Auf der Suche nach dem Mittelpunkt des eigenen Lebens zwischen Seligpreisung und Weheruf.
1. Verortung im Evangelium
Der Abschnitt mit Seligpreisungen und Weherufen gehört zur sogenannten „Feldrede“ im Lukasevangelium (Lk). Zuvor hat Jesus die 12 Apostel aus der Schar der vielen Jünger, die mit ihm unterwegs sind, ausgewählt (Lk 6,12-16). Den Aposteln und Jüngern gelten auch die, folgenden Worte (Lk 6,17-26). Erst bei dem anschließenden Teil über die Feindesliebe wendet sich Jesus allen Menschen zu, die sich um ihn versammelt haben (ab Lk 6,27).
2. Aufbau
Vers 17 ist als Einleitungssatz zur gesamten Szene und Rede hinzugezogen worden. Die Verse 20-26 lassen sich in zwei Teile aufteilen. Die Verse 20-23 und die Verse 24-26 zeigen zwei inhaltliche Pole auf: Die Seligpreisungen und die Weherufe.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 17: Bei der Nennung der anwesenden Personen werden immer größer werdende Kreise um den einen Mittelpunkt Jesus Christus gezogen. Zugegen sind die zwölf Apostel, weitere Jünger und viele Menschen, die aus dem nahen und fernen Umland gekommen sind, um Jesus zu hören. Alle Gruppen lassen sich von Jesus ansprechen und begeistern: Die Apostel haben „alles hinter sich gelassen“ wie es in der Berufungsgeschichte in Lk 5,1-11 heißt, sie lassen sich ganz in den Dienst nehmen für die Botschaft vom Reich Gottes. Die Jünger, die Jesus folgen, manche für eine bestimmte Zeit, manche für immer, sie werden später auch ausgesendet (Lk 10,1-16). Und viele Menschen, die von fern und nah kommen, um denjenigen zu sehen, der so wortmächtig verkündet und Kranke heilt.
Vers 20: Adressaten der folgenden Worte ist nur ein kleiner Teil der Menschen, die i n Vers 17 erwähnt wurden. Den Jüngern gelten ganz konkret die Seligpreisungen und auch die Weherufe. Beide sind als Worte der Bestärkung und Bekräftigung ihrer Entscheidung an sie gerichtet.
Wenn die Jünger als Arme angesprochen werden, dann weil sie bei der Entscheidung Jesus nachzufolgen alles verlassen haben: ihre beruflichen Sicherheiten haben sie aufgegeben, ihre sozialen Zusammenhänge hinter sich gelassen (Lk 5,11). Doch ist „Armut“ hier nicht nur im real-materiellen Sinn zu verstehen. Armut ist auch ein Zeichen religiöser Entschiedenheit: Zum Ausdruck kommt das fromme Vertrauen, das Notwendige von Gott zu erhalten, sich ihm ganz anzuvertrauen. Dem entspricht die Zuwendung Gottes zu den Armen wie sie Jesus selbst in der Synagoge in Nazareth noch einmal bekräftigt hatte (Lk 4,18). So ist die Zusage des Reiches Gottes an die Armen die logische Konsequenz für diejenigen, die für das Reich Gottes alles verlassen, und auch für jene, die sich Gott ganz anvertrauen.
Vers 21: Die Hungernden und Weinenden, denen die zweite und dritte Seligpreisungen gelten, sind Beispiele für die Armen aus Vers 20, die fast so eine Art Überschrift oder Leitbegriff für die Formulierungen in Vers 21 bilden. Hunger und Trauer/Weinen ist das, was sich aus Situationen der Armut und Not ergibt. Diese Folgen – so die Verheißung – werden sich gewandelt. Sättigung und Lachen sind damit Zeichen des Reich Gottes.
Vers 22-23: Die letzte Seligpreisung ist stärker ausformuliert als die ersten und bringt einen größeren Ausblick auf das Kommende mit sich.
Die realen Erfahrungen von Ablehnung, sozialer Ausgrenzung, Verleumdung und Diskriminierung aufgrund des Bekenntnisses zu Christus stehen im Hintergrund dieser Seligpreisung. Die Beschreibungen sind zum einen konkret, zum anderen aber auch offen formuliert, damit sich auch die Leser des Lukasevangeliums mit ihren Alltagserfahrungen hier drin wiederfinden können.
Der zweite Teil dieser letzten Seligpreisung wagte einen Ausblick: Die Bedrängnisse werden in Freude gewandelt. Das „Jauchzen“ als Ausdruck der Freude ist im Lukasevangelium bereits verwendet worden. In Lk 1,41 und 44 bezeichnet es das „freudige Hüpfen“ Johannes‘ des Täufers im Mutterleib und nimmt damit Bezug auf das frohe Springen der Kälber, die auf die Weide kommen in Anschluss an Maleachi 3,20.
Der Verweis am Schluss auf das Schicksal der Propheten greift auf alttestamentliche Vorlagen zurück. Auf die Jüngern in ihrer Entscheidung, Jesus zu folgen, werden die Menschen um sie herum ähnlich reagieren, wie einst die Väter auf Propheten, die einen neuen Weg weisen oder beschreiten.
Vers 24: Die Reichen, die nun in den Fokus rücken, sind ein Gegenmodell zu den Jüngern. Sie sind eine Negativfolie zur Lebensweise und Entscheidung der Jünger. Der Evangelist schreibt hier nicht an konkrete „Reiche“ also wohlhabende Mitglieder aus der Gemeinde oder Leser des Evangeliums. Es geht um die Reichen als solche, die sich in ihrer Lebensausrichtung ganz auf das Hier und Jetzt ausrichten.
Anders als den Armen in Vers 20, denen eine Verheißung zugesprochen wird, erschöpft sich das Schicksal der Reichen in dem, was sie nun bereits erhalten. Ihre Sicherheiten, ihr Genuss, ihre Sattheit und ihr Lachen, sind ihr Lohn – mehr haben sie nicht zu erwarten.
Weherufe sind im Alten Testament bekannt aus der Tradition prophetischer Gerichtsankündigung, sie sind Warnrufe und Klage gegenüber konkreten Gruppen oder einem bestimmten Verhalten.
Vers 25: Die beiden Weherufe gegenüber den Satten und Lachenden entsprechen den Seligpreisungen in Vers 21.
Vers 26: Die unterschiedlichen Bedrängnisse aus Vers 22 werden nur mit einem Gegenbegriff kontrastiert. Das Lob der Menschen ist Zeichen für eine Prophetie, die den Menschen (vor allem den Reichen und Mächtigen) nach dem Mund redet, die nicht aufweckt, sondern bestätigt und damit eigentlich den Sinn des Prophetischen als Richtungsweisung umkehrt.