen zu dir. Deine Söhne kommen von fern, deine Töchter werden auf der Hüfte sicher getragen.“

Verse 13-14: Diejenigen, die gemäß Vers 10 über Jerusalem trauern, finden eben in dieser Stadt Trost. Und die Quelle des Trostes ist Gott selbst. Dieser Trost ist der Nährboden für die Wiederbelebung. An der Stadt Gottes beweist sich seine Macht – für diejenigen, die ihm dienen, „seine Knechte“. Über sie wütet nicht sein Zorn, sondern seine Leben ermöglichende Barmherzigkeit.

Auslegung

Das vielleicht geeignetste Bild, um Gottes Liebe zu seinem Volk auszudrücken, ist die Vorstellung der Liebe einer Mutter zu ihrem Neugeborenen, das behütet und beschützt an ihrer Brust gestillt wird. Ein solches Gottesbild sollte daher niemanden überraschen. Die Macht Gottes drückt sich auch in weiblichen Zuschreibungen aus. Man darf nur nicht den Fehler begehen, und bei allem Hang zur Romantik und zum männlichen Vorurteil, diese weibliche Seite Gottes als Schwäche zu interpretieren. In den Armen der tröstenden Mutter liegt hier in Jesaja 66,13 kein hilfloses Neugeborenes, sondern wörtlich heißt es hier: „Wie jemand, den seine Mutter tröstet, so werde ich euch trösten […].“ Des Trostes bedarf ein Jemand, oder wie der Text dann in Vers 14 verdeutlicht: „seine [, erwachsenen] Knechte“. Durch sein weibliches, Leben ermöglichendes Handeln erweist Gott seine Macht – aber dazu gehört auch der durchgreifende Zorn, der entbrennen kann und der Vernichtung bedeutet. Doch in der Rede über Gott geht es nicht um Geschlechterstereotypen. Ist der Zorn Gottes seine männliche Seite und offenbart sich seine weibliche Seite, wenn er tröstet? In Jesaja 66,10-14 zeigt sich Gottes Liebe zu seinem Volk und zu seiner Stadt Jerusalem – und Liebe ist eben weder männlich noch weiblich, sondern sowohl als auch; ebenso wie Gott.

Kunst etc.

Bei Ausgrabungen im gesamten Siedlungsgebiet des biblischen Israels und im Besonderen in Jerusalems wurden in Wohnhäusern eine Vielzahl von Tonfiguren gefunden. Es handelt sich eindeutig um weibliche Gestalten mit großen Brüsten, die sie meistens mit ihren Händen halten. Archäologen identifizieren sich als Götterstatuen – wahrscheinlich der kanaanäischen Göttinen Astarte oder Aschera. Diese Art des Götzendienstes wurde von den Propheten stark verurteilt, aber es zeigt sich darin unter anderem auch das Bedürfnis der Betonung des weiblichen Aspekts Gottes.

Tonfigurine, vielleicht aus dem 7. Jahrhundert v. Chr – The Jewish Museum New York. Lizenz: (CC BY-SA 3.0)
Tonfigurine, vielleicht aus dem 7. Jahrhundert v. Chr – The Jewish Museum New York. Lizenz: (CC BY-SA 3.0)