Ein Brief bei Paulus fängt in der Regel anders an: mit Dank, Lob oder dem Aufbau guter Stimmung. Der unbekannte Verfasser des Epheserbriefs hingegen setzt ein mit einem gewaltigen Lobpreis Gottes - einer Art liturgischer Gesang (Eph 1,3-12). Damit beginnt der Epheserbrief mit genau dem, worin er die eigentliche Bestimmng des Menschen sieht, und zwar von allem Anfang an: dem Gotteslob. Es ist die angemessene Antworthaltung darauf, dass der Mensch ein "Beschenkter" ist (vgl. Vers 6).
Einordnung in den Zusammenhang
Das gesamte Gottteslob umfasst 12 Verse, die sich in eine Einleitung und drei Strophen aufteilen:
Vers 3: "Preisung" (wörtlich: "Segnung") Gottes, der "uns gesegnet hat"
Verse 4-6a: Erwählung zur "Heiligkeit", zur "Sohnschaft" und zum Lob der "geschenkten Gnade"
Verse 6b-7: Entfaltung der "Gnade": "Erlösung" bzw. "Sündenvergebung" durch Jesus Christus
Verse 8-10: Ausblick auf die kosmische "Zusammenfassung" von Allem in Christus
Verse 11-12: "unsere" Rolle in diesem Prozess: künftige "Erben", bereits jetzt zum "Lobpreis" bestimmt.
Ab Vers 13 wechselt der Brief in die direkte Anrede ("In ihm habt auch ihr das Wort der Wahrheit gehört"), so dass diese Verse bereits weniger Teil des Gotteslobes als seiner "Anwendung" auf die angesprochene Gemeinde ist. Was also im Blick auf die an Christus im Glaubenden ganz allgemein gilt (sie sind das "wir" in den Versen 3-12) gilt auch für die Gemeinde von Ephesus im Besonderen.
Diese Einbindung einer Einzelgemeinde in den Gesamtzusammenhang von Kirche, die sich zzt. des Epheserbriefs bereits aus Juden- und Heidenchristen zusammensetzt, da die Mission des Paulus und Anderer in den vielen nichtjüdischen Gebieten Kleinasiens, Griechenlands und Italiens schon ihre Wirkung getan hat, lässt die Gesamtabsicht des uns unbekannten Autors durchscheinen: die Stiftung von Einheit, die letztlich nur eine geistgewirkte sein kann (s. die Betonung des Geistes gleich zu Beginn in Vers 3).
Aus dem Gotteslob wurden für die Lesung die Einleitung (Vers 3) und die erste Strophe (Verse 4-6a) einschließlich der Überleitung zur zweiten Strophe (Vers 6b) herausgenommen sowie die vierte Strophe (Verse 11-12). In ihnen geht es um die Erwählung des Menschen von Gott her. Diese Versauswahl rund um das Stichwort "Erwählung" (vgl. bereits Vers 4) erklärt sich aus dem Fest des Tages, an dem die Erwählung Marias im Mittelpunkt steht. Ausgelassen sind die zweite und dritte Strophe (Verse 7 und 8-10), in denen es um die "Erlösung durch Christus" und Christus als "Ziel" aller Weltgeschichte geht. Auch die pastorale Anwendung auf die Gemeinde (Verse 13-14) eignet sich weniger für den Blick auf MAria. Sie ordnet sich ein in das Geheimnis der grundsätzlichen Erwählung Gottes, die allen gilt.
Vers 3: Ein Gottes-Lied
Auffallend ist die gemeinsame Nennung von "Vater", "Sohn" und "Heilgem Geist". Damit erweist sich dieser markante Beginn des Gottesliedes wie übrigens der gesamte Epheserbrief, der mehrfach vergleichbar formuliert, als ein entscheidender Wegbereiter der Rede vom dreifaltigen Gott (vgl. z. B. noch Epheser 5,18-20: "18 ... sondern lasst euch vom Geist erfüllen! ... 20 Sagt Gott, dem Vater, jederzeit Dank für alles im Namen unseres Herrn Jesus Christus!"). Der Glaube an den dreifaltigen Gott findet seine endgültige Ausformulierung ja erst in deutlich nach-neutestamentlicher Zeit, besonders in den Glaubensbekenntnissen von Nicaea (325 n. Chr.) und Konstantinopel (381 n. Chr.). In Form des sog. Apostolischen Glaubensbekenntnisses erklingt das, was der Epheserbrief eher noch andeutet, aus dem Mund der Gläubigen in jeder Sonntagsmesse: "Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, ... Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, ... Ich glaube an den Heiligen Geist ...".
Vers 4: "immer schon"
Hinter allen Formulierungen der ersten Strophe des Lobpreises muss man sich wie als "Hintergrundstrahlung" die Worte "i m m e r s c h o n" vorstellen (wörtlich heißt es: "vor der Grundlegung der Welt"). Es gibt keine vorstellbare Zeit in Gott - auch wenn für Gott jeder Zeitbegriff versagt -, in der nicht "immer schon" Jesus zugegen war. Seine Existenz hängt nicht an der irdischen Existenz. Und insofern der Sohn "immer schon" als der ganz auf seine Menschwerdung und seine Todesüberwindung (Auferweckung) hin "gedachte" beim Vater war, war das ewige Heil eines jeden menschlichen Lebens bei Gott "schon immer" beschlossene Sache. Auf diesem Hintergrund hat die Schlussformulierung "damit wir heilig und untadelig leben vor ihm" eine doppelte Bedeutung: Sie beschreibt die Folge des in Jesus Christus beschlossenen Heils für die Menschen als Zusage (in Jesus hat uns Gott in einen Zustand des "heiligen" [d. h. gottnahen] und "untadeligen" [d. h. nicht etwa eines durch irgendeine Unreinheit von Gott getrennten] Lebens versetzt) wie auch als moralische Aufforderung, diesem Zustand tatsächlich im Handeln zu entsprechen ("Nun lebt auch heilig und untadelig!"). Genau diese beiden Teile - Zusage und Mahnung - prägen den Aufbau des ganzen Epheserbriefs: Kapitel 1-3 belehren über das, was gilt, Kapitel 4-6 mahnen zu einem entsprechenden ethischen Handeln.
Für das heutige Fest bedeutet das: Maria hat ganz und gar aus dieser Erwählungszusage Gottes gelebt und sich durch nichts von ihr abbringen und herausbringen lassen.
Vers 5: "Sohn" - oder: Beziehung ist alles
Die "Erwählung in Christus" (Vers 4) wird verstärkt durch die Formulierung: "seine Söhne zu werden durch Jesus Christus". Hier wird deutlich: Am Anfang steht nicht die Moral, sondern der tiefe Wunsch nach Beziehung. Die Beziehung Vater - Sohn ist keine exklusive, sondern zielt darauf, alle Menschen in diese Beziehung mit hineinzunehmen. "Sohn" bezieht sich nicht auf das Geschlecht, sondern auf den Stand: geliebt und mit allen Rechten ausgestattet. Da Töchter in damaliger Zeit weniger galten, werden zum Ausdruck der Gleich- und Hochrangigkeit Aller auch die Frauen "Sohn" genannt. Auch für sie gilt "Sohnesrecht".
Vers 6: "Herrlich"!
Das Stichwort "Herrlichkeit" (es verbindet Vers 6 "herrliche Gnade" mit Vers 12: "Lob seiner Herrlichkeit"), hat es vom Hebräischen her und dann auch im Griechischen mit "Strahlglanz" und "Bedeutsamkeit" zu tun, mit dem "Respekt, dessen jemand würdig ist". All dies verleiht Gott dem Menschen, in dem er in Christus immer schon das Menschsein in seinem Heilsplan "vorausgedacht" hat - um es mit menschlicher Bildsprache auszudrücken.
Verse 11-12: "Lob seiner Herrlichkeit"
Mit Vers 11 und dem Wörtchen "wir" lenkt der Gotteshymnus den Blick von Jesus Christus zurück zur konkreten Gegenwart. Denn dieses "wir" meint die Briefadressaten als das konkrete Gegenüber des Autors wie auch die Menschen seines "kairós", seiner Epoche insgesamt. Allesind Teil des großen Heilsplans Gottes. Neutestamentlich betrachtet dauert diese "Epoche" immer noch an und wird zusammengefasst im dem alles überwolbenden Begriff der Kirche. Dabei meint "Kirche" weder ein Gebäude noch nur eine bestimmte Konfession, auch nicht eine Institution, sondern die durch die Zeiten sich auf ihr Haupt zubewegende Gemeinschaft derer, die diesem Heilsplan Gottes trauen und sich auf ihn einlassen. Die menschliche Reaktion auf die Erkenntnis solcher Aussichten, zu denen der Mensch also von Gott her bestimmt ist, kann nur das Lob dieses Gottes sein. Dieses Lob schließt das Gebet ebenso ein wie die alltägliche Lebensgestaltung. Denn das Lob Gottes geschieht auch dadurch, dass "wir heilig und untadelig leben vor ihm" (Vers 4b).
Vers 12b ("die wir schon früher in Christus gehofft haben") scheint vorauszusetzen, dass die Hoffnung, die ihren Grund einzig in Jesus Christus hat, schon in irgendeiner Weise in den Menschen angelegt war, ehe sie sich zum christlichen Glauben bekehrten. Dies wäre dann ein Ausdruck des "Vorherbestimmtseins" durch Gott.