Das Wort Gottes an sein Volk steht im Mittelpunkt von Nehemia 8,1-12. Die Menschen wollen es hören und verstehen. Aber ist es ein Grund zur Freude oder zur Trauer?
1. Verortung im Buch
Israel ist aus dem Exil nach Jerusalem zurückgekehrt und hat die Stadtmauer wiedererrichtet: „Nach zweiundfünfzig Tagen, am Fünfundzwanzigsten des Monats Elul, war die Mauer vollendet. Als alle unsere Feinde es hörten, fürchteten sich alle Völker rings um uns her. Ihr Hochmut verging ihnen und sie mussten einsehen, dass unser Gott es war, der dieses Werk vollbracht hatte“ (Nehemia 6,15). Dieser sichtbaren Wiederherstellung Jerusalem folgt wenige Tage später, im nächsten Monat, die innere Neuausrichtung auf Gott. Das Gesetz Gottes wird vor dem ganzen Volk verlesen und ihm entsprechend wird das Laubhüttenfest gefeiert (Nehemia 8). Daraufhin folgt ein Bußgottesdienst (Nehemia 9) und die Erneuerung der Verpflichtung zum Bund mit Gott (Nehemia 10).
2. Aufbau
Auf Wunsch des Volkes wird das Gesetz verlesen (Verse 1-8). Als das Volk alle Worte hörte, weinte es – aber der Schriftgelehrte Esra und die Leviten fordern das Volk auf, sich aufgrund des Gesetzes zu freuen (Verse 9-12). Am Ende beider Abschnitte steht die Feststellung, dass das Volk verstanden hatte, was es gehört hatte. Die zehnfache Nennung des Volkes und fünffache Verwendung des Verbs „verstehen“ verdeutlicht, worum es in diesem Abschnitt geht: Das ganze Volk versteht die Weisung Gottes.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 2-3: Gemäß dem Buch Levitikus ist der siebte Monat der liturgisch wichtigste Monat: In ihm findet der große Versöhnungstag und das Laubhüttenfest statt (Levitikus 23,26-44). Ihn im ist auch der erste Tag des Monats, an dem das Volk den Schriftgelehrten Esra auffordert, die Weisung Gottes vorzulesen ein Feiertag: „Im siebten Monat, am ersten Tag des Monats, ist für euch Ruhetag, in Erinnerung gerufen durch Jubelschall, eine heilige Versammlung.“ (Levitikus 23,24). An diesem Tag wird gemäß der Erzählung im Buch Nehemia erstmals nach dem Exil die Weisung Gottes, seine Torah, dem Volk verlesen. Im heutigen Judentum bezeichnet das hebräische Wort תּוֹרָה (gesprochen: torah), die ersten fünf Bücher des Alten Testament, den Pentateuch. In der hebräischen Bibel hat das Wort jedoch ein breites Bedeutungsspektrum und kann dort zum Beispiel auch nur die im Buch Deuteronomium von Mose vorgetragenen Gesetze Gottes bezeichnen. Bemerkenswert ist, dass diese Gottesworte nicht auf dem heiligen Tempelberg vorgelesen werden, sondern am östlichen Stadtausgang (dem Wassertor) – und dass sie nicht nur einer kleinen, elitären Gruppe verkündet werden, sondern sowohl Männern, als auch Frauen und selbst Kindern, allen „denen, die es verstehen konnten“.
Verse 4-8: Ebenso wie König Salomo bei der Einweihung des Tempels steht auch Esra auf einer erhöhten Plattform, als er die Weisung Gottes verkündet (vgl. 2 Chronik 6,13). Dabei ist er nicht von Priestern umgeben, sondern von ausgewählten Laien, die mit ihm auf der Plattform stehen. Auch wenn sich dies alles nicht auf dem Tempelberg ereignet, handelt es sich doch um eine liturgische Handlung, wie die Gebetsgesten verdeutlichen. Der Verkündigung folgt die Erklärung durch die Leviten. Vielleicht deutet die Formulierung hier an, dass die Leviten zum Volk gegangen sind und es in kleinen Gruppen jeweils die gehörten Worte auslegte („die Leviten, erklärten dem Volk die Weisung; die Leute blieben auf ihrem Platz.“). Vers 8 ist deutungsoffen formuliert. Der Vers erklärt, wie die Verkündigung genau ablief: Es wurden Abschnitte vorgelesen und dann erfolgte jeweils Auslegung – allerdings wird weder das Subjekt der Verkündigung noch der Auslegung genannt („man“). Gemäß Vers 3 verlas Esra die Weisung Gottes. Sagt Vers 8 nun aus, dass sie nochmals, aber nun von anderen Personen, vielleicht den Leviten vorgelesen wurde? Oder erklärt der Vers, dass Esra eben nur einen Teil vorgelesen hat und neben ihm auch vielleicht die Laien den Text verkündet haben?
Verse 9-10: Warum das Volk mit Trauer auf die Worte der Weisung Gottes reagiert, wird nicht erklärt. Denkbar ist, dass dies verdeutlichen soll, dass das Volk versteht, bisher dem Willen Gottes nicht entsprochen zu haben. Entgegen der Reaktion des Volkes rufen Esra und die Leviten zur Freude auf: „Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am HERRN ist eure Stärke“ (Nehemia 8,10). Die Weisung Gottes, seine Gesetze sind keine Last und kein Grund zur Furcht, sondern ein Grund zur Freude, die sich im Kult ausdrückt. Das ganze Volk – auch die Sozialbenachteiligten – soll ein Gemeinschaftsopfer feiern (vgl. Levitikus 3). Wer die Weisungen Gottes verstanden hat, trauert nicht, sondern feiert ein Freudenfest. So ist dieser Tag in einem zweifachen Sinne „heilig“: Weil er gemäß dem Festkalender heilig ist (Levitikus 23,23-25) und weil das Volk die Weisungen Gottes verstanden hat.