Lesejahr C: 2021/2022

2. Lesung (Hebr 10,4-10)

4Unmöglich kann das Blut von Stieren und Böcken Sünden wegnehmen.

5Darum spricht er bei seinem Eintritt in die Welt: Schlacht- und Speiseopfer hast du nicht gefordert, / doch einen Leib hast du mir bereitet; /

6an Brand- und Sündopfern hast du kein Gefallen.

7Da sagte ich: Siehe, ich komme - / so steht es über mich in der Schriftrolle -, / um deinen Willen, Gott, zu tun.

8Zunächst sagt er: Schlacht- und Speiseopfer, Brand- und Sündopfer forderst du nicht, du hast daran kein Gefallen, obgleich sie doch nach dem Gesetz dargebracht werden;

9dann aber hat er gesagt: Siehe, ich komme, um deinen Willen zu tun. Er hebt das Erste auf, um das Zweite in Kraft zu setzen.

10Aufgrund dieses Willens sind wir durch die Hingabe des Leibes Jesu Christi geheiligt - ein für alle Mal.

Überblick

Zum Fest Verkündigung des Herrn, 9 Monate vor Weihnachten, erklingt in der Messfeier dieselbe Zweite Lesung wie am Vierten Advent. Sie ist lediglich um den vorangestellten Vers 4 erweitert.

Vieles an dieser Lesung befremdet: Nicht als Kind aus einem Mutterleib, sondern wie eine Gestalt, die aus dem Himmel herabkommt, kommt Jesus in die Welt. Dabei wird ihm zugleich ein Gespräch mit Gott Vater in den Mund gelegt. Und der Wortlaut dieses Gesprächs stammt aus einem Psalm. Eine regelrechte Inszenierung nimmt hier der Verfasser des Hebräerbriefs vor, mit der er seiner Gemeinde die Frage beantworten will: Wozu hat Gott seinen Sohn in die Welt gesandt?

 

Einordnung in den Brief

Der Brief an die Hebräer erinnert trotz seiner Bezeichnung nur in den letzten Versen mit seinen Segenswünschen und Grüßen (Hebr 13,20-25) an einen Brief. Im übrigen ist er sehr vielmehr ein großes Predigtschreiben, mit dem der unbekannte Autor seine sich aus Judenchristen  zusammensetzende Gemeinde im Glauben stärken, in Zeiten der Bedrängnis trösten und vor dem Auseinanderfallen bewahren will. Kennzeichen von Predigt, wie man sie aus der jüdischen Tradition kannte, waren sehr aufwändige Auslegungen einzelner Worte der Heiligen Schrift, die noch in der frühen Zeit der Christen nur das Alte bzw. ErsteTestament umfasste.

Genau hier ordnet sich nun auch die heutige Lesung ein, die im Grunde eine predigthafte Auslegung von Psalm 40,7-9 auf die Gestalt Jesu Christi hin ist. Sie gehört an das Ende einer viel größeren Predigeinheit, in der es um den Vergleich zwischen dem alttestamentlichen Hohepriester und dem Hohepriestertum Jesu selber geht (insgesamt Hebr 4,14 - 10,18). Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass im Opferkult des Alten Testaments der Hohepriester einmal jährlich Tieropfer für die Vergebung der Sünden des Volkes darbrachte. Jesus hingegen hat sich selbst, und zwar ein für allemal, am Kreuz für die Sünden der Menschen hingegeben,

Dennoch bleibt die Frage im Raum, wie sich denn nun die doch auf göttlichem Gebot beruhenden Opfer im Tempel und Jesus Christus, der mit seinem Wirken diese Opfer in Frage stellt, zueinander verhalten. Für Christen, die aus der jüdischen Tradition stammten, musste sie beantwortet werden, wenn man ihre Tradition nicht einfach missachten wollte. Dabei erleichtert es dem Verfasser des "Briefes" die Aufgabe,  dass zur Entstehungszeit des Schreibens (vielleicht 80 - 90 n. Chr.) der Tempel schon 15-20 Jahre zerstört gewesen sein dürfte. Es gab also schon keinen realen Tempel und keinen realen Hohepriester mehr. Der Autor kann sich allein auf die alttestamentlichen Aussagen zu diesen "Vor-Bildern" für Jesus beziehen.

 

Opfer brauchen Wiederholung (V 4)

Der einleitende Vers 4 der Lesung ist der Abschluss einer Argumentation, die in Hebräer 10,1 beginnt. Zusammengefasst lautet der Gedanke: Die Tatsache, dass der große jüdische Sühneritus jedes Jahr neu vollzogen werden muss - am sog. Jom Kippur, dem Versöhnungstag - zeigt bereits, dass Tieropfer als fester Bestandteil des Sühneritus keine dauerhafte Wirkung haben können. Sonst bräuchte es diese jährliche Wiederholung nicht. Der mitzudenkende Gegensatz: Der Tod Jesu am Kreuz ist "ein für alle Mal" (Vers 10) zur Vergebung der Sünden erfolgt. Er bedarf keiner Wiederholung. Ehe diese Schlussfolgerung gezogen wird, baut der Herbäerbrief eine Zwischenargumentation ein, die über ein Zitat aus dem alttestamentlichen Buch der Psalmen läuft. Dies entspricht ganz jüdischem Predigtstil, der dem Verfasser des Briefes ofensichtlich vertraut war, vielleicht auch von den angesprochenen judenchristlichen Gläubigen erwartet wurde.

 

Der "Predigttext": Verse 5-7

Wer Psalm 40,7-9 im Text der neuen Einheitsübersetzung nachliest, wird merken, dass es Unterschiede zum Zitat der Stelle im Hebräerbrief gibt. Dort steht: statt "einen Leib hast du mir gegeben": "... doch Ohren hast du mir gegraben". Abgesehen von dem schwierigen Bild des "Ohren graben" macht diie Abweichung deutlich: Der Hebräerbrief bezieht sich nicht auf die hebräische Fassung des Psalms, sondern auf die griechische Übersetzung aus den letzten vorchristlichen Jahrhunderten (die sog. Septuaginta). Genau diese Fassung bot dem griechisch schreibenden Hebräerbrief-Verfasser, den Psalm auf Jesus Christus zu beziehen. Es geht nicht mehr nur um einen Beter, der mit seinem Herzen auf Gott hört (deshalb die Rede von "Ohren"), entsprechend handelt und darin das eigentlich von Gott geforderte Opfer erkennt. Das Stichwort "Leib" der griechischen Fassung lässt den Autor des "Briefes" an die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus denken. Das Ich des Beters wird zur Stimme Christi, der in der Heiligen Schrift Israels ("Schriftrolle") eine Aussage über sich selbst liest.

 

Die Auslegung des Schrifttextes: Verse 8-9

Die "Predigt" zu Psalm 40,7-9 versucht zu erklären, warum die von Gott selbst eingesetzten Opfer von Jesus im Grunde aufgehoben werden. Dahinter steht eine ganz besondere Sichtweise auf Jesus Christus, die so im Neuen Tesament nur der Hebräerbrief vertritt. Er legt - anders als z. B. Paulus, der immer nur vom Kreuz spricht - einen Schwerpunkt auf die Gethsemane-Szene vor der Gefangenname Jesu durch die römsichen Soldaten, von der die Evangelien berichten. Erfüllt von Todesangst ringt Jesus darum, ja zu sagen zu dem grausamen Geschick, das ihn erwartet und das für ihn mit Gottes Willen zusammenhängt: "Vater wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen. .... Und er betete in seiner Angst noch inständiger und sein Schweiß war wie Blut, das auf die Erde tropfte" (Lukas 22,43-44). Diese Szene deutet der Hebräerbrief folgendermaßen:

"7 Er hat in den Tagen seines irdischen Lebens mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört worden aufgrund seiner Gottesfurcht.
8 Obwohl er der Sohn war, hat er durch das, was er gelitten hat, den Gehorsam gelernt;
9 zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden" (Hebr 5,7-9).
 

Das bedeutet: Alles Heil, letztlich der Zugang zum ewigen Leben der Menschen bei Gott trotz aller Sündhaftigkeit, hängt am Gehorsam Jesu gegenüber dem Vater. Das ist für den Hebräerbrief das eigentliche und wahre Opfer, das die alttestamentlichen Tieropfer nicht schlecht, aber nicht mehr notwendig macht. Und genau diesen Gehorsam erkennt der "Briefschreiber" in Ps 40 als Auftrag Gottes an Jesus, den dieser bereits mit seinem Kommen in die Welt auch annimmt: "Siehe, ich komme, um deinen Willen zu tun" (Ps 40,9/Hebr 10,9).

 

Der Predigt-Schlusssatz: V 10

Der letzte Vers der Sonntagslesung bündelt das bisher Gesagte. Die Eröffnung der Gemeinschaft mit Gott wird jetzt als "Heiligung" bezeichnet - ein Begriff, der ursprünglich die Annahme von Opfergaben durch Gott bezeichnet. Sie betont noch einmal: Was Jesus getan hat, bedarf keiner Widerholung, so wie die Opfer im Tempel der täglichen Wiederholung und die große Feier des Versöhnungsfestes unter der Leitung des Hohepriesters der jährlichen Wiederholung bedurften. Gehorsam und Kreuzestod Jesu "heiligen" ein für alle Mal.

Auslegung

Was tun mit solch schwerer theologischer Kost, wie sie die Lesung aus dem Hebräerbrief am Fest der Verkündigung des Herrn bietet?

Sie bewahrt davor, das sozusagen in der Vorschau (erscheinende Weihnachtsfest - es geht ja beim heutigen Fest um die Verkündigung der Geburt Jesu durch den Engel an Maria - zu sehr zur Idylle zu verklären und es bei einem reinen "Friede, Freude, Eierkuchen" zu belassen. Obwohl natürlich wirklicher Friede, ob in der Familie oder in der Welt, und wirkliche Freude, die das Herz höher schlagen lässt, schon sehr viel wären! Aber die Lesung will dennoch mehr. Sie bringt zwei Gedanken zusammen, die die frühe Kirche in einem Bild zusammenfasste. Man sagte gelegentlich: Krippe und Kreuz seien aus dem selben Holzstamm gehauen gewesen.Dabei spielt es keine Rolle, ob dies wirklich so war. Entscheidend ist der im Bildwort angezeigte innere Zusammenhang:

Der in einfachsten Verhältnissen zur Welt gekommene Gottesohn, der verbunden ist mit Vorstellungen wie Notunterkunft (Herbergssuche) sowie Berührung mit Menschen, die den Stallgeruch der Armseligkeit an sich tragen (Hirten), ist derselbe, dessen irdisches Leben am Kreuz endet. Der nicht bezeugte, aber anzunehmende Schrei des Babys im Stroh und der alles Leid der Welt in sich umfassende Schrei am Kreuz (vgl. Markus 15,37) gehören zusammen und lassen sich nicht voneinander trennen. Ja, der Hebräerbrief formuliert zuspitzend: Der letzte Schrei war Jesus  schon bei seinem ersten Schrei bewusst, nämlich "bei seinem Eintritt in die Welt" (Vers 5 der Lesung). Menschwerdung, Tod und Auferweckung sind ein großer Zusammenhang.

Dabei erinnert die Formulierung vom "Eintritt in die Welt" zugleich auch an die erwartete Wiederkunft Christi zum Gericht. Diese Hoffnung gehört zumindest auch zum Advent: Er meint auch die Erwartung des Gottessohnes am Zeitenende. Da sein irdisches Leben ganz im Zeichen des rettenden Handelns für die Menschen stand, dürfen wir auch darauf hoffen, dass der kommende Christus von derselben Grundhaltung bestimmt sein wird. Er wird einer jeden und  jeden erlösend entgegentreten, erstmals, wenn er sich ihr bzw. ihm im Tode zuwendet und Begegnung feiern möchte. Das Heil des Menschen ist der erklärte Wille Gottes, den zu tun der Lebensinhalt des Sohnes auf Erden war und in Ewigkeit bleibt.

Weihnachten darf die erlösungsbedürftige, notleidende Welt nicht ausblenden, sondern geschieht in sie hinein. In dieser Welt den Willen Gottes zu erkennen, ihn not-wendend anzunehmen und tätig zu werden, ganz nach dem Vorbild Jesu, dazu fordert der Hebräerbrief einst seine Gemeinde in Zeiten der Bedrängnis auf. Und dazu möchte er auch die einladen, die - mittlerweile zwei Jahrtausende später - diesen Brief hören oder lesen.

Kunst etc.

Die Hebräerbrief-Lesung bringt in ihrer eigenen Sprache und Vorstellungswelt das Kommen des Gottessohns in die Welt, also Weihnachten, und seinen "Gehorsam bis zum Tod" (vgl. Philipperbrief 2,8) zusammen. Genau diese Verbindung bringt mit Bezug auf die aktuellen Ereignisse der Kirche in Deutschland auch das folgende Gedicht zur Sprache:

 

Schmerzliche Weihnachten

 

Als ER beschloss die große Wende,

begab im SOHN sich in der Menschen Hände,

beschlossen sie alsbald, dass ER verschwände.

Herodes trachtete zuerst, wie er den Neugebor’nen fände.

 

Dann gab es andre, fromm oder loyal sich dünkende Verbände,

die schließlich, zu dem Preise einer Judas-Spende,

DEN, dem einst im Tempel und später auf dem Esel galt die Beifallsspende,

am Kreuze hängten – wahrscheinlich ohne Tüchlein um die Lende.

 

Weihnacht ist der Anfang nur von diesem Ende,

das allerdings gefolgt von einer neuen Wende:

des Todes Wandlung in das Leben – ein Leben ohne Ende.

 

Gott begibt sich immer noch in unsre Hände

-  mit jedem Menschen, dass er unsre Liebe fände.

Doch allzu oft, im Schutze stummer Wände,

entflammten furchtbare Gewaltenbrände,

zerstörten Kinderseelen; zurück blieb Golgotha-Gelände.

 

Ach, dass doch jene weihnachtliche Wende

 - dass Gott begibt sich in der Menschen Hände –

frei von allem Wort-Geblende

die IHM gemäße Antwort fände.

                                                                Gunther Fleischer

 

(Erstveröffentlichung: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Hildesheim, Köln und Osnabrück, 70 Jg./2018, S. 384)