Nicht nur aller Anfang ist schwer, wie das Sprichwort sagt. Viel schwerer kann es sein, am gelungenen Anfang festzuhalten und nicht irgendwann die Lust zu verlieren oder aufzugeben. Dies scheint die Gefahr der als "Hebräer" bezeichneten Gemeinden zu sein, an die der weder nach Adressaten noch nach Autor sicher "dingfest" zu machende Brief sich wendet.
Einordnung der Lesung in den Kontext
Grob zwischen 60 und 100 n. Chr. einzuordnen, spricht immer noch Vieles für eine Einordnung des Hebräerbriefs um das Jahr 90 n. Chr., die Zeit der Bedrängung der Christen unter Kaiser Domitian. Genau diese Bedrohung sorgt in den vermutlich stark judenchristlich geprägten Gemeinden, die vielleicht in der Umgebung Roms zu suchen sind, für Glaubensmüdigkeit und Glaubensanfechtung. Die anfängliche Stärke, Freude und Zuversicht, die Hebräer 10,32-39 anspricht, sind gefährdet oder verschwunden. Gerade deshalb gilt es, Mut zu machen und zu stärken.
Diese Glaubensermutigung beginnt mit der Erinnerung an die starken Anfänge in Hebräer 10,23-39, um sodann nach weiteren Gründen Ausschau zu halten, im Glauben nicht zu erlahmen. Das zweimal, in Vers 38 und 39 ausrücklich gesetzte Stichwort "Glaube" wird dazu aufgegriffen und in Hebräer 11,1, dem Beginn der Lesung, definiert.
Vers 2 lenkt dann den Blick auf die "Alten". Gemeint ist "die Wolke der Zeugen" des Glaubens (so zusammenfassend Hebräer 12,1), von denen das Alte Testament berichtet. Von Abel angefangen (Vers 4), den sein Bruder Kain tötete (Genesis 4), wird eine "unendliche" Liste von Männern und Frauen in Kapitel 11 zusammengestellt, aus der die Lesung eine Auswahl bildet. Kapitel 12 wird den Blick aus der Vergangenheit auf die Adressatengemeinde des Briefes zurücklenken, die zuletzt in Kapitel 10 angesprochen worden war.
Vers 1: Was ist Glaube?
Um Übersetzung und Verständnis dieses Verses wird gerungen. Für das erste Kernwort "Grundlage" (griechisch hypóstasis) wird z. B. auch vorgeschlagen: "Verwirklichung" oder "standhaftes Beharren" bzw. "Festhalten". In die letzte Richtung ging auch die alte Einheitsübersetzung von 1980: "Glaube aber ist: Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht." Nicht zufällig wurde diese Wiedergabe mit der Einheitsübersetzung von 2016 aufgegeben. Denn der Hebräerbrief frönt nicht einem Subjektivismus, bei dem es um die Gefühle und die Intensität des Glaubens beim Einzelnen geht. Vieles spricht dafür, dass Hebräer 11,1 sagen will: Glaube ist die "Wirklichkeitsgrundlage" (Klaus Berger) bzw. "tragende Wirklichkeit" (Knut Backhaus) des Erhofften und Beweis für Dinge, die man nicht sieht. Glaube ist keine Meinung, sondern eine Kraft. Interessanter- wie überraschenderweise spricht der Hebräerbrief auch nirgends von einem "Glauben an jemanden oder etwas". Im Gegenteil, anders als Paulus bevorzugt er gegenüber dem Verb "glauben" das Hauptwort "Glaube". Allein das elfte Kapitel, aus dem die Lesung genommen ist, gebraucht 21mal die Formel "Aufgrund d(ies)es Glaubens ..." (erstmals in Vers 2). Er ist eine im Menschen wirksame und ihn zum Widerstand gegen die Welt befähigende Kraft und Wirklichkeit, die auf Vollendung "im Himmel" (Hebräer 8,1; 12,23) ausgerichtet ist. Denn das ist mit den Umschreibungen "was man hofft" und "Dinge, die man nicht sieht" gemeint: das ewige Leben, das im Himmel bereit gehaltene "Erbe" (Hebräer 9,15: "das verheißene ewige Erbe"), das "himmlische Jerusalem" (Hebräer 12,22). Den Weg dorthin hat nach dem festen Glauben des Hebräerbriefes Christus eröffnet durch seinen ein für allemal Sünden vergebenden Tod am Kreuz. Damit ist er "Anführer des Glaubens" (zur entsprechenden Übersetzung von Hebräer 12,2 s. die Kommentierung am kommenden 19. Sonntag). Er ist weniger Gegenstand des Glaubens, als dass er sich an die Spitze des langen Zuges der Glaubenden stellt, der eben mit Abel (s. o.) beginnt.
Dieser Glaube als Kraft ist zugleich so etwas wie der "Beweis" für die Wirklichkeit all dessen, was die Glaubenden erhoffen, denn es ist eine Kraft, die sich in ihrem Widerstand gegen die Welt (Thema Christenverfolgung) eben nicht aus der Welt selbst ableiten lässt. In der Diskussion um die Übersetzung des griechischen Wortes "élenchos" hat sich die Einheitsübersetzung für "das Zutagetreten" entschieden. Es geht um das Offenliegende und damit Beweiskräftige.
Vers 2: Ein zeitumspannender Glaube
Vers 2 betont noch einmal, dass der Hebräerbrief unter "Glaube" nicht den Glauben an Jesus Christus versteht, obwohl über ihn im Bild des Hohepriesters kapitellang (Hebräer 4,14 - 10,18) belehrt wird. Denn die ganzen alttestamentlichen Personen, die im Folgenden genannt werden, waren zwar erfüllt von Glauben, wussten aber von Jesus nichts. Es ist ein Erfülltsein von der Schöpferkraft Gottes, die die "Alten" beseelt hat und die deshalb als Glaubenszeugen gelten können. Gerade im 11. Kapitel zeigt sich, dass der Hebräerbrief es ernst meint mit seiner Einleitung, in der er festhält, dass es ein und derselbe Gott ist, der zu den Vätern gesprochen hat, zuletzt aber in Jesus Christus (vgl. Hebräer 1,1-3).
Verse 8-12: Zwei Beispiele aus dem Leben Abrahams
Es ist schon eine Besonderheit, dass der Verfasser des Hebräerbriefs seine Liste der Glaubenszeugen mit Abel beginnen lässt (vgl. den ausgelassenen Vers 4: "Aufgrund des Glaubens brachte Abel Gott ein besseres Opfer dar als Kain; durch diesen Glauben erhielt er das Zeugnis, dass er gerecht war, was Gott durch die Annahme seiner Opfergaben bezeugte; und durch den Glauben redet Abel noch, obwohl er tot ist".) Dennoch kommt er natürlich nicht an Abraham als "Vater des Glaubens" (vgl. dazu Römer, 4,11-12) vorbei. Dieser Glaube, verstanden als eine tief verwurzelte Kraft, die auf Unsichtbares hin und auf ein "lediglich" in Aussicht gestelltes Verheißungsgut hin tätig werden lässt, wird mit zwei Motiven der Abrahamserzählung verbunden:
1. mit seinem Aufbruch aus vertrautem Terrain in ein unbekanntes, verheißenes Land (Verse 8-10; vgl. als Vorlage: Genesis 12,1-9, abedruckt unter "Kontext");
2. mit dem Mut, als alter und - nach damaliger Vorstellung - eigentlich nicht mehr zeugungsfähiger Mann zusammen mit einer ebenfalls aufgrund ihres Alters als unfruchtbar geltenden Frau sich um Nachkommenschaft zu mühen (vgl. Verse 10-12; das Drama bis zur Geburt des Isaak wird in Genesis 12,10 - 21,8 entfaltet; auch hierzu finden sich Texte unter Rubrik "Kontext").
Der Bezug zu den Gemeinden des Hebräerbriefes ist folgender: So wie Abraham allein auf Gottes Wort hin die Zukunft in Angriff nimmt, noch ohne irgendeinen vorliegenden Beweis, sondern nur mit dem Versprechen der beiden künftigen Heilsgüter Land und Nachkommenschaft, so soll auch die christliche Gemeinde ihre Zukunft glaubend in die Hand nehmen im Vertrauen, dass auch für sie ein Heilsgut bereit liegt: die himmlische Gemeinschaft mit Gott. Begrifflich schlägt der Hebräerbrief die Brücke dadurch, dass er beide "Heilsgüter" - die, die Abraham und Sara zu erwarten haben und die, die die Glaubenden erwarten dürfen - "Erbe" nennt. Deshalb heißt es in Vers 8 zumindest im Blick auf das verheißene Land:
" ... wegzuziehen in ein Land, das er zum Erbe erhalten sollte".
Denn hier wird zurückverwiesen auf Hebräer 9,15, wo es im Blick auf die Glaubenden (das sind die zusammen mit Abraham "Berufenen") heißt:
"... sein [Christi] Tod hat die Erlösung von den im ersten Bund begangenen Übertretungen bewirkt, damit die Berufenen das verheißene ewige Erbe erhalten."
Verse 13-16: Eine Zwischenbetrachtung
Verse 13-16 unterbrechen die Auflistung der Beispiele aus dem Leben Abrahams zugunsten einer Grundsatzbetrachtung. Dabei setzt "diese alle" (Vers 13: "Im Glauben sind diese alle gestorben und haben die Verheißungen nicht erlangt.") die in den ausgelassenen Versen 3-7 genannten Abel, Henoch und Noach ebenso voraus wie den Vers 9 neben Abraham und Sara bereits genannten Isaak (Kind) und Jakob (zweitgeborener Enkel, der sich das Erstgeburtrecht erschlichen hat). Sie alle sind darin miteinander verbunden, das Heilsgut des verheißenen Landes nicht gesehen zu haben, weil sie vorher gestorben sind. Dieser Gedanke überrascht zunächst einmal, denn von Abraham und Isaak zum Beispiel wird in der Bibel vom Aufenthalt im verheißenen Land erzählt. Doch der Autor des Hebräerbreifs interpretiert mit Hilfe der Selbstbezeichnung Abrahams als "Fremder und Gast" (Vers 13), die er aus Genesis 23,4 übernimmt ("Fremder und Beisasse bin ich unter euch."), die Glaubensgeschichten der "Alten" (Vers 2) so, dass sie sich über die Erfüllung der irdischen Verheißungsgüter hinaus "nach einer besseren Heimat, nämlich der himmlischen" sehnten (Vers 16). "Fremder und Gast" meint also nicht einen national denkenden "Asylstatus", sondern der Hebräerbrief bezieht ihn grundsätzlich auf das Erdendasein. Deshalb wurde schon Vers 9 programmatisch festgehalten: "Aufgrund des Glaubens siedelte er [Abraham] im verheißenen Land wie in der Fremde". Und auf diesem Hintergrund wird das vorläufige Hausen "in Zelten" der engültigen himmlischen, von Gott selbst errichteten "Stadt" [Jerusalem] gegenübergestellt (Verse 9-10).
Beides, die Zukunft in Angriff zu nehmen allein auf Gottes Wort hin, ohne schon irgendetwas vom Verheißungsgut sehen zu können (Land, Nachkommenschaft, himmlisches Jerusalem), als auch das Erfülltsein von einer tiefen Sehnsucht nach der himmlischen Zukunft, verbindet die Glaubenszeugen mit den Christen, an die der Hebräerbrief sich wendet. Auch sie sollen trotz aller Bedrängnisse die Zukunft in Angriff nehmen und zugleich von dieser Sehnsucht auf die himmlische Heimat erfüllt sein. Und dabei sollten sie ebensowenig an den Verführungen dieser Welt hängen wie die "Alten" an ihrer früheren, aufgegebenen Heimat gehangen oder ihr gar hinterhergetrauert haben.
Verse17-19: Ein drittes Beispiel aus Abrahams Leben
Verse 17-19 bringen nach der Zwischenbetrachtung ein drittes Beispiel aus dem Leben Abrahams für dessen unerschütterlichen Glauben. Er gab ihm sogar die Kraft, den eigentlichen Verheißungsträger, Isaak, "hinzugeben" (Vers 17 verwendet zweimal das griechische Wort "prosphéro "darbringen"). Es ist bedeutsam, dass der Hebräerbrief an dieser Stelle weder von der "Opferung" Isaaks spricht (auch das Judentum spricht stattdessen von der 'aqedāh - der "Bindung/Fesselung" Isaaks) noch die genaueren Umstände der biblischen Erzählung Genesis 22 wiedergibt. Dem Hebräerbrief geht es einzig und allein um das Vertrauen Abrahams in die Kraft Gottes, die auch Tote zu erwecken vermag - also um viel mehr als blinden Gehorsam. Und in diesem Glauben ist Abraham von Gott bestätigt worden, indem er Isaak zurückerhalten hat. Das eigentliche Opfer wurde ein Widder, der sich fand (vgl. Genesis 22,13). Aufgrund dieses Glaubens und seiner Bestätigung von Gott her kann das von Abrahams Glaube getragene Geschehen zu einem Sinnbild und Ansporn für die in Bedrängnis und Konflikt mit Rom lebenden Christen werden, im Glauben an die auferweckende Kraft Gottes unterwegs zu sein und notfalls das irdische Leben "hinzugeben", wo der Glaube diese Hingabe verlangt. Dann geht es allerdings nicht mehr um die Bewahrung vor dem Tod, sondern um die Bewahrung im Tode. Das Vertrauen in Gott aber bleibt dasselbe.