Man kann Abraham als Vorbild für einen festes Gottvertrauen ansehen, oder seine Bereitschaft den eigenen Sohn zu opfern, als blinden Kadavergehorsam verurteilen. Oder lässt sich Hoffnung in der Erzählung von der Bindung Isaaks finden?
1. Verortung im Buch
Kurz zuvor hatte Abraham seine Magd Hagar mit deren gemeinsamen Sohn Ismael in die Wüste geschickt - und Gott hatte das gutgeheißen. Alle zuvor Abraham gegebenen Verheißungen hängen nun am Leben seines einzigen Sohns Isaak (Genesis 21,9-13). Als dem kinderlosen Hundertjährigen und seiner neunzigjährigen Frau ein Sohn verheißen wird, lachen sie über diesen Irrgedanken (Genesis 17,17), der sich doch verwirklicht: Isaak wird geboren, wie es erstmals in Gen 15,4-5 verheißen worden war (siehe Genesis 21,1-7): „Aber siehe, das Wort des HERRN erging an ihn: Nicht er wird dich beerben, sondern dein leiblicher Sohn wird dein Erbe sein.“ Diesen Sohn soll Abraham gemäß Genesis 22,2 nun opfern.
2. Aufbau
Dass es sich um eine Prüfung Abrahams durch Gott handelt, wird im ersten Vers sozusagen wie in einer Überschrift festgestellt. Der überraschenden Forderung Gottes in Vers 2 folgt die treue Ausführung Abrahams bis zum Eingreifen eines Boten Gottes in dem Moment, als Abraham seinen Sohn Isaak opfern will (Verse 3-10). Die durch die Verse 11-12 gegebene Wende führt zum Tieropfer (Verse 13-14). Darauffolgend redet der Bote Gottes ein zweites Mal zu Abraham, und sichert ihm erneut die bereits in Genesis 12,2-3 gemachten Verheißungen zu (Verse 15-18), bevor Abraham sich auf den Rückweg begibt (Vers 19). Innerhalb der Erzählung sind die Verse 4-8 besonders hervorgehoben. Zwischen dem Aufbruch Abrahams „zu dem Ort, den ihm Gott genannt hatte“ (Vers 3) und dem Moment als „sie an den Ort kamen, den ihm Gott genannt hatte“ (Vers 9) steht das Gespräch zwischen dem wissenden Vater und dem nichts ahnenden Sohn.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: Das Thema der Erzählung wird bereits im ersten Vers deutlich benannt: Gott selbst prüft Abraham. Erst Vers 12 benennt, worum es in dieser Prüfung geht: Abrahams Gottesfurcht. Dies ist vergleichbar mit der Situation Israels am Berg Sinai, als sich Gott seinem Volk mit Donner, Blitzen, Erdbeben und Rauch offenbart – „Da sagte Mose zum Volk: Fürchtet euch nicht! Gott ist gekommen, um euch auf die Probe zu stellen. Die Furcht vor ihm soll über euch kommen, damit ihr nicht sündigt.“ (Exodus 20,20)
Verse 2-3: Nachdem Abraham seinen zweiten Sohn Ismael samt seiner Mutter Hagar verstoßen hatte, war Isaak der einzige Sohn, an dem sich die Verheißungen Gottes erfüllen konnten (siehe Verse 15-18). Zudem betont der Text die Liebe des Vaters zu seinem Sohn, die den Kontrast zur folgenden Aufforderung des Kindesopfers verschärft. Wie in Genesis 12,1 erklingt wieder eine Aufforderung an Abraham in ein fremdes Land zu gehen: diesmal das Land Morija, wo sich die folgende dramatische Szene auf einem Berg abspielen wird. In den Chronikbüchern wird später dieser Berg mit dem Tempelberg in Jerusalem gleichgesetzt, wo Israel die täglichen Opfer darbrachte (2 Chronik 3,1). Die Antwort Abrahams auf diese ungeheuerliche Aufforderung den eigenen Sohn als Brandopfer darzubringen, d.h. ihn zu töten und völlig zu verbrennen, beantwortet Abraham nicht mündlich, sondern indem er direkt mit den notwendigen Vorbereitungen beginnt und sich auf den Weg macht.
Verse 4-5: Die unaussprechliche vorbestehende Tat verdeutlicht sich in der Trennung Abrahams von seinem Dienern. Opfernder und unwissendes Opfer gehen den letzten Weg zusammen. Und dem Leser wird indirekt die Frage gestellt: Spricht Abraham eine Lüge aus, als er ihnen sagt, er werde nach der Anbetung mit seinem Sohn zurückkehren – oder deutet sich da eine trotzige Hoffnung Abrahams an?
Verse 6-8: Der Dialog zwischen Abraham und seinem Sohn wird gerahmt durch die Aussage: „beide gingen zusammen“. Im hebräischen Text wird das Gemeinsame des Weges wörtlich betont (יַחְדָּו, gesprochen: jach‘dav). Während Abraham die Mordwerkzeuge bereits in den Händen hält, lädt er selbstverständlich seinem Sohn das Feuerholz auf. Sie teilen sich sozusagen die Last, aber sie ist ungleich verteilt. Dazu im Kontrast beginnt das Gespräch zwischen Beiden: So wie Gott Abraham am Anfang beim Namen rief, so redet Isaak nun Abraham an, „Mein Vater!“; und auch hier antwortet Abraham, „Hier bin ich“. Wie in Vers 1 drückt dies eine Rede zwischen einem Übergeordnete und einem Tieferstehenden an – das Verhältnis ist nun jedoch auf den Kopf gestellt. Die Frage, die Isaak stellt liegt auf der Hand: Wie können sie opfern, wenn sie kein Opfertier haben? Die zweifach gegebene Anrede „mein Sohn“, die die Aufforderung Gottes aus Vers 2 anklingen lässt („deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst“), öffnet den Raum für die Fragen der Leser: Ist die Antwort Abrahams Ausdruck einer Hoffnung, dass es doch nicht zum Menschenopfer kommt? Oder ist es wieder eine Lüge? Vom Ende der Erzählung her gelesen, behält Abraham recht: Am Ende wird ein Widder und nicht Isaak geopfert (Vers 13).
Verse 9-10: Wie schon in Vers 3 am Anfang des Weges, so wird auch die Ankunft am Ort des Dramas nüchtern erzählt. Die Opfervorbereitungen werden aneinandergereiht aufgezählt – bei der Bindung Isaaks wird weder Gewalt noch eine Weigerung Isaaks erzählt. Obwohl dies doch der Moment ist, wenn Isaak bewusst werden muss, dass er das Opfer ist. Die Ausmalung dieses Moments überlässt der Erzähler völlig dem Leser.
Verse 11-12: Nicht Gott greift ein, sondern ein Bote Gottes aus dem Himmel, durch den Gott spricht. Diese Gestalt ist Ausdruck dafür, dass Gott in diesem dramatischen Moment nicht nur als abstraktes Wort eingreift - durch die Person wird Nähe assoziiert. Nun wird Abraham sozusagen im letzten Moment der Sinn der in Vers 1 angekündigten Prüfung offenbart. Die Frage lautete: Ist Abrahams Gottesfurcht so stark, dass er ihm nichts vorenthält? – nicht einmal seinen einzigen Sohn, von dessen Leben alle von Gott gemachten Verheißungen abhängen? - vergleiche Lukas 14,26.
Verse 13: Mit dem göttlichen Eingriff ist die Erzählung jedoch nicht beendet. Der gegebene Widder ermöglicht das die Gemeinschaft zwischen Abraham und Gott anzeigende Brandopfer.
Vers 14: Abschließend – wie häufig im Buch der Genesis – wird der Ort des Geschehens neu benannt. Der neue Name ist eine direkte Anspielung auf Abrahams Antwort an Isaak. In Vers 8 hatte er gesagt: „Gott wird sich das Lamm für das Brandopfer ausersehen“. Der neue Name des Ortes „Der HERR sieht“ wird mit der gleichen Verbform formuliert (יִרְאֶ֑ה, gesprochen: jir‘e). Deutet sich daran an, dass sich in Abrahams Antwort doch eine Hoffnung ausdrückte, die nun bestätigt ist? Die folgende Erklärung aus der Perspektive des Erzählers könnte dann doch auf den Tempelberg als Ort der regelmäßigen Gotteserscheinung hindeuten (vergleiche die Bezeichnung Land Morija in Vers 2).
Verse 15-18: Wie ein Refrain ziehen sich die Verheißungen einer großen Nachkommenschaft und des Besitzes des Landes Kanaan durch die Erzählungen Abrahams und der anderen Erzväter (vergleiche bereits Genesis 12,2-3). Auch hier werden sie nach der Prüfung wieder bekräftigt – allerdings mit zwei Eigenheiten: (1.) Erstmals werden diese Zusagen mit einem Schwur JHWHs verbunden. (2.) Neu ist die Zusage, dass die Nachkommen Abrahams ihre Feinde besiegen werden. Bemerkenswert ist nun der letzte Halbsatz dieses Abschnittes: „weil Du auf meine Stimmte gehört hast“. Diese Formulierung ist offen für viele Anknüpfungspunkte: die Aufforderung das Land seiner Väter zu verlassen (Genesis 12,1), der Befehl seinen einzigen Sohn als Opfer darzubringen (Gen 22,2), die Stimme des Boten Gottes, die ihn im letzten Moment befahl Isaak nicht zu opfern (Vers 11).
Vers 19: Abraham kehrt zurück nach Beerscheba, wo er hergekommen war (siehe Genesis 21,22-34). Dass nur Abraham und nicht Isaak erwähnt wird, ist auf den ersten Blick verwunderlich. Der Erzähler betont damit jedoch lediglich, dass Abraham die Hauptperson der Geschichte war – und Isaak wird im Hebräischen in dem Wort יַחְדָּ֖ו (siehe Vers 6 und 8) angedeutet: sie kehrten zusammen zurück.