Lesejahr C: 2021/2022

Evangelium (Joh 8,1-11)

81Jesus aber ging zum Ölberg.

2Am frühen Morgen begab er sich wieder in den Tempel. Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es.

3Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte

4und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt.

5Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?

6Mit diesen Worten wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.

7Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.

8Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde.

9Als sie das gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand.

10Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt?

11Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!

Überblick

„Und? Wer wirft den ersten Stein?“ – mit diesem einen Satz bringt Jesus die Selbstsicherheit der Schriftgelehrten und Pharisäer zu Fall. Bringt er auch uns zum Nachdenken?

1. Verortung im Evangelium
Die Erzählung von der Ehebrecherin ist dem Johannesevangelium erst im Laufe des 3. Jahrhunderts hinzugefügt worden. In den ältesten Handschriften des Evangeliums findet sich die Geschichte nicht. Als mündliche Erzählung ist sie jedoch sicher deutlich älter und eine Beispielgeschichte für die Auseinandersetzung Jesu mit dem Gesetzesverständnis frommer Kreise des Judentums seiner Zeit.

 

2. Aufbau
Die Erzählung beginnt mit einer grundsätzlichen Einführung in die Szene in den Versen 1-2. Die Verse 3-5 stellen eine typische Einleitung zu einem Streitgespräch zwischen Jesus und den Schriftgelehrten und Pharisäern dar. Die Verse 6-9 berichten das Handeln Jesu und der Reaktion der Gegner. Erst die Verse 10-11 widmen sich der eigentlichen Begegnung zwischen Jesus und der Ehebrecherin.

 

3. Erklärung einzelner Verse
Verse 1-2: Die Einleitung in die Szene ist nur vage mit dem Kontext zuvor verbunden. Die Auseinandersetzung Jesu mit dem Hohen Rat im Johannesevangelium 7,37-53 war eine Anschlussmöglichkeit, um die vorliegende Erzählung der Auseinandersetzung einzupflegen.

 

Verse 3-5: Die Schriftgelehrten und Pharisäer sind zwei Gruppen des Judentums, die durch ihre strenge Beachtung und strikte Auslegung des Gesetzes, also der Tora (Bücher des Mose), und Schriften des Judentums hervorstachen. Die Rolle als „Richter“ in Situationen, die gegen die Schrift verstoßen (wie hier der Ehebruch) werden sie historisch erst um 70 n. Chr., d.h. nach dem Fall des Tempels eingenommen haben. Das Geschehen im Evangelium setzt die Weisungen im Buch Levitikus 20,10 und im Buch Deuteronomium 22,22 voraus. Dort findet sich als Strafe für den Ehebruch der Tod, der in der Regel durch Steinigung herbeigeführt wurde. Da weder der Ehemann noch der Mann, mit dem der Ehebruch begangen wurde, in der Erzählung eine Rolle spielen, ist klar, dass es einzig auf das Zusammentreffen zwischen Jesus und der Frau hinausläuft.

 

Verse 6-9: Die eigentlichen Richter stellen Jesus auf die Probe, indem sie ihn um einen Richterspruch bitten. Das Ziel ihrer Frage ist offensichtlich, sie wollen Jesus dazu verleiten, das Gesetz eben nicht mit ihren und damit den althergebrachten Maßstäben anzuwenden.
Das Verhalten Jesu, in den Sand zu schreiben, und sich damit einer Antwort zu entziehen, erinnert an Jeremia 17,13. Hier ist davon die Rede, dass alle, die sich vom Herrn abwenden, in den Sand geschrieben werden – hier ist an die Namen derer, die sich vom Herrn abwenden zu denken.

Die klare Antwort Jesu erinnert an das Wort Jesu im Lukasevangelium (Lk 6,37): „Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden!“ und erreicht eine sofortige Wirkung. Alle verlassen die Szene, wobei die Ältesten, also die mit der vermeintlich größten Weisheit als erste zur Einsicht kommen und gehen.

 

Verse 10-11: Der Dialog ist kurz und knapp und hebt auf diese Weise die Dramatik der Szene hervor. Mit einem Schlag oder besser mit einer Frage sind die Ankläger verschwunden. Die Antwort der Frau: „Keiner, Herr!“ lässt in der Anrede Jesu erkennen, dass sie sich nun ihm als Richter unterstellt.

Auslegung

So offensichtlich das Vorhaben der Schriftgelehrten und Pharisäer ist, so offensichtlich ist auch die Klarheit Jesu. Seine Reaktion auf die Probe, in die er von seinen Gegnern hineingeführt werden soll ist eine doppelte.

Die erste Antwort mit brutaler Klarheit: Schau erst auf dein eigenes Leben, bevor du dich über andere als Richter erhebst! Mit der ganz einfachen Bitte, das eigene Handeln kritisch zu hinterfragen, hat Jesus Schriftgelehrte und Pharisäer entlarvt. Auch sie, die sich in der Befolgung des Gesetzes und in einem gottgefälligen Leben sicher fühlen, müssen bei nüchternem Betrachten zugeben: ‚Wir werden den Geboten selbst nicht gerecht! Wir leben nicht ohne Schuld!‘

Die zweite Antwort ist geprägt von Transparenz und Konsequenz: Auch Jesus nimmt Abstand davon über die Frau zu richten. Er hält selbst das ein, was er von den anderen fordert. Dabei geht es nicht um ein eigenes Schuldeingeständnis, sondern vor allem um den Grundsatz nicht zu richten, um selbst nicht gerichtet zu werden. Wer sich selbst nicht in einem Kreislauf des Beurteilens und Verurteilens wiederfinden zu wollen, muss sein eigenes Urteil zurückhalten. Hier ist Jesus transparent in seiner Forderung und konsequent in der Umsetzung. Doch die Konsequenz geht noch weiter: Jesus fordert die Frau auf, von nun an ein Leben ohne Sünde zu führen, mit anderen Worten es von nun an besser zu machen. Die Frau hat diese Chance für einen Neuanfang, einen zweiten Versuch nur, weil sie noch lebt, weil Jesus den Kreislauf des Be- und Verurteilens durchbrochen hat. Für sie wird es nun darum gehen, ihrerseits konsequent nach dem zu leben, was ihr gerade geschenkt wurde: Ein neues Leben, das die Möglichkeit bietet, Altes hinter sich zu lassen und in veränderter Weise durchs Leben zu gehen.

 

Die Reaktion Jesu zweifelt dabei im Übrigen nicht an der Schuld der Frau, die festgestellt wurde, er spricht auch nicht davon, das Gesetz sei nicht zu beachten. Die Pointe der Erzählung ist die Aufforderung das Leben anderer vor dem Hintergrund des eigenen Lebens zu sehen und zu beurteilen. Der realistische und ungetrübte Blick auf die eigene Schuldhaftigkeit wird dann ein vorschnelles und zu kategorisches Richten über die anderen verhindern.

Liest man das Evangelium im Zusammenhang mit der zweiten Lesung des heutigen Sonntags fällt auf, dass es auch hier im Evangelium um ein vermeintliches Sicherheitsdenken geht. Die Schriftgelehrten und Pharisäer sind sich sicher, die Gesetze und Regeln Gottes zu kennen und anwenden zu können. Doch in diesem konkreten Fall müssen auch sie feststellen, nicht so sicher auf Gottes Wegen zu gehen und nach seinen Weisungen zu handeln, wie sie es von sich selbst gerne behaupten. Wenn Paulus diese alte „Gesetzessicherheit“ dem Neuen des christlichen Lebens gegenüberstellt, meint er damit das Wissen um die Gebrochenheit des eigenen Lebens, das ein vorschnelles Urteil unterbindet. Und zugleich ist mit dem neuen Leben nach dem Vorbild Christi nicht nur das Richten über andere angezweifelt, sondern auch das Geschenk eines neuen Anfangs verbunden. Eines Anfangs, der wirklich als Chance zu etwas Neuem zu verstehen ist, einem Neuen, das erst vollendet wird, wenn Gottes Wirklichkeit ganz erreicht ist.

Kunst etc.

Besonders eindrucksvoll an dieser Darstellung des Zusammentreffens Jesu mit der Ehebrecherin einerseits und den Pharisäern und Schriftgelehrten andererseits sind die für sich sprechenden Gesichtszüge der einzelnen Personen.

 

 Lucas Cranach der Ältere, Jesus und die Ehebrecherin (ca. 1520), gemeinfrei via wikicommons
Lucas Cranach der Ältere, Jesus und die Ehebrecherin (ca. 1520), gemeinfrei via wikicommons