Lesejahr C: 2021/2022

1. Lesung (Jes 66,18-21)

18 Ich kenne ihre Taten und ihre Gedanken und komme, um alle Nationen und Sprachen zu versammeln, und sie werden kommen und meine Herrlichkeit sehen.

19 Ich stelle bei ihnen ein Zeichen auf und schicke von ihnen einige, die entronnen sind, zu den Nationen:

nach Tarschisch, Pul und Lud, die den Bogen spannen, nach Tubal und Jawan, zu den fernen Inseln, die noch keine Kunde von mir gehört und meine Herrlichkeit noch nicht gesehen haben.

Sie sollen meine Herrlichkeit unter den Nationen verkünden. 20 Sie werden alle eure Brüder aus allen Nationen als Opfergabe für den HERRN herbeibringen auf Rossen und Wagen, in Sänften, auf Maultieren und Kamelen, zu meinem heiligen Berg nach Jerusalem, spricht der HERR, so wie die Söhne Israels ihre Opfergabe in reinen Gefäßen zum Haus des HERRN bringen. 21 Und auch aus ihnen nehme ich einige zu levitischen Priestern, spricht der HERR.

Überblick

Die Herrlichkeit Gottes soll den Völkern verkündet werden – und aus ihnen wird Gott in Jerusalem Priester berufen. Am Ende des Buches Jesaja steht eine Globalisierung des Heils.

 

1. Verortung im Buch

Am Anfang des Buches des Propheten Jesaja steht die große und bekannte Vision von der Völkerwallfahrt zum heiligen Berg Zion: „Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg des Hauses des HERRN steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu ihm strömen alle Nationen. Viele Völker gehen und sagen: Auf, wir ziehen hinauf zum Berg des HERRN und zum Haus des Gottes Jakobs. Er unterweise uns in seinen Wegen, auf seinen Pfaden wollen wir gehen. Denn vom Zion zieht Weisung aus und das Wort des HERRN von Jerusalem.“ (Jesaja 2,2-3). Und nun, in den letzten Versen des Buches verkündet Gott, dass ein Endgericht, das der Verwirklichung der Vision vom Anfang vorausgeht, allumfassend sein wird: „Denn siehe, der HERR kommt im Feuer heran, wie der Sturm sind seine Wagen, um in Glut seinen Zorn auszulassen und sein Drohen in feurigen Flammen. Denn mit Feuer und seinem Schwert geht der HERR ins Gericht mit allem Fleisch und die vom HERRN Durchbohrten werden zahlreich sein.“ (Jesaja 66,15-16). Danach werden die Völker, samt den in die Diaspora verstreuten Juden und Jüdinnen in einer Prozession zum Heiligen Berg, nach Jerusalem ziehen (Verse 18-21). Am Ende wird „alles Fleisch“, jeder Mensch Gott in Jerusalem verehren und anbeten; und Israel wird als Gottesvolk auf ewig errichtet sein (Verse 22-23). Aber in dieser heilvollen Szenerie bleibt doch dem Unheil das letzte Wort des Buches: Gott verkündet, dass die Verehrer des Gottes Israels, nachdem sie ihn im Tempel angebetet haben, „die Leichen der Männer sehen, die mir abtrünnig geworden sind. Denn ihr Wurm stirbt nicht und ihr Feuer erlischt nicht und sie werden ein Abscheu sein für alles Fleisch.“ (Vers 24).

 

2. Aufbau

Dass alle Völker nach Jerusalem kommen werden, um die Herrlichkeit Gottes zu sehen, ist die Überschrift (Vers 18). Die folgenden Verse erläutern, wie dies geschehen wird, welchen Anteil die Völker daran haben werden und sie verkünden das unvorstellbare: Nicht-Israeliten werden zu Priestern des Gottes Israels (Verse 19-21).

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 18: Im Hebräischen Text ist der Anfang dieses Verses nahezu unverständlich; wörtlich übersetzt steht dort: „Und ich – ihre Taten und ihre Gedanken – sie ist kommend, um zu versammeln alle Völker und Sprachen …“. Die revidierte Einheitsübersetzung ergänzt wie die antike Übersetzung ins Syrische, dass Gott die Taten und Gedanken der Völker „erkennt“. Der Anfang des Textes lässt sich jedoch vielleicht ohne eine Ergänzung verstehen. Im Hebräischen ist es möglich einen Satz ohne ein Verb zu konstruieren – dies wird dann im Deutschen durch eine Form des Verbs „sein“ wiedergegeben: „Und ich bin ihre Taten und ihre Gedanken“. Dann würde Gott verkünden, dass er der eigentliche Lenker der Völker ist und sie ihr Tun und Denken an ihm ausrichten werden. Ein weiteres Problem verursacht das hebräische Wort ‎בָּאָה (gesprochen: ba’a; ein feminies Partizip von „kommen“). Möglich ist ein ausgefallenes feminines Subjekt vorauszusetzen, zum Beispiel „die Zeit“: „die Zeit ist gekommen, um …“. Mit der antiken griechischen Übersetzung des Texts wird jedoch meistens, wie hier in der revidierten Einheitsübersetzung, der hebräische Text korrigiert: Es ist Gott, der kommt, um alle Völker und Sprachen zu versammeln. Dies würde auch zu Vers 15 passen, der das Kommen Gottes verkündet. So folgt auf das Kommen Gottes das Kommen der Völker, um seine Herrlichkeit zu sehen.

Vers 19: In den Völkern wird Gott durch sein Kommen ein „Zeichen“ errichten. Was dieses Zeichen sein wird, erklärt der Text nicht – aber es wird sichtbar sein. Das Zeichen ist der Anfang für die Mission. Aber an wen es sich richtet, ist nicht eindeutig in diesem Vers ausgesagt. Wer sind diejenigen, die entronnen sind? In Jesaja 45,20 sind die „Entronnenen der Völker“ diejenigen, die das Gericht Gottes überlebt haben. Wie können aber Überlebende aus den Völkern zu den Völkern geschickt werden? Vielleicht muss hier unterschieden werden, zwischen den umliegenden, feindlichen Völkern und den im folgenden weitentfernten Völkern, mit denen der Gott Israels noch keine gemeinsame Geschichte hat. Aufgezählt werden Gebiete des westlichen Mittelmeers (Tarschisch), Griechenlands (Jawan), Nordafrikas (Put und Lud) und dem Südosten des Schwarzen Meeres (Tubal).

Vers 20: Wer nun die weltweit in der Diaspora zerstreuten Juden und Jüdinnen zurück nach Israel bringt, ist offen formuliert: Nur die Entronnen oder alle Völker? Die in den Völkern verstreut lebenden Israeliten werden zu einer Opfergabe im Sinne eines Geschenkes an Gott, indem sie in ihr Heimatland zurückgebracht werden (vgl. Jesaja 60,3-4: „Nationen wandern zu deinem [=Zion] Licht und Könige zu deinem strahlenden Glanz. Erhebe deine Augen ringsum und sieh: Sie alle versammeln sich, kommen zu dir. Deine Söhne kommen von fern, deine Töchter werden auf der Hüfte sicher getragen.“). Diese Rückkehr durch die Nationen wird verglichen mit der Darbringung von Opfergaben in dafür besonders geheiligten Gefäßen. Dieses Bild verdeutlicht, dass die Völker, die zuvor aus der Sicht des Alten Testaments Götzendiener waren, nun „rein“ sind, d.h. sich völlig ihrem neuen Gott zugewendet haben.

Vers 21: Auch der letzte Vers ist schwer zu verstehen: Es ist nicht eindeutig, ob Gott aus den zurückkehrenden Israeliten oder aus den Völkern sich Priester berufen wird. Im hebräischen Text verweist vielleicht das Wort גַּם (gesprochen: gam), das soviel wie „auch“ bedeutet, auf eine inklusive Perspektive. Nicht nur von den Israeliten, sondern auch von aus den Völkern wird sich Gott neue Priester berufen.

Auslegung

Am Ende der Zeit werden alle Völker zusammen mit Israel den einen Gott anbeten und verehren – und sie werden dies in Jerusalem tun. Aus der Perspektive des Alten Testaments ist nun im Besonderen bemerkenswert, dass sich Gott für dieses Ziel der Völker bedienen wird, indem er sich Verkünder aus den Völkern beruft: „Sie sollen meine Herrlichkeit unter den Nationen verkünden.“ (Vers 19). Diese Missionare bringen nun nicht die Herrlichkeit Gottes zu den Nationen. Sie bewirken nicht, dass sie Gott sehen können, sondern sie verkünden seine Macht und seine Taten. Dort, wo die Herrlichkeit Gottes noch nicht gesehen werden kann, dort wird sie durch Menschen hörbar gemacht. Und wer hört, wird dann auch sehen, wenn er oder sie nach Jerusalem pilgert.

Kunst etc.

Die Bedeutung Jerusalems als Zentrum nicht nur des Glaubens der Israeliten, sondern als Ort des Offenbarwerdens der Herrlichkeit Gottes des Königs über alle Völker gewinnt Kontur, wenn man Jesaja 66,18-21 auf dem Hintergrund der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier 587 oder 586 v. Chr. bedenkt. Der französische Maler Jacques Joseph Tissot (1836-1902) hat die Exilierung der Israeliten aus Jerusalem nach Babylon sehr plastisch als einen langen Zug aus der brennenden Stadt dargestellt. Jesaja 66,18-21 ist eine Umkehrung dieser Katastrophe. Anstatt der brennenden Stadt ist Jerusalem nun der Ort der Herrlichkeit Gottes. Nicht ein fremdes Volk führt die Israeliten ab, sondern die Völker sammeln im Sinne eines Gottesdienstes alle verstreuten Israeliten und bringen sie in die heilige Stadt.

Jacques Joseph Tissot, Die Flucht der Gefangenen, The Jewish Museum in New York, Accession Number: X1952-366, aus dem Erbe von Jacob Schiff.: The Jewish Museum – Lizenz: gemeinfrei.
Jacques Joseph Tissot, Die Flucht der Gefangenen, The Jewish Museum in New York, Accession Number: X1952-366, aus dem Erbe von Jacob Schiff.: The Jewish Museum – Lizenz: gemeinfrei.