Gottes Verheißungen sprengen alle Grenzen. Aus einem Kinderlosen soll ein Volk mit einem eigenen Land werden - nach Unterdrückung. Wer kann solchen Worten glauben?
1. Verortung im Buch
Abram, den Gott später in Abraham umbenennen wird (siehe Genesis 17,5), verlässt sein Heimatland sowie seine Familie und Gott verheißt ihm im Land Kanaan: „Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land.“ (Gen 12,7). Nun verwirklicht sich diese Verheißung für den noch kinderlosen Abram. Zugleich blickt der Text voraus auf das Buch Exodus. Abram selbst wird das verheißene Land nicht besitzen, sondern wenn seine Nachkommen zu einem Volk geworden sein werden, werden sie es in Besitz nehme, wie es Gott dann dem versklavten Volk in Ägypten verheißt (siehe Exodus 3,7-8). Dieser Erzählbogen umrahmt den gesamten Pentateuch, die in der protestantischen Tradition sogenannten 5. Bücher Mose. Am Ende, an der Grenze zum verheißenen Land angekommen, sagt Gott zu Mose: „Das ist das Land, das ich Abraham, Isaak und Jakob versprochen habe mit dem Schwur: Deinen Nachkommen werde ich es geben. Ich habe es dich mit deinen Augen schauen lassen. Hinüberziehen wirst du nicht.“ (Deuteronomium 34,4).
2. Aufbau
In den Erzählungen über die Erzeltern erklingen immer wieder die Nachkommenverheißungen und die Landverheißungen. Diese beiden Versprechen Gottes strukturieren auch die Erzählung in Genesis 15: Abrams Nachkommen werden zahllos sein wie die Sterne am Himmel (Verse 1-6) und sie werden das Land vom Nil bis zum Euphrat besitzen (Verse 7-21). Der erste Abschnitt ist keine Erzählung, sondern ein Dialog, indem Abraham seine Kinderlosigkeit beklagt. Auch im zweiten Abschnitt „hakt“ Abram nach und bittet nun um ein Zeichen. Zwischen der Verheißung und deren Bestätigung bieten die Verse 12-16 eine erklärende Geschichtsdeutung, die folgende Frage beantworten soll: Warum besaßen die Erzeltern nicht schon das Land?
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 5: Bereits die ersten Worte dieses Kapitels machen diese Erzählung zu einem besonderen Text im Pentateuch. Nur hier und in Vers 4 findet sich die Formulierung „das Wort JHWHs erging“, die ansonsten häufig in den prophetischen Büchern, vor allem in Jeremia und Ezechiel, zu finden ist. Die folgende Erzählung ist somit als eine Prophetie zu lesen, die mit einem Heilsorakel beginnt, wie es im alten Orient für Könige typisch war. Gott wird Abram nicht nur beschützen, sondern reichlich belohnen. Das Wort „Lohn“ ist zugleich jedoch der Grund für die folgende Klage Abrams. Zweimal war im Buch Genesis bereits durch Gott eine zahlreiche Nachkommenschaft für Abram verheißen worden: „Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen“ (Genesis 12,2) und „Ich mache deine Nachkommen zahlreich wie den Staub auf der Erde. Nur wer den Staub auf der Erde zählen kann, wird auch deine Nachkommen zählen können“ (Genesis 13,16). Aber Abram ist kinderlos, und jemand aus seinem Hausstand, ein Sklave, und somit kein leiblicher Sohn, ist der einzige Erbe. Diesen Umstand betont Abram zweimal und verleiht seiner Not damit Nachdruck. Ein Mann, der kinderlos stirbt, galt im Alten Orient als jemand, der nie existiert hat. Gott verheißt nun Abram nicht nur die Geburt eines Sohnes (siehe Genesis 17,19), der ihn beerben wird, sondern er wiederholt die Mehrungsverheißung: Aus seinen Nachkommen wird ein großes Volk erstehen.
Vers 6: Aus Abrams Klagen wird Glauben. Im Hebräischen wird hier eine abgeschlossene Handlung beschrieben. Er hat also seinen Glauben fest beschlossen und vertraut nicht nur auf die Worte Gottes, sondern Gott selbst – und dies wird ihm von Gott als Gerechtigkeit angerechnet. Wie aus Psalm 106,31 ersichtlich ist, meint Gerechtigkeit hier das richtige Verhalten in einer kritischen Situation, indem man sich in der Gemeinschaft mit Gott verortet.
Vers 7: Gott knüpft in seinen Worten wieder an den Beginn der Erzählungen über Abram/Abraham an: Er war gemäß Gen 11,26-12,8 aus seinem Land fortgezogen und hat aufgrund eines Rufes Gottes, seine Familie verlassen. Dieses Ereignis wird nicht nur als Führung Gottes bezeichnet, sondern es wird bewusst das Wort „herausführen“ verwendet, das später das Exodus-Ereignis zusammenfasst: „Ich bin der HERR, euer Gott, der euch aus Ägypten herausgeführt hat, um euch Kanaan zu geben und euer Gott zu sein.“ (Levitikus 25,38). Dass Gott bereits Abram dieses Land gibt, wird jedoch später in den Versen 12-16 und 18 relativiert.
Verse 8-11 und 17-18: In Abrams Bitte liegt kein Zweifel versteckt, sondern der Wunsch nach einer sichtbaren Bestätigung. Für den heutigen Leser ist die folgende Handlung, die den Schwur visualisiert zuerst merkwürdig. Eine Reihe von Opfertieren werden zerteilt auf den Boden gelegt, nur die Vögel werden nicht zerschnitten. In der Nacht schreiten dann der rauchende Ofen und Feuerfackeln, die Gott symbolisieren, zwischen den toten Tieren hindurch. Eine vergleichbare Szene wird im Buch Jeremia beschrieben: „Darum - so spricht der HERR: Ihr habt mir nicht gehorcht, jeder für seinen Stammesbruder und seinen Nächsten Freilassung auszurufen. - Siehe, ich rufe euch eine Freilassung aus - Spruch des HERRN - für Schwert, Pest und Hunger und ich mache euch zu einem Bild des Schreckens für alle Reiche der Erde. Ich mache die Männer, die meinen Bund verletzt und die Worte meines Bundes, den sie vor mir geschlossen hatten, nicht gehalten haben, dem Kalb gleich, das sie in zwei Hälften zerschnitten haben und zwischen dessen Stücken sie hindurchgegangen sind. Die Großen Judas und die Großen Jerusalems, die Höflinge, die Priester und das ganze Volk des Landes, die zwischen den Stücken des Kalbes hindurchgegangen sind, ich gebe sie in die Hand ihrer Feinde und in die Hand derer, die ihnen nach dem Leben trachten. Ihre Leichen sollen den Vögeln des Himmels und den Tieren des Feldes zum Fraß dienen.“ (Jeremia 34,16-20). Die zerteilten Tiere stehen für das Schicksal des Schwörenden, wenn er seine eingegangene Verpflichtung nicht einhält. Gott bürgt somit hier radikal mit seinem Leben für die von ihm gegebene Verheißung. Anhand dieser Vergleichsstelle erklärt sich vielleicht auch der ansonsten nur schwer zu verstehende, kurze Bericht über die Vertreibung der Greifvögel, die Abram von den toten Tieren verjagt. Ihr Zerfleischen der Kadaver würde ein schlechtes Omen darstellen, dem Abram entgegenwirkt. Inhalt dieses Bundes, bzw. der Verpflichtung die Gott eingeht, ist entgegen seiner Zusage, dass Abram das Land besitzen wird, die Verheißungen, dass erst seine Nachkommen es sich zum Eigentum nehmen werden können. Sprachlich wird diese scheinbare Spannung dadurch gelöst, dass Gott in seinen Worten an Abraham, dessen Nachkommen das Land jetzt schon gibt. Die Verheißung ist mit keiner Zukunftsform ausgedrückt, sondern als eine abgeschlossene Handlung. Und zudem wird das verheißene Land in einer für das Alte Testament maximalen Ausdehnung gezeichnet, vom Nil in Ägypten bis zum Euphrat, der von der Türkei bis in den Irak fließt und dann im persischen Gold mündet. Der Darstellung der geografischen Ausdehnung folgt die im Alten Testament ausführlichste Liste von Völker, die Israel aus dem verheißenen Land vertreiben wird.
Verse 12-16: Die Tiere hatte Abraham am Tage für Gott vorbereitet. Als dann die Nacht einbricht, überfällt ihn ein Schrecken. Dieser Schrecken kann im Erscheinen Gottes grundgelegt sein. Gott offenbart Abram den weiteren Verlauf der Geschichte. Abram wird sterben, aber er wird in „Frieden“ sterben. Er wird zwar das Land nicht besitzen, aber der Tod wird das Heilsein seines Lebens nicht zerstören, sondern er wird im hohen Alter friedlich sterben. Warum seine Nachkommenschaft in Ägypten versklavt wird, offenbart im Gott nicht, aber er sichert ihm zu, dass die Unterdrücker bestraft werden. Und die Vertreibung der Völker im verheißenen Land wird ethisch durch deren eigene Schuld gerechtfertigt. Diesen Zukunftsblick gibt Gott dem Abram und sichert ihm zu, dass die Geschichte so verlaufen wird. Wörtlich heißt es am Anfang seiner Worte: „Du sollst gewiss wissen“.