Lesejahr C: 2021/2022

1. Lesung (Dtn 26,4-10)

4 Dann soll der Priester den Korb aus deiner Hand entgegennehmen und ihn vor den Altar des HERRN, deines Gottes, stellen. 5 Du aber sollst vor dem HERRN, deinem Gott, folgendes Bekenntnis ablegen:

Mein Vater war ein heimatloser Aramäer.

Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk.

6 Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf.

7 Wir schrien zum HERRN, dem Gott unserer Väter, und der HERR hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis.

8 Der HERR führte uns mit starker Hand und hoch erhobenem Arm, unter großem Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten, 9 er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land, wo Milch und Honig fließen.

10 Und siehe, nun bringe ich hier die ersten Erträge von den Früchten des Landes, das du mir gegeben hast, HERR.

Wenn du den Korb vor den HERRN, deinen Gott, gestellt hast, sollst du dich vor dem HERRN, deinem Gott, niederwerfen.

Überblick

Was ist die Grundlage für den eigenen Wohlstand? Im Buch Deuteronomium ist die Antwort auf diese Frage ein Glaubensbekenntnis.

 

1. Verortung im Buch

Die alttestamentliche Vorschrift, dass die ersten Erträge aller Feldfrüchte, Gott dargebracht werden sollen, findet sich erstmals in Exodus 23,19. Im Buch Deuteronomium, dass die Abschiedsrede Mose vor seinem Tod wiedergibt, wird dieses Gesetz wiederholt und ausgestaltet. Das Ritual wird beschrieben, ein zu sprechendes Bekenntnis hinzugefügt und der Ort präzisiert. Im Buch Deuteronomium wird festgelegt, dass es in Israel nur ein Heiligtum geben darf, den Tempel in Jerusalem (Deuteronomium 12,4-7). Und am Ende der wiederholten Verkündigung der Gesetze durch Mose wird ein Ritual für alle Israeliten eben an dieser heiligen Stätte vorgeschrieben.

 

2. Aufbau

Das Gesetz über die Darbringung der Erstlingsgaben (Deuteronomium 26,1-11) ist geprägt durch zwei Leitworte: 14mal kommt der Gottesnamen JHWH vor und sechsmal das Wort „geben“ – so steht im Fokus dieses Abschnittes der Gott, der seinem Volk das Land gibt. Zu dem beschriebenen Ritual gehören zwei zu sprechende Bekenntnisse, die eben diese Aussage zu Wort bringen (Verse 3.5-10). Das zweite, ausführlichere Glaubenskenntnis wird gerahmt durch eine Ich-Rede des das Dankopfer darbringenden Israeliten, in der er als Teil Israels die Geschichte Gottes mit seinem Volk erinnert („wir“).

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 4: Im Hebräischen wird das Kommen in das Land und das Ernten der ersten Früchte mit demselben Verb ausgedruckt (בוא). Damit wird eine wichtige Aussage des Textes eingeleitet: Gott ist der Herr über die Geschichte und über die Natur. Die Früchte der durch Gott fruchtbaren Erde sollen als Dankesgabe dargebracht werden, weil – wie der Israelit bekennen soll – sich Gottes Schwur verwirklicht hat: „Heute bestätige ich vor dem HERRN, deinem Gott, dass ich in das Land gekommen bin, von dem ich weiß: Er hat unseren Vätern geschworen, es uns zu geben“ (Vers 3). Wann genau und welche Mengen der einzelne Israelit die Erstlingsgabe darbringen soll, legt das Gesetz nicht fest.

Vers 5: In Genesis 24,4 sendet Abraham seinen Knecht zurück in sein Herkunftsland und zu seiner Familie, damit dieser für seinen Sohn Isaak eine Frau finde. In Gen 25,10 heißt es dann: „ Isaak war vierzig Jahre alt, als er sich Rebekka zur Frau nahm. Sie war die Tochter des Aramäers Betuël aus Paddan-Aram, eine Schwester des Aramäers Laban.“ Zwar sind Aram und Israel zwei im Alten Testament zu unterscheidende Völker, aber aufgrund dieser Stellen erklärt sich trotzdem, warum die Erzväter hier als Aramäer bezeichnet werden konnten. Auch verbrachte Jakob wohl 20 Jahre seines Lebens im Gebiet Arams (Genesis 31,41-42). Er ist es, der gemäß Deuteronomium 10,11 mit seiner 70köpfigen Familie nach Ägypten zog und aus denen dort das Volk Israel wurde. Aber Jakob, wie die anderen Erzeltern waren zeitlebens heimatlos. Um das in der Einheitsübersetzung mit „heimatlos“ wiedergegebene hebräische Wortאֹבֵד (gesprochen:  owed) wird viel disktuiert, da seine Bedeutung umstritten ist. Es hat ein breites Bedeutungsspektrum und kann sowohl „verlorengehen“, „umherirren“ und „untergehen“ bedeuten. Gemeint ist wohl, dass Jakob, aber auch die Erzeltern, zeitlebens zwar der Landbesitz verheißen wurde, sie aber als Fremde gestorben sind.

Verse 6-9: Diese Verse fassen das grundlegende Heilsgeschehen für Israel zusammen: Aus dem versklavten Volk in einem fremden Land wurde ein freie Volk in dem Land, in dem Milch und Honig fließen, weil Gott das Klagen der Unterdrückten erhört.

Vers 10: Die ersten Worte setzen einen deutlichen Kontrast: sowohl gegenüber den Vorfahen, dem „heimatlosen Aramäer“, als auch gegenüber der versklavten Generation in Ägypten. „Und nun, siehe …“ – Gott hat seinem Volk ein fruchtbares Land geschenkt. Es ist scheinbar ein Widerspruch. Gemäß Vers 4 soll der Priester den Korb mit den Erstlingsfrüchten entgegennehmen und vor den Altar stellen, während hier nun ausgesagt wird, dass der Israelit selbst, die Gaben vor Gott darbringen soll. Die Funktion des Priester ist der vermittelnde Dienst zwischen dem Israeliten und Gott – daher besteht hier keine Spannung zwischen den beiden Versen. Den levitischen Priestern wurde selbst kein Anteil an dem Land gegeben, sondern ihr Dienst wurde sozusagen bezahlt durch Anteilhabe, an den Erträgen des Landes: „Die levitischen Priester - der ganze Stamm Levi - sollen nicht wie das übrige Israel Landanteil und Erbbesitz haben. Sie sollen sich von den Opferanteilen des HERRN, von seinem Erbbesitz, ernähren.“ (Deuteronomium 18,1). Die Freude über die Erstlingsfrüchte endet in einem Festmahl, an dem die Priester und auch die Fremden im Land teilhaben: "Dann sollst du fröhlich sein und dich freuen über alles Gute, das der HERR, dein Gott, dir und deiner Familie gegeben hat: du, die Leviten und die Fremden in deiner Mitte" (Vers 11). Die Nennung der Fremden ist am Ende sozusagen die ethische Lehre aus dem gesprochenen Glaubensbekenntnis:

Auslegung

Die im Bekenntnis gesprochene Erinnerung an die Befreiungsgeschichte Israels und die Hineinführung ins verheißene Land bringen dem Israeliten die Grundlage für die Ernte vor Augen. Das Leben in Freiheit ist ein Geschenk Gottes. Die von Gott zudem geschenkte Fruchtbarkeit des Landes spielt in diesem Kontext nur eine untergeordnete Rolle. Sie bietet den Anlass zum allgemeinen Dank an Gott. Anhand der Ernte wird der größere Horizont, die Geschichte Gottes mit seinem Volk, verdeutlicht. Nicht nur ist in diesen Worten Gott der Herr über die Fruchtbarkeit der Natur und über die Geschichte, sondern die Worte durchbrechen auch die Zeit: Der Bekenner identifiziert sich in seinen Worten mit der in Ägypten versklavten Generation. Er genießt sozusagen nicht nur die Früchte der Befreiung, sondern identifiziert sich auch mit dem Leid der Unterdrückten – weshalb er den Fremden im Land Anteil an dem ihm widerfahrenen Segen geben soll.   

Kunst etc.

Dem Glaubensbekenntnis liegt zentral die erfahrene Sklavenarbeit in Ägypten zugrunde. Sie ist das Kontrastbild zum Land, in dem Milch und Honig fließen. Ihren Höhepunkt erfährt die Unterdrückung der Israeliten in Exodus 5,10-19. Die Nachfahren des heimatlosen Aramäers und des ausgebeuteten Volkes kann sich nun regelmäßig zum Freudenfest am Tempel einfinden. Wer das Glaubesbekenntnis liest oder spricht, führt sich somit auch die dunklen, überwundenen Zeiten der Geschichte vor Augen, wie sie zum Beispiel Gerard Hoet (1648–1733) in einer Zeichnung für das Buch „Figures de la Bible“ (1728) darstellt.

"The Israelites cruel bondage in Egypt", von Gerard Hoet in „Figures de la Bible“, 1728 - Lizenz: gemeinfrei