Lesejahr C: 2021/2022

1. Lesung (Hab 1,2-3;2,2-4)

1,2 Wie lange, HERR, soll ich noch rufen und du hörst nicht?

Ich schreie zu dir: Hilfe, Gewalt! Aber du hilfst nicht.

3 Warum lässt du mich die Macht des Bösen sehen und siehst der Unterdrückung zu? 

Wohin ich blicke, sehe ich Gewalt und Misshandlung, erhebt sich Zwietracht und Streit.

 […]

2,2 Der HERR gab mir Antwort und sagte: 

Schreib nieder, was du siehst, schreib es deutlich auf die Tafeln, damit man es mühelos lesen kann! 3 Denn erst zu der bestimmten Zeit trifft ein, was du siehst; aber es drängt zum Ende und ist keine Täuschung; wenn es sich verzögert, so warte darauf; denn es kommt, es kommt und bleibt nicht aus.

4 Sieh her: Wer nicht rechtschaffen ist, schwindet dahin, der Gerechte aber bleibt wegen seiner Treue am Leben.

Überblick

Der Gottlose übervorteilt den Gerechten. Wer aber beständig an Gottes Zusage festhält und dementsprechend lebt, wird nicht von dem Verhalten der Gottlosen in die Irre geführt. Ist dies eine Antwort auf die ungerechte Welt, die der Prophet Habakuk beklagt? 

 

1. Verortung im Buch

Der Beginn des Buches Habakuk ist radikal. Nicht wird von der Berufung des Propheten erzählt, sondern es erklingt direkt seine Anklage gegen Gott. Der Prophet wird also nicht dazu berufen, das Wort Gottes zu verkünden, sondern er erhebt sein eigene Stimme gegen seinen Gott. Er klagt über die in Juda herrschende Gewalt (Habakuk 1,2-4), worauf Gott noch mehr Gewalt, nun durch die Babylonier, die das Gericht über Juda bringen werden, ankündigt (Habakuk 1,5-11). Im Angesicht dieser maßlosen Gewalt erklingt die Anklage Habakuks gegen Gott noch stärker (Habakuk 1,12-2,1), worauf er dann schließlich von Gott eine tröstliche Antwort erhält (Habakuk 2,2-5).

 

2. Aufbau

Der Lesungstext verbindet die Klage am Anfang des Buches Habakuks direkt mit der positiven Antwort Gottes darauf und kreiert somit einen neuen Textzusammenhang. Auch wird jeweils der letzte Vers der Klage des Propheten (Habakuk 1,4) und der Antwort Gottes (Habakuk 2,5) ausgelassen (siehe dazu die Auslegung) . So wird die Lebenszusage für den Gerechten stärker in den Mittelpunkt gestellt.

Der erste Abschnitt ist durch die zwei anklagenden Fragen (Wie lange? Warum?) strukturiert. Sie kreisen, um die angesprochene „Gewalt“. Die endgültige, allgemeingültige Antwort Gottes wird dann in Habakuk 2,4 gegeben. Die vorhergehenden Worte Gottes richten sich an den Propheten und signalisieren die Gewissheit der folgenden Antwort.

 

3. Erklärung einzelner Verse

Kapitel 1, Vers 2: Gott wird in der Anklage des Propheten namentlich angesprochen. Die klagende Frage hebt hervor, dass er seit Langem zu Gott ruft, dieser ihn aber nicht erhört. Damit wird die Erfahrung Israels aus dem Exodus konterkariert. Dort hatte sich Gott als der hörende und rettende Gott erwiesen (siehe Deuteronomium 26,5-10). Gott hört und hilft nicht. Der Prophet ruft um Hilfe und weist auf Gewalt– doch der Ruf verhallt im Nichts. Auf welche Art von Gewalt er hinweist wird in den beiden folgenden Versen verdeutlicht.

Vers 3: Die Warum-Frage ist typisch für die alttestamentliche Klage. Das hebräische Wort ‎לָמָה (gesprochen: lama) richtet sich dabei nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft im Sinne der Frage „Wozu?“. Und mit dieser Frage thematisiert der Prophet ein düsteres Gottesbild: Gott lässt die Unterdrückung zu; Gott sieht tatenlos zu. Der Kläger findet sich wieder in einer scheinbar von Gott gewollten Welt, die geprägt von Bösem ist.

Kapitel 2, Vers 2: Der Beginn dieses Verses klingt wie einer dieser typischen erzählenden Sätze, der eine direkte Rede einleitet. Aber dass Gott „antwortet“ hat eine hohe Bedeutung, da ja zuvor der Prophet geklagt hatte, dass Gott nicht hört und nichts tut. Und in seinen ersten Worten betont Gott direkt die grundlegende Bedeutung seiner folgenden Antwort. Der Prophet soll wie Mose etwas aufschreiben, bzw. beurkunden (vgl. Deuteronomium 1,5 und 27,8). Die Antwort Gottes ist nicht situativ vergänglich, sondern dauerhaft gültig.

Vers 3: Die niedergeschriebene Vision Habakuks gilt als die Realität, egal, was der Prophet auch in der Welt erlebe und sehe. Nun wird (zweifach) begründet, warum die Vision niedergeschrieben werden muss. Die Verwirklichung wird sich verzögern, aber sie wird sich auf jeden Fall vollziehen. Der Prophet und der Leser werden damit zu einem Leben in Erwartung, das das Handeln in der Gegenwart bestimmt, aufgefordert.

Vers 4: Während zuvor nur von der Vision geredet wurde, aber ihr Inhalt nicht dargelegt wurde, kommt nun die Aufforderung zum Sehen. Für den Leser und die Leserin gibt es hier ein Lebensprinzip zu erkennen, das mit dem hebräischen Wort אֱמוּנָה (gesprochen: emunah) formuliert ist. Dessen Grundbedeutung ist „Festigkeit/Beständigkeit“. Hier gibt es zwei Lesemöglichkeit, wie man das Wort in seinem Kontext verstehen kann. Entweder ist die Vision beständig – Gott sagt also zu, dass sein Wort unveränderlich ist –, oder aber der Gerechte kann sich seines Lebens sicher sein aufgrund seiner Beständigkeit. Was bedeutet Letzteres? Der Vers beinhaltet eine Gegenüberstellung: Derjenige, der nicht rechtschaffen ist, steht dem Gerechten gegenüber. So verdeutlicht der Anfang des Verses, dass derjenige, der ein Gerechter ist, dies nicht nur aufgrund einer Haltung, sondern aufgrund seines Verhaltens ist. Woran sich dieses Verhalten auszurichten hat, hatte der Prophet Habakuk bereits in seiner Klage aufgezeigt: „… die Weisung [ist] ohne Kraft und das Recht setzt sich nicht mehr durch. Ja, der Frevler umstellt den Gerechten und so wird das Recht verdreht.“ (Habakuk 1,4 – siehe Auslegung) 

Auslegung

Die klagenden Worte Habakuks sind so formuliert, dass sie auch heute noch so klingen, als seien sie für unsere Gegenwart formuliert. Er benennt nicht die Gewalt, die er anklagt, er identifiziert nicht den Übeltäter und auch nicht den Gerechten. Er klagt über Gewalt, Misshandlung, Zwietracht und Streit, aber er klagt damit nicht diejenigen Menschen an, die dafür verantwortlich sind, sondern Gott. Ihm geht es um die grundlegende Frage: Wozu das ganze Leid? Er selbst hat darauf keine Antwort.

Der Prophet wendet sich nicht zornig an die Übeltäter, sondern an Gott; und diese Anklage findet ihren Höhepunkt in Habakuk 1,4: „Darum ist die Weisung ohne Kraft und das Recht setzt sich nicht mehr durch. Ja, der Frevler umstellt den Gerechten und so wird das Recht verdreht.“ Die Übeltäter haben die Überhand gewonnen. Wie kann ein Gerechter, das heißt ein Frommer, darauf reagieren. Er klammert sich an das Recht Gottes, das Gottes Willen zum Ausdruck bringt. Aber wenn hinter den Forderungen des Gesetzes keine göttliche Durchsetzungsmacht steht, dann kann es dazu kommen, dass die menschliche Willkür herrscht. Kurzum: Gottes Gesetz ist nur gerecht, wenn Gott Gerechtigkeit verbürgt.

Diese Gerechtigkeit verbürgt Gott in seiner Antwort in Habakuk 2,2-4. Gottes Worte zielen dabei weniger auf das Schicksal des Gerechten, sondern er verkündet die Gewissheit der Strafe für die Frevler. Vers 4 beginnt mit der Verheißung: „Wer nicht rechtschaffen ist, schwindet dahin.“ Gott spricht nicht explizit davon, dass er eingreifen wird, sondern er gibt Gewissheit, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen dem eigenen Tun und dem Ergehen gibt. Der Glaube daran ist es, den Habakuk bezweifelt – und der bis heute weiterhin fraglich ist. 

In der Perspektive des Buches Habakuk müssen diese Worte auch im Kontext der babylonischen Weltmacht betrachtet werden. Gemäß Habakuk 1,5-11 sendet Gott sie, um Juda für seine Missetaten zu bestrafen. Das Leid, dass sie über das Volk Gottes bringen, ist aber nur ein „Anrücken“ und „Vorüberziehen“, wie es die Verse 9 und 11 formulieren. Juda wurde von den Babyloniern ins Exil geführt, aber kehrte von dort auch wieder zurück. Aus dieser Gewissheit soll der Leser und die Leserin ableiten können, dass derjenige, der treu zu Gott steht, die Stürme der Weltgeschichte und des Gotteszorns überstehen wird. Doch ebenso klingen auch die Fragen Habakuks, "Wie lange noch?", "Wozu?", durch die Weltgeschichte. Und dass diese Fragen berechtigt sind, zeigt, dass Gott sie einer Antwort würdigt.

Kunst etc.

Auf der Fassade des Käthchenhauses aus dem 14. Jahrhunderts am Marktplatz in Heilbronn gibt es eine Darstellung des Propheten Habakuks, der seine Hände auf die Botschaft „Inpius arcet atque circundat pium (Der Gottlose übervorteilt den Gerechten)“ stützt. Mit diesen Worten ist passend das von dem Propheten angeklagte Grundproblem angesprochen (siehe auch die Wehe-Rufe in Habakuk 2,6-19). 

Habakuk-Darstellung am Käthchenhaus (Heilbronn), fotografiert von Joachim Köhler – Lizenz: CC BY 3.0
Habakuk-Darstellung am Käthchenhaus (Heilbronn), fotografiert von Joachim Köhler – Lizenz: CC BY 3.0