Lesejahr C: 2021/2022

1. Lesung (Gen 15,5-12.17-18)

5 Er führte ihn hinaus und sprach:

Sieh doch zum Himmel hinauf und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst! Und er sprach zu ihm: So zahlreich werden deine Nachkommen sein.

6 Und er glaubte dem HERRN und das rechnete er ihm als Gerechtigkeit an.

 

7 Er sprach zu ihm:

Ich bin der HERR, der dich aus Ur in Chaldäa herausgeführt hat, um dir dieses Land zu eigen zu geben.

8 Da sagte Abram:

Herr und GOTT, woran soll ich erkennen, dass ich es zu eigen bekomme?

9 Der HERR antwortete ihm:

Hol mir ein dreijähriges Rind, eine dreijährige Ziege, einen dreijährigen Widder, eine Turteltaube und eine junge Taube!

10 Abram brachte ihm alle diese Tiere, schnitt sie in der Mitte durch und legte je einen Teil dem andern gegenüber; die Vögel aber zerschnitt er nicht. 11 Da stießen Raubvögel auf die toten Tiere herab, doch Abram verscheuchte sie. 12 Bei Sonnenuntergang fiel auf Abram ein tiefer Schlaf. Und siehe, Angst und großes Dunkel fielen auf ihn.

[...]

17 Die Sonne war untergegangen und es war dunkel geworden. Und siehe, ein rauchender Ofen und eine lodernde Fackel waren da; sie fuhren zwischen jenen Fleischstücken hindurch. 18 An diesem Tag schloss der HERR mit Abram folgenden Bund:

Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land vom Strom Ägyptens bis zum großen Strom, dem Eufrat-Strom [...]

Überblick

Gottes Verheißungen sprengen alle Grenzen. Aus einem Kinderlosen soll ein Volk mit einem eigenen Land werden - nach Unterdrückung. Wer kann solchen Worten glauben?

 

1. Verortung im Buch

Abram, den Gott später in Abraham umbenennen wird (siehe Genesis 17,5), verlässt sein Heimatland sowie seine Familie und Gott verheißt ihm im Land Kanaan: „Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land.“ (Gen 12,7). Nun verwirklicht sich diese Verheißung für den noch kinderlosen Abram. Zugleich blickt der Text voraus auf das Buch Exodus. Abram selbst wird das verheißene Land nicht besitzen, sondern wenn seine Nachkommen zu einem Volk geworden sein werden, werden sie es in Besitz nehme, wie es Gott dann dem versklavten Volk in Ägypten verheißt (siehe Exodus 3,7-8). Dieser Erzählbogen umrahmt den gesamten Pentateuch, die in der protestantischen Tradition sogenannten 5. Bücher Mose. Am Ende, an der Grenze zum verheißenen Land angekommen, sagt Gott zu Mose: „Das ist das Land, das ich Abraham, Isaak und Jakob versprochen habe mit dem Schwur: Deinen Nachkommen werde ich es geben. Ich habe es dich mit deinen Augen schauen lassen. Hinüberziehen wirst du nicht.“ (Deuteronomium 34,4).

 

2. Aufbau

In den Erzählungen über die Erzeltern erklingen immer wieder die Nachkommenverheißungen und die Landverheißungen. Diese beiden Versprechen Gottes strukturieren auch die Erzählung in Genesis 15: Abrams Nachkommen werden zahllos sein wie die Sterne am Himmel (Verse 1-6) und sie werden das Land vom Nil bis zum Euphrat besitzen (Verse 7-21). Der erste Abschnitt ist keine Erzählung, sondern ein Dialog, indem Abraham seine Kinderlosigkeit beklagt. Auch im zweiten Abschnitt „hakt“ Abram nach und bittet nun um ein Zeichen. Zwischen der Verheißung und deren Bestätigung bieten die Verse 12-16 eine erklärende Geschichtsdeutung, die folgende Frage beantworten soll: Warum besaßen die Erzeltern nicht schon das Land?

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 5: Bereits die ersten Worte dieses Kapitels machen diese Erzählung zu einem besonderen Text im Pentateuch. Nur hier und in Vers 4 findet sich die Formulierung „das Wort JHWHs erging“, die ansonsten häufig in den prophetischen Büchern, vor allem in Jeremia und Ezechiel, zu finden ist. Die folgende Erzählung ist somit als eine Prophetie zu lesen, die mit einem Heilsorakel beginnt, wie es im alten Orient für Könige typisch war. Gott wird Abram nicht nur beschützen, sondern reichlich belohnen. Das Wort „Lohn“ ist zugleich jedoch der Grund für die folgende Klage Abrams. Zweimal war im Buch Genesis bereits durch Gott eine zahlreiche Nachkommenschaft für Abram verheißen worden: „Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen“ (Genesis 12,2) und „Ich mache deine Nachkommen zahlreich wie den Staub auf der Erde. Nur wer den Staub auf der Erde zählen kann, wird auch deine Nachkommen zählen können“ (Genesis 13,16). Aber Abram ist kinderlos, und jemand aus seinem Hausstand, ein Sklave, und somit kein leiblicher Sohn, ist der einzige Erbe. Diesen Umstand betont Abram zweimal und verleiht seiner Not damit Nachdruck. Ein Mann, der kinderlos stirbt, galt im Alten Orient als jemand, der nie existiert hat. Gott verheißt nun Abram nicht nur die Geburt eines Sohnes (siehe Genesis 17,19), der ihn beerben wird, sondern er wiederholt die Mehrungsverheißung: Aus seinen Nachkommen wird ein großes Volk erstehen.

Vers 6:  Aus Abrams Klagen wird Glauben. Im Hebräischen wird hier eine abgeschlossene Handlung beschrieben. Er hat also seinen Glauben fest beschlossen und vertraut nicht nur auf die Worte Gottes, sondern Gott selbst – und dies wird ihm von Gott als Gerechtigkeit angerechnet. Wie aus Psalm 106,31 ersichtlich ist, meint Gerechtigkeit hier das richtige Verhalten in einer kritischen Situation, indem man sich in der Gemeinschaft mit Gott verortet.

Vers 7: Gott knüpft in seinen Worten wieder an den Beginn der Erzählungen über Abram/Abraham an: Er war gemäß Gen 11,26-12,8 aus seinem Land fortgezogen und hat aufgrund eines Rufes Gottes, seine Familie verlassen. Dieses Ereignis wird nicht nur als Führung Gottes bezeichnet, sondern es wird bewusst das Wort „herausführen“ verwendet, das später das Exodus-Ereignis zusammenfasst: „Ich bin der HERR, euer Gott, der euch aus Ägypten herausgeführt hat, um euch Kanaan zu geben und euer Gott zu sein.“ (Levitikus 25,38). Dass Gott bereits Abram dieses Land gibt, wird jedoch später in den Versen 12-16 und 18 relativiert.

Verse 8-11 und 17-18: In Abrams Bitte liegt kein Zweifel versteckt, sondern der Wunsch nach einer sichtbaren Bestätigung. Für den heutigen Leser ist die folgende Handlung, die den Schwur visualisiert zuerst merkwürdig. Eine Reihe von Opfertieren werden zerteilt auf den Boden gelegt, nur die Vögel werden nicht zerschnitten. In der Nacht schreiten dann der rauchende Ofen und Feuerfackeln, die Gott symbolisieren, zwischen den toten Tieren hindurch. Eine vergleichbare Szene wird im Buch Jeremia beschrieben: „Darum - so spricht der HERR: Ihr habt mir nicht gehorcht, jeder für seinen Stammesbruder und seinen Nächsten Freilassung auszurufen. - Siehe, ich rufe euch eine Freilassung aus - Spruch des HERRN - für Schwert, Pest und Hunger und ich mache euch zu einem Bild des Schreckens für alle Reiche der Erde. Ich mache die Männer, die meinen Bund verletzt und die Worte meines Bundes, den sie vor mir geschlossen hatten, nicht gehalten haben, dem Kalb gleich, das sie in zwei Hälften zerschnitten haben und zwischen dessen Stücken sie hindurchgegangen sind. Die Großen Judas und die Großen Jerusalems, die Höflinge, die Priester und das ganze Volk des Landes, die zwischen den Stücken des Kalbes  hindurchgegangen sind, ich gebe sie in die Hand ihrer Feinde und in die Hand derer, die ihnen nach dem Leben trachten. Ihre Leichen sollen den Vögeln des Himmels und den Tieren des Feldes zum Fraß dienen.“ (Jeremia 34,16-20). Die zerteilten Tiere stehen für das Schicksal des Schwörenden, wenn er seine eingegangene Verpflichtung nicht einhält. Gott bürgt somit hier radikal mit seinem Leben für die von ihm gegebene Verheißung. Anhand dieser Vergleichsstelle erklärt sich vielleicht auch der ansonsten nur schwer zu verstehende, kurze Bericht über die Vertreibung der Greifvögel, die Abram von den toten Tieren verjagt. Ihr Zerfleischen der Kadaver würde ein schlechtes Omen darstellen, dem Abram entgegenwirkt. Inhalt dieses Bundes, bzw. der Verpflichtung die Gott eingeht, ist entgegen seiner Zusage, dass Abram das Land besitzen wird, die Verheißungen, dass erst seine Nachkommen es sich zum Eigentum nehmen werden können. Sprachlich wird diese scheinbare Spannung dadurch gelöst, dass Gott in seinen Worten an Abraham, dessen Nachkommen das Land jetzt schon gibt. Die Verheißung ist mit keiner Zukunftsform ausgedrückt, sondern als eine abgeschlossene Handlung. Und zudem wird das verheißene Land in einer für das Alte Testament maximalen Ausdehnung gezeichnet, vom Nil in Ägypten bis zum Euphrat, der von der Türkei bis in den Irak fließt und dann im persischen Gold mündet. Der Darstellung der geografischen Ausdehnung folgt die im Alten Testament ausführlichste Liste von Völker, die Israel aus dem verheißenen Land vertreiben wird.

Verse 12-16: Die Tiere hatte Abraham am Tage für Gott vorbereitet. Als dann die Nacht einbricht, überfällt ihn ein Schrecken. Dieser Schrecken kann im Erscheinen Gottes grundgelegt sein. Gott offenbart Abram den weiteren Verlauf der Geschichte. Abram wird sterben, aber er wird in „Frieden“ sterben. Er wird zwar das Land nicht besitzen, aber der Tod wird das Heilsein seines Lebens nicht zerstören, sondern er wird im hohen Alter friedlich sterben. Warum seine Nachkommenschaft in Ägypten versklavt wird, offenbart im Gott nicht, aber er sichert ihm zu, dass die Unterdrücker bestraft werden. Und die Vertreibung der Völker im verheißenen Land wird ethisch durch deren eigene Schuld gerechtfertigt. Diesen Zukunftsblick gibt Gott dem Abram und sichert ihm zu, dass die Geschichte so verlaufen wird. Wörtlich heißt es am Anfang seiner Worte: „Du sollst gewiss wissen“.

Auslegung

Es ist fast absurd. Den Erzeltern wird die Landverheißung genommen, damit sie dem späteren, versklavten Volk Israel in Ägypten gegeben werden kann. In Vers 7 noch verheißt Gott dem Abram: „Ich bin der HERR, der dich aus Ur in Chaldäa herausgeführt hat, um dir dieses Land zu eigen zu geben.“ Und nur wenige Zeilen später, in Vers 18 schwört Gott: „Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land vom Strom Ägyptens bis zum großen Strom, dem Eufrat-Strom.“ Die Verheißung für Abram wandelt sich in eine Gewissheit, dass Gott bereits an jenem Tag den noch nicht geborenen Nachkommen Abrams das Land als Besitz übergeben hat. So ist Abram der Träger der Verheißung, aber er wird ihre Erfüllung nicht erleben. Dieses Konstrukt erklärt sich aus der Gerechtigkeit Gottes, wie sie in den Versen 12-16 dargestellt wird. Das Land ist kein leeres Land und die später im Buch Josua berichtete Landnahme sei kein Landraub, sondern – so die theologische Deutung in Genesis 15 – die gerechte Strafe für die Vielzahl der Vergehen der Völker im verheißenen Land. Es ist vielleicht die stille Ironie der biblischen Erzähler, dass in dieser Verheißung zugleich das spätere Schicksal Israel sich andeutet. Auch Israel wird aufgrund seiner Vergehen wieder aus dem Land vertrieben werden – wenn auch nur temporär. Im Unterschied zu den Völkern zeigt sich in Genesis 15, dass der Gott Abrams und Israels für seine Verheißung soweit geht, dass er sich selbst verflucht, falls er sie nicht verwirklichen sollte. Der freie Gott verpflichtet sich für den Menschen Abram.

Kunst etc.

Der tschechische Künstler Wenceslas Hollar (1607-1677) wählte für seine Darstellung der Erzählung in Genesis 15 die beiden Verheißungen: die Verheißung einer zahlreichen Nachkommenschaft, die er am helllichten Tag empfing; und die Verheißung des Landbesitzes für seine Nachkommen, die er in der Nacht empfing. Der Text sagt, dass er eingeschlafen war und ihn dann ein großer Schreck überfiel. Gottes Macht, die sich in diesen beiden Verheißungen ausdrückt, stellt Wenceslas Hollar als am Tag und in der Nacht scheinende Sonne dar. In sie hinein schreibt er den Gottesnamen. Da er jedoch kein Hebräisch kann, verwechselt er den Buchstaben Jod mit dem Buchstaben Dalet. Das theologische Herzstück des Kapitels blendet der Künstler aus, da er sich ganz auf die Verheißungen konzentriert. Die mit den Worten einhergehende Verpflichtung Gottes, die in den zerteilten Tieren symbolisch dargestellt wird, stellt er nicht dar.

Wenceslas Hollar, Abraham's dream. State 2 aus der University of Toronto Wenceslaus Hollar Digital Collection – Lizenz: gemeinfrei.
Wenceslas Hollar, Abraham's dream. State 2 aus der University of Toronto Wenceslaus Hollar Digital Collection – Lizenz: gemeinfrei.