Lesejahr C: 2021/2022

1. Lesung (Sir 35,15b-17.20-22a)

15b Denn der Herr ist Richter / und es gibt vor ihm kein Ansehen der Person.

16 Er bevorzugt niemanden gegenüber einem Armen, / die Bitte eines ungerecht Behandelten wird er erhören. 17 Er missachtet nicht den Hilferuf der Waise / und die Witwe, wenn sie ihren Jammer ausschüttet.

[…]

20 Wer Gott wohlgefällig dient, wird angenommen / und seine Bitte dringt bis in die Wolken.

21 Das Gebet eines Demütigen durchdringt die Wolken, / und bevor es nicht angekommen ist, wird er nicht getröstet / und er lässt nicht nach, bis der Höchste daraufschaut. 

22a Und er wird für die Gerechten entscheiden und ein Urteil fällen. / Und der Herr wird gewiss nicht zögern […]

Überblick

Kein Opfer und keine kultische Handlung sind für Gottes Handeln wegweisender als der Hilfeschrei derjenigen, die unter Unterdrückung und Armut leiden. Wahrer Gottesdienst wird erst möglich auf der Grundlage des barmherzigen und gerechten menschlichen Handelns.

 

1. Verortung im Buch

Im Buch des Weisheitslehrers Jesus Sirach wird unter anderem auch die Frage nach dem wahren oder richtigen Gottesdienst und dessen Wirkung behandelt. Seine Gedanken beginnen mit einer Zurechtweisung, die die thematische Einleitung in seine Reflexion zu diesem Thema darstellt: 

Wer ein Opfer von unrechtem Gut darbringt, dessen Gabe ist mit Makel behaftet, / denn Gaben der Gesetzlosen finden kein Gefallen. An Gaben der Gottlosen hat der Höchste kein Gefallen, / auch vergibt er nicht Sünden aufgrund einer Fülle an Opfern." (Sirach 34,21-22)

Ein Opfer, das auf Ungerechtigkeit fußt, ist wirkungslos. Wer so handelt, als gäbe es keinen Gott bzw. dessen Willen nicht beachtet, dessen kultische Opfer und Gebete sind wertlos, ja sie sind gar ein Graus für Gott. Für Jesus Sirach ist die Einhaltung des alttestamentlichen Gesetzes in seinen ethischen und kultischen Dimensionen die höchste Form der Anbetung Gottes (Sirach 35,1-5). Daher sollen Gerechtigkeit und Kult Hand in Hand gehen und daran sei der wahre Gläubige zu erkennen (Verse 6-13). Daher erfolgt in den Versen 14-22a eine Ermahnung, soziale Gerechtigkeit zu praktizieren. Denn Gott ist ein gerechter Richter, der nicht nur Partei ergreift für die in der Gesellschaft Israels Unterdrückten, sondern er vergilt auch den Völkern das Böse und zeigt sich barmherzig gegenüber seinem Volk, wenn es unterdrückt wird. So gelangt Jesus Sirach am Ende seiner Ausführung über den wahren oder richtigen Gottesdienst zu einem bewegenden und ausführlichen Bittgebet für die Befreiung und Wiederherstellung Israels (Sirach 36,1-22). 

 

2. Aufbau

Gott als Richter ist die thematische Klammer, um die Verse 15b bis 22a: „der Herr ist Richter … er wird für die Gerechten entscheiden und ein Urteil fällen“. In den Versen dazwischen wird das Verhalten gegenüber der sogenannten klassischen personae miserae, im Besonderen Witwen und Waisen, als Urteilsargument erklärt und Demut als Schlüssel zum Gebet bzw. zur Barmherzigkeit benannt. 

Um jedoch die Aussage, dass Gott ein Richter ist, in diesem Kontext zu verstehen, muss Vers 14 und der Anfang von Vers 15 bedacht werden: „Bestich ihn [Gott] nicht, denn er wird es nicht annehmen und vertrau nicht auf ungerechte Opfer!“ Der Reiche hat gegenüber Gott keinen Vorteil. Und die Drastik dieser Aussage wird erst vollends ersichtlich, wenn man Vers 22 zu Ende liest: „Und der Herr wird gewiss nicht zögern und nicht langmütig sein gegen die Unbarmherzigen, bis er ihre Hüften zerbrochen hat.“ Die Hüften stehen in dieser Aussage sowohl als Symbol für Stärke und Macht – an der Hüfte wurde das Schwert getragen –, als auch für die sexuelle Potenz und somit die Zukunftsfähigkeit der Ungerechten.

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 15b: Das Bild des Richters betont hier auch, dass Gott unbestechlich ist: Mit Opfern kann man Gottes Zorn gegen fortgesetztes, ungerechtes Handeln nicht beschwichtigen – im Besonderen nicht wenn der sich in den Opfergaben ausdrückende Reichtum auf dem Rücken Unterdrückter erwirtschaftet wurde (siehe Vers 15a). Auch Reichtum und Ansehen wiegen Schuld nicht auf. Jesus Sirach bezieht sich hier auf eine Aussage aus dem Buch Deuteronomium: „Denn der HERR, euer Gott, ist der Gott über den Göttern und der Herr über den Herren. Er ist der große Gott, der Held und der Furchterregende. Er lässt kein Ansehen gelten und nimmt keine Bestechung an“ (Deuteronomium 10,17). Wörtlich übersetzt wird Gott nicht nur als Richter von Jesus Sirach beschrieben, sondern als „Gott des Rechts / des Urteils“. Gott entscheidet entsprechend seinem im Gesetz offenbarten Willen. 

Verse 16-17: Im Hebräischen steht am Anfang beider Verse jeweils ein betontes „Nicht“. Sie definieren im Kontrast, wie Gott ist. Er ist parteiisch. Er steht auf der Seite der Armen und Unterdrückten: Ihr Rufen, Klagen und ihr Gebet erhört Gott. Hier drückt sich die vor allem in den Psalmen zu findende Armentheologie aus. In Vers 17 werden die in der damaligen israelitischen, patriarchalischen Gesellschaft benachteiligten genannt: Witwen und Waisen. Sie sind die schwächsten Glieder der Gesellschaft und bedürfen besonderen Schutzes. So fordert zum Beispiel auch der Prophet Jesaja: „Lernt, Gutes zu tun! Sucht das Recht! Schreitet ein gegen den Unterdrücker! Verschafft den Waisen Recht, streitet für die Witwen!“ (Jesaja 1,17). Die Begründung für die Parteinahme Gottes wird nicht nur im Wesen Gottes verankert, sondern auch im eigentlichen Leid der Betroffenen. Und dies wird dem Leser und der Leserin emotional und bildreich ans Herz gelegt in den Versen 18-19, die in der Lesung ausgelassen werden: „Fließen nicht Tränen der Witwe über die Wangen und richtet sich der Schrei nicht gegen den, der sie hinabfließen ließ?“

Vers 20: Dieser Vers ist nicht nur schwer zu übersetzen, sondern der hebräische Grundtext ist schwer verständlich. Wörtlich müsste man den Anfang folgendermaßen übersetzen: „Die Bitterkeiten des Wohlgefallens sind Ruhe …“. In der antiken griechischen Übersetzung, die von Jesus Sirachs Enkel stammt, wird daraus: „Wer heilt, wird mit Wohlgefallen empfangen ….“. Auch der zweite Teil des Verse ist schwer verständlich – wörtlich heißt es aus dem Hebräischen übersetzt: „und das Geschrei eilt zur Wolke“ – daraus wird in der griechischen Übersetzung: „und seine Bitte wird bis zu den Wolken reichen“. Vielleicht ist mit den Bitterkeiten des Wohlgefallens die bittere Klage gemeint, die bei Gott auf Wohlgefallen trifft und so zu Ruhe führt, denn ein solches „Geschrei“ dringt bis in die Wolken und – wie der folgende Vers aussagt – durchdringt sie sogar, sodass Gott diese geschriene Klage erhört.

Vers 21: Das, was das Opfer nicht aus sich heraus ermöglicht, wird hier dem Klageschrei der Unterdrückten zugesprochen. Gott ist verpflichtet, bzw. hat sich dazu verpflichtet, dies zu erhören. Nicht die Opfer, sondern der aus dem Leid der Unterdrückten erklingende Hilfeschrei ist für Gott sozusagen unwiderstehlich; er zwingt ihn gar zum Eingreifen.

Vers 22a: Der Gott des Rechts (siehe Vers 15b) schafft Recht. Der Klageschrei der Unterdrückten führt zu einem Richterspruch Gottes. Dieses Urteil ist vernichtend, wie der Fortgang dieses Verses, der nicht mehr zum Lesungstext gehört, verdeutlicht: „Und der Herr wird gewiss nicht zögern und nicht langmütig sein gegen die Unbarmherzigen, bis er ihre Hüften zerbrochen hat.“

Auslegung

Gott ist parteiisch. Da helfen kein Reichtum, kein elitärer Status und erst recht nicht morallose rituelle Handlungen. Gottesdienst ohne Gerechtigkeit ist bedeutungslos. Die Hände, die zu Gott beten, die ihm Opfer darbringen, tun dies vergebens, wenn sie nicht auch, ja zuvor, Werke der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gegenüber den Mitmenschen, im Besonderen den Armen und Unterdrückten, geübt haben. Um dies zu verdeutlichen, entfaltet Jesus Sirach eine Theologie, die Gottes Allmacht in seinem Richteramt anerkennt: Er ist der Gott des Rechtes und er schafft Recht. Eine unumkehrbare Leitlinie zur Herstellung der Gerechtigkeit ist dabei Gottes Begrenzung durch den Hilfeschrei der Armen und Unterdrückten. Von diesem Hilfeschrei lässt Gott sich sozusagen beherrschen, wie Vers 21 klarstellt: „Das Gebet eines Demütigen durchdringt die Wolken, / und bevor es nicht angekommen ist, wird er nicht getröstet / und er lässt nicht nach, bis der Höchste daraufschaut.“ Gemäß der antiken griechischen Übersetzung ist es der „Demütige“, dessen Gebet hier thematisiert wird. Im Hebräischen Text hingegen steht das Wort דָּל (gesprochen: dal). Damit wird eine Person bezeichnet, die physisch schwach und gering begütert ist. Es geht nicht um die Tugend der Demut, sondern den körperlich und/oder an Armut Leidenden, an dessen Seite Gott steht. Gottes Urteil über einen Menschen entscheidet sich also nicht anhand dessen kultischer Praxis, sondern das Verhalten gegenüber den leidenden Menschen ist entscheidend.

Kunst etc.

Aus dem Lesungstext wurden Verse 18-19 gestrichen: „Fließen nicht Tränen der Witwe über die Wangen 19 und richtet sich der Schrei nicht gegen den, der sie hinabfließen ließ?“ Dabei sind sie die bildliche Verdeutlichung innerhalb des Textes. Unterdrückung und Armut sind keine abstrakten Konzepte, sondern wahrhaftes Leid. Die Klage darüber und der Hilfeschrei sind in dem Erleiden der Ungerechtigkeit grundgelegt. Der in den Tränen symbolisierte Zusammenbruch des Menschen bahnt sich seinen Weg zur letzten verzweifelten Handlung, dem Klage- und Bittgebet an Gott. Aus der Träne erwächst der Schrei. Und Gott sagt zu, dass auf den Schmerz die Rettung folgt.

„Tränen, schreien, eine Träne, Schmerz, Ungerechtigkeit“, fotografiert von Victoria Borodinova – Lizenz: pixabay.
„Tränen, schreien, eine Träne, Schmerz, Ungerechtigkeit“, fotografiert von Victoria Borodinova – Lizenz: pixabay.