Lesejahr C: 2021/2022

2. Lesung (Gal 3,26-29)

26Denn alle seid ihr durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus.

27Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.

28Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.

29Wenn ihr aber Christus gehört, dann seid ihr Abrahams Nachkommen, Erben gemäß der Verheißung.

Überblick

Stärkung des Selbstbewusstseins von Menschen, die sich haben taufen lassen, und zugleich das Idealbild einer Kontrastgesellschaft, die nicht nach Geschlecht, Nation oder sozialem Status ihre Ehren verteilt - darum geht es Paulus in dieser kurzen Passage aus dem Galaterbrief. 

 

Kurze Einführung in den Galaterbrief

Die Zweiten Lesungen des 12. bis 14. Sonntag im Jahreskreis sind dem Galaterbrief entnommen. Daher sei kurz in dieses Schreiben des Paulus eingeführt. (Wem diese Einführung zu lang ist, kann direkt zu Vers 26 weiter scrollen.)

 

Die Situation in Galatien

Der Galaterbrief reagiert auf eine konkrete Situation:

Im Missionsgebiet des Paulus in der Gegend um das heutige Ankara - Galatien - versuchen andere christliche Missionare, die sich ein Christusbekenntnis nur unter striktester Einhaltung der jüdischen Vorschriften zu Reinheit, Kalenderfragen und besonders der Beschneidung vorstellen können, massiv ihre Sicht durchzusetzen. Sie stiften damit Unsicherheit in den Gemeinden des Paulus, der ein Christentum ohne Verpflichtung auf das jüdische Gesetz verkündet hatte. Paulus sieht daher sein Werk in Gefahr und versucht,  - zum Teil mit groben Polemiken gegen die radikalen judenchristlichen Missionare - für sein Evangelium zu werben, das allein auf der Botschaft von Tod und Auferweckung Jesu Christi gründet.

Paulus konnte also einerseits für Menschen nicht-jüdischer Herkunft ("Heiden")  ganz vom Judentum absehen, was ihm Ärger mit anders denkenden, "konservativen" Judenchristen einbrachte. Andererseits war er selbst jüdischer Herkunft, besaß eine  Ausbildung als Rabbiner (jüdischer theologischer Lehrer)  und hat für sich selbst auch als Christ keineswegs seine jüdische Verwurzelung aufgegeben.. Das macht ihn zum idealen Mittler zwischen den Welten des Judentums und des nicht-jüdischen römischen Reiches.

 

Die Theologie des Galaterbriefes und der nähere Kontext der Lesung

Von dieser Vermittlungsarbeit zeugt u. a. das 3. Kapitel des Galaterbriefes, in dem sich Paulus mit der Rolle des jüdischen Gesetzes, also den von Gott an Mose  während der Flucht aus Ägypten auf dem Sinai offenbarten Vorschriften, auseinandersetzt. Dieses Gesetz - hebräisch: Tora ("Weisung") - ist der Stein des Anstoßes im Streit zwischen Paulus und seinen missionarischen Gegnern in Galatien. Wenn Paulus auch die neu für das Christentum gewonnenen Galater nicht auf die Tora verpflichtet hat, ist sein Argument nicht, das Gesetz sei schlecht. Damit würde er die gesamte Heilige Schrift des Judentums und seine eigene Herkunft leugnen bzw. in Frage stellen. Ja, er würde Gott selbst in Frage stellen, der durch Mose und die Propheten gesprochen hat. Es ist aber für Paulus genau dieser selbe und eine Gott, der auch durch Jesus Christus gesprochen hat und in ihm wirksam war.

Deshalb schreibt Paulus der jüdischen Tora - näherhin dem Teil der Tora mit den Vorschriften bezüglich Reinheit und Opferkult, Kalender und Beschneidung , nicht den bleibend gültigen ethischen Weisungen zum liebenden und geschwisterlichen Miteinander sowie zur Gottesliebe - eine an sich gute, aber vorläufige, erzieherische Funktion zu (s. dazu die Rubrik "Kunst etc." im Rahmen der Auslegung der Zweiten Lesung zum 1. Januar). Sie wird abgelöst durch Jesus Christus. Vereinfacht gesagt: Während das Gesetz den Menschen ständig auf die möglichen Übertretungen hinweist und für selbige auch Strafen kennt, stehen Tod und Auferstehung Jesu dafür, dass Gott dem Menschen grundsätzlich als vergebender begegnet. Während das Gesetz den Menschen eher in seiner Schwachheit zeigt und zugleich unter Leistungsdruck stellt, Übertretungen zu vermeiden, besagt der Glaube an Jesus Christus: Von Gott her ist schon alles getan, was zu einem ungestörten Verhältnis mit ihm nötig ist. An die Stelle der Leistung tritt der Glaube, diesem Gott vertrauen zu können. 

Die Folge dieser Einsicht, die Paulus selbst in seinem Leben als göttliche Offenbarung gewonnen hat, wie er selber sagt (Galater 1,15-16), ist gewaltig: Während die Tora ja nur für das Judentum Gültigkeit hat, ist der Glaube an Jesus prinzipiell jeder und jedem möglich. Genau dieser Gedanke, der den Abschluss des 3. Kapitels im Galaterbrief bildet,  ist der zentrale Gedanke in der Zweiten Lesung vom 12. Sonntag. 

 

Vers 26: Stärkung des Selbstbewusstseins

Sicher ist es für Paulus ein Problem, nicht vor Ort zu sein, sondern sich aus der Ferne nur brieflich an seine galatischen Mitschwestern und-brüder wenden zu müssen. Vers 26 ist ein Satz, mit dem er sie trotz der räumlichen Entfernung zu packen versucht. Er spricht sie, die Tendenzen haben, sich wieder den einengenden jüdischen Vorschriften zu unterwerfen, auf ihren durch die Taufe erworbenen Stand an. Er will Selbstbewusstsein und das Wissen um die Freiheit und Größe, die aus dem Glauben an Jesus kommen, stärken. Diesen Glauben haben sie in ihrem Ja zur (Erwachsenen-)Taufe bekundet. Sie dürfen sich "Söhne Gottes" nennen - nein, sie sind es. Die Bezeichnung hat nichts mit der Geschlechterverteilung in den Gemeinden zu tun, sondern ist vorausgreifend  gewählt auf das Zielwort am Schluss der Lesung: "Erben gemäß der Verheißung" (Vers 29). (Zum an dieser Stelle nicht weiter ausgeführten Zusammenhang mit der "Verheißung an Abraham" s. die Ausführungen zu "Gerecht gemacht aus Glauben" innerhalb des "Überblicks" zur Zweiten Lesung am Dreifaltigkeitssonntag/16. Juni 2019).

 

Vers 29: Alle sind "Söhne Gottes"

Im damaligen Recht erbten Töchter entweder gar nicht oder sehr viel weniger als Söhne. Diese Unterscheidung gilt im Blick auf das, was Christinnen und Christen erhoffen, nicht. Im Glauben sind alle gleichermaßen "Vollerben", unabhängig von Geschlecht, Nation oder sozialem Status. "Sohn" ist also im Sinne des "Vollerben" zu verstehen. Der Himmel kennt keine Hierarchie. Diese Aufhebung aller menschlich gesetzten Unterscheidungen  macht Paulus deutlich, indem er kurzerhand alle, Frauen wie Männer, zu "Söhnen" erklärt (zur Formulierung "männlich und weiblich" s. die Rubrik "Auslegung"). Diese "Sohnschaft" nimmt Maß an "dem Sohn" schlechthin: am Gottessohn Jesu Christus.  Der Rückbezug auf ihn, der Glaube an ihn und das Bemühen, seine Liebe im Leben nachzuahmen, eint alle. Das gilt erst recht für das, was alle als "Erbe" erwarten dürfen: ewiges Leben, also eine auch im biologischen Tod nicht endende Lebens- und Liebesgemeinschaft mit Gott und denen, die schon bei Gott sind.

 

Vers 28: "Nicht  Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich"

Diese aus dem Glauben behauptete und im Leben zu verwirklichende grundsätzliche Gleichheit, die aus der Einheit Gottes erwächst und auf die Einheit im Leben der Gemeinden zielt, bedeutete bereits innerhalb des römischen Reiches eine Unterwanderung der nach Ständen sortierten Gesellschaft. Sie hat aber die Kraft zur Unterwanderung gesellschaftlich festschreibender Standeszuweisungen, die immer mit Bevorzugung und Benachteiligung arbeiten, bis heute nicht verloren. Nicht zufällig waren die Christen den Römern ein Dorn im Auge.

 

Vers 27: Das Bild vom Kleid

Neben der Rede vom "Sohn" ist ein weiteres Bild für die grundsätzliche Gleichheit aller Getauften das "Kleid". Denn hinter der Formulierung "Christus anziehen" verbirgt sich eine Anspielung auf das Taufkleid, das Mann und Frau, Arm und Reich miteinander unterschiedslos verbindet (zur weiteren Betrachtung der Formulierung s. die Rubrik "Kunst etc.").

Auslegung

"Es gibt nicht mehr ... mannlich und weiblich" (Vers 28)

 

In diesem Vers steckt eine revolutionäre Kraft.

 

Die Wortwahl ist ungewöhnlkich. Tatsächlich las man früher an dieser Stelle in der Einheitsübersetzung (von 1980), dass es nicht mehr "Mann und Frau" gebe. So selbstverständlich diese Lesart auch war, so traf sie doch nicht den entscheidenden Punkt. Denn natürlich gibt es vor wie nach Christus und vor wie nach der Taufe "Frau" und "Mann". Die heutige Diskussion um weitere Geschlechter kennt die Heilige Schrift noch nicht, muss aber gerade bei der Betrachtung von Gal 3,28 nicht ausgeklammert werden, wie gleich zu sehen ist.

Der griechische Text des Paulusbriefs ist eindeutig und verwendet die Adjektive "männlich" (griechisch: ársen) und "weiblich" (griechisch: thēly). Damit zitiert Paulus den Schöpfungsbericht aus dem ersten Buch der Bibel (Genesis). Denn laut hebräischem Text heißt es auch dort bereits:

"Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich (hebräisch: sākár unekābāh) erschuf er sie" (Genesis 1,27).

Natürlich hieß es auch hier in den meisten bisherigen Übersetzungen: "Als Mann und Frau erschuf er sie". Doch anders als in dem älteren Schöpfungsbericht Genesis 2,4b-25, wo die Menschenerschaffung als Erschaffung zweier Individuen erzählt wird (vgl. besonders Vers 22: "Gott, der HERR, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu." ), formuliert Genesis 1 grundsätzlicher. Dieser Schöpfungsbericht hat die Gattung des Menschen im Blick und damit zugleich die Tatsache, dass er - aus Sicht der Entstehungszeit des Textes - nur als geschlechtliches Wesen vorkommt, und zwar männlich oder weiblich. (Wesentlich weiter formuliert erst ein alttestamentlicher Text aus dem 1. Jahrhundert v. Chr.: "Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen" [Weisheit 11,24]). Dass dieser geschlechtlichen Aufteilung zugleich auch relativ feste Rollenzuweisungen in der Gesellschaft entsprechen, ist - auch wenn es Ausnahmen gibt - biblisch deutlich erkennbar.

Spannend ist nun, dass Paulus gerade diese soziale Rollenzuweisung, die von der Schöpfungstheologie her in Stein gemeißelt zu sein scheint, durch die Tauftheologie aufbricht: Wichtiger als alle männlichen und weiblichen Rollenmuster - und hier könnte man nun auch noch heutzutage diejenigen hinzufügen, die sich in den beiden Zuordnungen nicht wiederfinden - ist die Bindung an diesen Jesus Christus - Mensch und Gottessohn gleichermaßen, Gekreuzigter und Auferweckter. Wenn alles Entscheidende - die Maßgaben für die Lebensprais und vor allem die endgültige Zukunft des eigenen Lebens - von ihm erwartet wird, führt dies zu einer so fundamentalen Gleichheit, dass auf- bzw. sehr oft abwertende Rollenzuweisungen ("gender") zumindest unter Christen keine Rolle mehr spielen dürften. Prinzipielle Gleichrangigkeit Aller und eine tief gefühlte Einheit sind das Ideal, das Paulus von Christus her vorschwebt. Dass die Realität oft anders aussieht, nimmt der Kirche ihre missionarische Kraft. Die von Paulus her geforderte Aufgabe, Kontrastgesellschaft zu sein, bleibt bestehen und eine Herausforderung.

Kunst etc.

Taufkleid der Gnade, Adolf Wagner von der Mühl (1938), Pfarrkirche Wien-Floridsdorf, Creative Commons Attribution 4.0 International
Taufkleid der Gnade, Adolf Wagner von der Mühl (1938), Pfarrkirche Wien-Floridsdorf, Creative Commons Attribution 4.0 International

"Christus anziehen" (Vers 27)

Bekleidungsbilder sind in der Bibel keineswegs selten. So geht z. B. das Kirchenlied "Zieh an die Macht, du Arm des Herrn" (im alten Gotteslob von 1975 Nr. 304, im Neuen Gotteslob nur in einigen diözesanen Anhängen) auf einen Jesaja-Text zurück: Die Bitte, Gott möge machtvoll eingeifen und helfen, wird in das Bild des Einsteigens in den Ärmel eines Rocks "gekleidet" (Jesaja 51,9: "Wach auf, wach auf, bekleide dich mit Macht, Arm des HERRN!") .

Als Taufbild ist die Rede vom "Anziehen" im Neuen Testament neben Galater 3,27 noch zweimal belegt:

Kolosser 3,9b-10:

"... ihr habt den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt 10 und habt den neuen Menschen angezogen, der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert wird, um ihn zu erkennen.

Epheser 4,24:

"Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit!"

Man kann den Eindruck gewinnen, dass gerade diese beiden Verse aus dem Kolosser- und Epheserbrief einen alten Tauftext der frühen Kirche zitieren, den auch Paulus gekannt haben mag und für seine Argumentation umwandelt: Der Wandel vom alten, allein seinen inneren Trieben und Vorstellungen folgenden Menschen (dafür stehen biblisch "Adam und Eva", die sein wollen wie Gott)  zum neuen, sich an Jesus Christus orientierenden und auf Gottes Geist setzenden Menschen bringt er in die Kurzform: "Christus anziehen". 

Das Bild des "Anziehens" meint, wie bereits im Jesajatext, nicht etwas Äußerliches und hat nichts mit Schein zu tun. Paulus ist zutiefst überzeugt, dass die Entscheidung für die Taufe - er hat nur Erwachsene im Blick -  einen existentiellen Wandel bedeutet. Der Mensch, der sich immer einem "Herrn" zuordnet (egal, ob ein "Jemand" Entscheidungen im Letzten mitbestimmt oder eine "Idee" wie Machttrieb, Sexualität, Besitz, Angst usw.), entscheidet sich in der Taufe dafür, dass Gott das Sagen haben soll. Zugleich vertraut er darauf, dass dieser Gott, der sich in Jesus gezeigt hat, auch die notwendigen Kräfte, in der Taufe den Heiligen Geist, gibt, um diesen Herrschaftswechsel zu leben. 

Paulus ist nicht dumm und weiß sehr wohl, dass die Taufe nicht magisch wirkt und Sünde, also letztlich Fehlentscheidungen des Menschen gegen Gott, nicht verhindert. Aber es geht um die grundsätzliche Orientierung und immer wieder mögliche Neuausrichtung auf Gott hin, bis zur endgültigen Begegnung mit ihm im Tode. Mit etwas weniger bildhafter Sprache und auf seine eigene Person hin formuliert Paulus den selben Gedanken schon ein Kapitel vorher im Galaterbrief, wenn er schreibt:

"Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Was ich nun im Fleische lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat" (Galater 2,20).

Das Bild vom "Anziehen" dürfte vom Taufkleid inspiriert sein, das einem jeden Täufling bei der Taufe als Hinweis auf den "Herrschaftswechsel" bzw. das "Anziehen des neuen Menschen" angelegt wird. Von diesem symbolischen Kleid hat sich auch der österreichische Künstler Adolf Wagner von der Mühl (1884 - 1962) bei der Gestaltung des Taufbrunnens in der Kirche St. Jakob St. Josef in Wien-Floridsdorf 1938 inspirieren lassen. Der Titel "Taufkleid der Gnade" macht den Zusammenhang deutlich von menschlicher Grundentscheidung und der notwendigen Hilfe Gottes ("Gnade"), diese Grundentscheidung auch zu leben.