Die heutige Lesung konzentriert sich ganz auf das Bild der vom Himmel herabkommenden Stadt Jerusalem. So Vieles an dieser "Himmelsshow" klingt - besonders für Christen mit jüdischer Herkunft in der damaligen Zeit - vertraut: der Name der Stadt, die Vorstellung einer Mauer mit Stadttoren. Selbst Details wie die Edelsteine und die Vermessung durch einen Engel erinnern an bekannte Texte. Doch dann ist bei genauem Hinsehen alles ganz anders und wirklich neu. Jerusalem wird zum Gegen-Ort eines jeglichen weltlichen Ortes. Von der Erde aus betrachtet ist es eine U-topie, ein Nicht-Ort und ein Gut-Ort gleichermaßen. Von Gott her ist dieses himmlische Jerusalem Chiffre für all das, was er den Menschen schenken will.
Die Lesung im Kontext des Buches
Nachdem am letzten Sonntag mit Offenbarung 21,1-5a ein doppeltes Heilsbild am Himmel erschienen ist: eine neue Schöpfung und ein himmlisches Jerusalem, konzentriert sich Offenbarung 21,9 - 22,5 ganz auf die Stadt, die vom Himmel herabkommt. Das Bild und seine Botschaft sind von so großem Gewicht, dass ihnen erzählerisch eine eigenständige Vision gewidmet ist. Sie erhält sogar einen eigenen "Präsentator": einen der Engel, die für die Ausgießung der Schalen des Zorns zuständig waren (Offenbarung 16,2-21). Die beiden Visionen - sieben Schalen des Zorns und himmlisches Jerusalem - werden durch den Engel in einen Zusammenhang gebracht, der darin besteht, dass sie zwei Seiten desselben Gerichts aufzeigen: Für die Anhänger des "Tieres" (also all des Menschenverachtenden, wofür der römische Kaiser in der Offenbarung symbolisch steht) zeigt sich die negative Seite des Gerichts in Form furchtbarer Strafmaßnahmen (vgl. z. B. Offenbarung 16,2). Für die nach Gott "Dürstenden" hingegen (vgl. Offenbarung 21,6) zeigt sich das Gericht von seiner belohnenden und das "verheißene ewige Erbe" zusprechenden Seite (vgl. zu diesem Bild Hebräer 9,15).
Der Lesungstext lässt den Einleitungsvers mit dem Engel aus und setzt sofort bei der Selbstwahrnehmung des Johannes ein.
Die Auslassungen
Die Auslassungen beschränken sich nicht auf die Einleitung, sondern setzen sich fort. Denn die ausgewählte Passage umfasst nach den Versen 10-11, die die Vision in einer Bergszene verorten, nur Teile der äußeren Beschreibung des himmlischen Jerusalem (Verse 11b-14), um dann zur Beschreibung seines Inneren zu springen (Verse 22-23).
Ausgelassen sind im ausgewählten Lesungsabschnitt die Verse 15-21. Dabei sind sie alles andere als unwichtig. Denn nur hier erfährt man, wie "phantastisch" dieses himmlische Jerusalem ist: ein Würfel von 12.000 x 12.000 x 12.000 Stadien Kantenlänge. Dies entspricht ungefähr 2.400 km3. Dieser "Stadt-Würfel" ist von einer deutlich niedrigeren Mauer (etwa 66 m) umgeben. D. h. die Symmetrien "stimmen" hier ebenso wenig wie die Baumaterialien: 12 verschiedene Edelsteinsorten, Goldstraßen und Perlentore. Das ist nicht nur "Herrlichkeit" (Vers 11) pur, sondern auch vielfache Anspielung: auf die würfelförmige Gestalt des Alleheilgsten am bereits zerstörten Tempel von Jerusalem (vgl. 1 Könige 6,20), auf die mit 12 Edelsteinen geschmückte Brusttasche des Hohepriesters (vgl. Ex 28,17-20), aber auch auf die sich groß dünkende, aber schließlich gestürzte Stadt Tyrus, die in einem Totenlied (Ezechiel 28,11-17) ähnlich prächtig geschildert wird. Doch ihr Stolz und ihr reines Vertrauen auf die eigenen Kräfte, d. h. ihre Gott-losigkeit im wörtlichen Sinn, hat ihr den Untergang eingebracht. Dagegen steht das himmlische Jerusalem, das nichts anderes ist als der Widerschein des göttlichen Strahlglanzes - ein Hoffnungsbild für die auf diesen Gott Setzenden und Vertrauenden.
Aus den Versen, die das "Innenleben" der Stadt beschreiben (Offenbarung 21,22 - 2,5), fehlt zumindest der wichtige Hinweis, dass die Stadttore grundsätzlich unverschlossen bleiben, es keine Nacht mehr gibt (Zeit der Todesgefahr und der Bedrohung) und nichts Unreines mehr hineinkommt (vgl. Verse 24-27). Die Stadt hat ihre Schutz- und Gerichtsfunktion verloren und ist der offen liegende Heilsort. Schließlich ist auch noch der Heil spendende Wasserstrom mit den zugehörigen Heilung bringenden Bäumen und damit der Anklang an das Paradies weggelassen (vgl. Verse 22,1-5).
Der eigentliche Lesungstext
Verse 10-11a: Die Rahmenszene
In seiner inneren Schau wird der Seher Johannes auf einen Berg emporgehoben. Dort wird ihm durch den Engel das vom Himmel herabkommende Jersualem gezeigt. Diese Eröffnungsszene orientiert sich an der großen Tempelvision des Propheten Ezechiel, die dieser in der Zeit der babylonischen Gefangenschaft hatte: Von Babylon aus, wo er als geistlicher Führer der aus Jerusalem und dem Umland verschleppten Juden wirkt, wird er im Geiste nach Jerusalem geführt:
1 Im fünfundzwanzigsten Jahr nach unserer Verschleppung, am Jahresanfang, am zehnten Tag des Monats, im vierzehnten Jahr nach der Eroberung der Stadt, genau an diesem Tag legte sich die Hand des HERRN auf mich und er brachte mich dorthin. 2 In göttlichen Visionen brachte er mich ins Land Israel und stellte mich auf einen sehr hohen Berg. In südlicher Richtung war auf dem Berg etwas wie eine Stadt erbaut. 3 Dorthin brachte er mich. Und siehe, da war ein Mann, der aussah, als sei er aus Bronze. Er hatte eine leinene Schnur und die Messlatte in der Hand. Und er stand im Tor (Ezechiel 40,1-3).
So ähnlich Ezechiel und Offenbarung sind aufgrund der verbindenden Elemente Visionär, Engel, Berg und Stadt, so deutlich sind aber auch die Unterschiede. Während im Buch Ezechiel die Stadt am Hang des Berges gebaut ist, auf dem der Prophet steht, und sie auch unzugänglich zu sein scheint, kommt in der Offenbarung Jerusalem aus dem Himmel und hat geradezu als Wesenseigenschaft die totale Zugänglichkeit. Ein weiterer Unterschied wird sich im Folgenden zeigen (vgl. dazu auch die Rubrik "Auslegung").
Mit der Aussage "erfüllt von der Herrlichkeit Gottes" liefert Vers 11a so etwas wie das Schlüsselwort für die ganze Szene. Denn der Begriff "Herrlichkeit", der alttestamentlich häufig mit Gott verbunden wird (hebräisch kabôd), umfasst Bedeutsamkeit aufgrund von Gewichtigkeit ebenso wie Majestät und Macht, die sich in strahlendem Lichtglanz zeigt (vgl. z. B. Exodus 24,16; 40,34; das Strahlen der Haut des Mose in Exodus 34,29 ist nichts anderes als der Widerschein des Strahlglanzes der Herrlichkeit Gottes, der Mose zuvor ausgesetzt war). Gerade diese zweite Dimension, diejenige des Lichts, des Glanzes und der Helligkeit, ist es, die sich in der Vision des himmlischen Jerusalem anschaulich entfaltet.
Verse 11b-14: Die Außensicht auf die Stadt
Vers 11b, der zur "Außenansicht" der Stadt aus dem Himmel überleitet, deutet diesen Glanz an, wenn er vom "kristallklaren Jaspis" und der "Edelstein"-Pracht spricht. Wird man schon hier an den faszinierenden Glanz eines Swarowsky-Studios erinnert, so gilt dies umso mehr für die Ausführungen der ausgelassenen Verse 15-21 (s. o.). Der Hinweis auf den "kristallklaren Jaspis" ist allerdings schon in sich spannend, denn der Jaspis ist eigentlich ein undurchsichtiger, oft farbiger (z. B. roter) Quarzstein. Was Johannes sieht, ist also reines "Gotteswerk", das für den Menschen überhaupt nicht herstellbar ist.
Die Verse 12-14 nennen die typischen Bauelemente einer Stadt: Mauer, Tore, Grundsteine; die beiden Letzteren - je zwölf an der Zahl - mit Beschriftungen versehen. Das Grundbild geht einmal mehr auf Ezechiel zurück, der in der oben genannten Tempelvision am Ende eine eher am Rande des Tempelgebiets liegende Stadt sieht mit drei Toren in jede Himmelsrichtung, so dass es für jeden der 12 Stämme Israels ein Tor gibt (Ezechiel 48,1-4). Dieses Ausgangsbild wird ergänzt um die zwölf Grundsteine. Der "Grundstein" an sich ist alttestamentlich verbunden sowohl mit dem Zion, also mit Jerusalem (vgl. Jes 28,16: "Siehe, ich lege in Zion einen Grundstein, einen harten und kostbaren Eckstein, ein fest gegründetes Fundament."), als auch mit dem dortigen Tempel (vgl. Haggai 2,18). Neu ist, dass es in Entsprechung zu den zwölf Toren auch zwölf Grundsteine gibt, die den zwölf Aposteln zugeordnet werden. Die Versammlung derer, die Gott am Ende um sich haben will, setzt sich also aus dem alttestamentlichen und dem neutestamentlichen Gottesvolk, aus Israel und der Kirche gleichermaßen zusammen. Hier spricht die Offenbarung eine noch deutlichere Sprache als Epheser 2,20: "Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Eckstein ist Christus Jesus selbst."
Verse 21-22: Das Innere der Stadt
Die beiden Abschlussverse der Lesung lenken den Blick auf das Innere der Stadt, sozusagen ihre Ausstattung: Vom "alten" Jerusalem her gedacht fehlt ihr das Entscheidende: der Tempel. Als Stadt "aus dem Himmel" fehlt ihr die klassische "Beleuchtung", die seit der Schöpfung vom Himmel her leuchtet: die Gestirne. Was an die Stelle von Tempel und Gestirnen tritt, darauf kommt es in dieser Lesung offensichtlich entscheidend an: Es ist Gott selbst und das "Lamm", also der in den Tod gegangene und auferweckte Christus. Um ihnen zu begegnen, bedarf es keiner Vermittlung mehr. Jegliche Form von Gebäudlichkeit, ob Tempel oder Kirche, hat sich erledigt. Es gibt nur noch ein direktes Sehen. Das Stichwort "Herrlichkeit" bildet dabei einen passenden Abschluss, wurde doch die Vision mit ihm in Vers 11a auch eröffnet.