Lesejahr C: 2024/2025

Evangelium (Lk 10,1-12.17-20)

101Danach suchte der Herr zweiundsiebzig andere aus und sandte sie zu zweit vor sich her in alle Städte und Ortschaften, in die er selbst gehen wollte.

2Er sagte zu ihnen: Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeiter. Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden!

3Geht! Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe.

4Nehmt keinen Geldbeutel mit, keine Vorratstasche und keine Schuhe! Grüßt niemanden auf dem Weg!

5Wenn ihr in ein Haus kommt, so sagt als Erstes: Friede diesem Haus!

6Und wenn dort ein Sohn des Friedens wohnt, wird euer Friede auf ihm ruhen; andernfalls wird er zu euch zurückkehren.

7Bleibt in diesem Haus, esst und trinkt, was man euch anbietet; denn wer arbeitet, ist seines Lohnes wert. Zieht nicht von einem Haus in ein anderes!

8Wenn ihr in eine Stadt kommt und man euch aufnimmt, so esst, was man euch vorsetzt.

9Heilt die Kranken, die dort sind, und sagt ihnen: Das Reich Gottes ist euch nahe!

10Wenn ihr aber in eine Stadt kommt, in der man euch nicht aufnimmt, dann geht auf die Straße hinaus und ruft:

11Selbst den Staub eurer Stadt, der an unseren Füßen klebt, lassen wir euch zurück; doch das sollt ihr wissen: Das Reich Gottes ist nahe.

12Ich sage euch: Sodom wird es an jenem Tag erträglicher ergehen als dieser Stadt.

17Die Zweiundsiebzig kehrten zurück und sagten voller Freude: Herr, sogar die Dämonen sind uns in deinem Namen untertan.

18Da sagte er zu ihnen: Ich sah den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel fallen.

19Siehe, ich habe euch die Vollmacht gegeben, auf Schlangen und Skorpione zu treten und über die ganze Macht des Feindes. Nichts wird euch schaden können.

20Doch freut euch nicht darüber, dass euch die Geister gehorchen, sondern freut euch darüber, dass eure Namen im Himmel verzeichnet sind!

Überblick

Wenn Schafe von den Wölfen wiederkommen. Die Strahlkraft der frohen Botschaft erfahren 72 Jünger hautnah.

1. Verortung im Evangelium
Seit Lukasevangelium (Lk) 9,51 befindet sich Jesus auf dem Weg nach Jerusalem, daher spielen alle Begegnungen und Szenen von dort an „unterwegs“. So auch hier die Aussendung der 72, die in Ortschaften gehen sollen, die entlang des Weges nach Jerusalem liegen. Bereits in Lk 9,1-6 waren die Zwölf Apostel von Jesus ausgesandt worden und hatten nach ihrer Rückkehr von ihren Erlebnissen berichtet (Lk 9,10). Die vorliegende Szene nimmt diese Erzählung auf und weitet ihr Geschehen aus auf 72 namenlose andere, die Jesu Botschaft verkünden.

 

 

2. Aufbau
Vers 1 setzt den Rahmen für die gesamte Szene und führt in den Sachverhalt ein. Die Verse 2-12 geben die Weisungen Jesu an die Ausgesandten Jünger wieder. Vers 17 beschreibt die Rückkehr und das Ergebnis der Aussendung, das Jesus dann mit den Versen 18-20 allgemein kommentiert.

 

 

3. Erklärung einzelner Verse


Vers 1: In dem Wort „aussuchen“ (anadeiknymi, griechisch: ἀναδείκνυμι) steckt nicht nur der Gedanke einer Auswahl, sondern zugleich die Übertragung einer Aufgabe. Jesus überträgt also eine klar definierte Aufgabe an die 72 „anderen“. Im Gegensatz zu den Aposteln (Lk 9,1-6) gibt es für diese Gruppe keine gemeinsame Bezeichnung, sie sind also kein fester Kreis oder durch bestimmte Merkmale miteinander verbunden. Die paarweise Sendung entspricht einerseits der frühchristlichen Praxis von umherziehenden Predigern, andererseits wird das jüdische Prinzip der doppelten Zeugenschaft aufgenommen, wonach in wichtigen Sachverhalten nur das Zeugnis von zwei Personen gilt (vgl. Deuteronomium 17,6).

 

Verse 2-4: Das Bild der Ernte steht für eine Aufgabe, die in einem bestimmten Zeitfenster erfüllt werden muss. Dabei steht die Menge der zu erwartenden Ernte in einem Missverhältnis zu den vorhandenen Arbeitskräften. Das Erntebild weist schon voraus in die Dringlichkeit der Botschaft, die die 72 verkünden. Der Dringlichkeit und der dahinterstehenden Radikalität der Verkündigung entspricht auch das Verbot, Geldbeutel und Vorratstasche mitzunehmen. Das Verbot Schuhe „mitzunehmen“ meint wahrscheinlich, dass kein zweites Paar Schuhe mitgeführt werden soll und nicht ganz auf Schuhe zu verzichten. Da sowohl die Tasche, wie der Geldbeutel wie die Schuhe mit einem Verb zusammengefügt sind und es jeweils um das „Mitsichtragen“ geht. Ebenfalls in Richtung Dringlichkeit geht die Weisung „unterwegs niemanden zu grüßen“, sie findet in Vers 5 jedoch noch eine inhaltliche Erweiterung.

Das Bild von der Aussendung der Schafe mitten unter die Wölfe knüpft wie das Bild der Ernte an der Alltagserfahrung der Menschen an. Sie alle wissen, dass Schafe unter Wölfen keine reale Überlebenschance haben.

 

Verse 5-7: Die Hinweise zum Verhalten ergänzen die Anweisungen zum „Gepäck“. Hier steht nun im Fokus, dass die 72 mit ihrer Botschaft Aufnahme finden. Entsprechend wünschen sie den Frieden, verweilen, essen und trinken. In Vers 6 spiegelt sich dabei jedoch die Erfahrung wider, dass die Verkünder der Botschaft nicht überall willkommen sind. Die Hinweise zum Verhalten bei der Aufnahme in ein Haus sind zum Teil identisch mit denen bei der Aussendung der Zwölf Apostel (Lk 9,1-6). Der Hinweis auf den verdienten Lohn, durchbricht die Systematik der Aufforderungen etwas, hier ist auch nicht vollständig ersichtlich, ob er sich an die Ausgesandten als Bestätigung richtet oder an die Aufnehmenden als Anforderung.

 

Verse 8-11: Die Situation der 72 wird von dem Haus, in das sie aufgenommen werden (oder auch nicht) nun auf die Ebene der Stadt überführt. Zunächst geht es um den Fall der Aufnahme in der Stadt. Ist die gelungen, sollen sie die Kranken heilen und die Nähe des Gottesreiches verkünden. Im Gegensatz zur Aussendung der Zwölf, bei der auch Heilung und Verkündigung des Gottesreiches verbunden war, ist die Verkündigungsnachricht hier aber „wörtlich“ wiedergegeben: „Das Reich Gottes ist nahe.“ Die 72 bekommen also den konkreten Inhalt und Wortlaut der Botschaft vorgegeben.

Danach rückt der Fall des Nicht-Aufgenommen-Werdens“ in den Blick. Wenn kein „Sohn des Friedens“ (Vers 6) die 72 aufnimmt, sollen sie öffentlich (auf der Straße rufend) darauf reagieren. Das Abschütteln des Staubs von den Füßen macht symbolisch deutlich, dass jede Form von Kontakt abgebrochen wird. Für diejenigen, denen die 72 auch den Staub ihrer Stadt zurücklassen, ist die Ankündigung des Gottesreiches kein Heilswort, sondern klingt mahnend bis drohend.

 

Vers 12: Das Gerichtswort gegen die Städte, die die 72 abweisen bzw. nicht aufnehmen, ist klar und deutlich. Es nimmt Bezug auf die Vernichtung Sodoms im Buch Genesis, die unter anderem vollzogen wird, weil die Menschen dort gegen das Recht der Gastfreundschaft verstießen (Genesis 19,4-11). Im Vergleich mit dem Schicksal Sodoms wird es den Städten hier schlimmer ergehen, so sagt es das Wort Jesu. Da das Gerichtswort jedoch nicht an die eigentlichen Adressaten, also die Menschen in den Städten gerichtet ist, sondern an die 72 selbst, liegt der Schwerpunkt der Aussage auch bei den Ausgesandten. Die Tatsache, dass die Abweisung der Boten Unheil nach sich zieht, stärkt nämlich im Wesentlichen die Boten selbst. Die angedrohten Konsequenzen ihrer Ablehnung beweisen den 72 die Wichtigkeit ihres Auftrags und sollen ihr Selbstbewusstsein als Botschafter des Gottesreiches stärken. Bestärkt wird dieser Fokus durch Vers 16, in dem es heißt: „Wer euch hört, der hört mich, und wer euch ablehnt, der lehnt mich ab; wer aber mich ablehnt, der lehnt den ab, der mich gesandt hat.“ Die 72 sind nicht nur im Auftrag Jesu unterwegs, sondern sie sind seine Repräsentanten. Wer sie also ablehnt, lehnt Jesus selbst und damit Gott ab. So wird das drastische Wort gegen die Städte verständlicher.

 

Vers 17: Die Rückkehr der 72 und der Bericht über das Erlebte entspricht der Rückkehr der Zwölf Apostel (Lk 9,10). Dort allerdings wird nicht von der Unterwerfung der Dämonen berichtet. Bisher waren Dämonen im Lukasevangelium nur von Jesus selbst unterworfen worden, wobei sie immer seinen Namen ausriefen (Lk 4,34.41 und Lk 8,28). Nun also gelingt dies auch den 72, wenn sie den Dämonen im Namen Jesu gegenübertreten.

 

Verse 18-20: Jesus beginnt seine Antwort und Kommentierung der Ereignisse mit einer eigenen visionären Erfahrung. Das Erleben der 72 (Dämonen sind ihnen untertan) wird durch das Wort Jesu begründet. Er selbst hat „gesehen“, dass der Satan – also das Böse schlechthin – vom Himmel gefallen ist und damit seinen Einfluss verloren hat. Weil der Satan entmachtet ist, kann Jesus seinen Jüngern die Vollmacht übertragen, die Dämonen zu vertreiben und letztlich alle feindlichen und bedrohlichen Kräfte zu überwinden. In diesem Sinne sind die „Schlangen und Skorpione“ zu verstehen, die als Sinnbild für feindliche Mächte stehen.

Abschließend gibt Jesus den 72 noch eine weitere Erklärung für das Gelingen ihres Verkündigungsauftrags: Ihre Namen sind im Himmel verzeichnet. Dies entspricht dem Motiv eines himmlischen Buches oder Buch des Lebens, in dem die Namen der Erwählten, derer, die auf Gott vertrauen, verzeichnet ist (z.B. Jesaja 4,3). Weil die 72 zu denen gehören, die Gott und seiner Botschaft vertrauen, und damit in der himmlischen Welt verzeichnet sind und zu ihr gehören, haben sie über die Dämonen Verfügungsgewalt.
Neben dieser Bestätigung ihrer Vollmacht klingt im letzten Wort Jesu hier aber auch an, die Jünger sollten das Verzeichnetsein als eigentliche Auszeichnung begreifen, nicht die Unterwerfung der Dämonen.

Auslegung

Wozu Jesus seine Jünger aussendet, scheint einem „Himmelfahrts-Kommando“ gleich zu kommen. Denn wie „Schafe unter Wölfe“ gesendet zu werden, scheint nicht nur wenig aussichtsreich, sondern aus der Perspektive Jesu heraus sogar grob fahrlässig. Wie kann er 72 seiner Jünger mit diesen Worten losschicken und sie der Gefährdung aussetzen? Doch die Ereignisse sprechen eine andere Sprache: Die 72 kehren „voller Freude“ zurück und können sogar berichten, dass ihnen die Dämonen gehorchen.

Die Aussendung und Rückkehr der 72 ist mit vielen Metaphern versehen, die der Alltagswelt der Jünger, aber auch der Leser des Lukasevangeliums entsprechen. Nicht nur die Gegenüberstellung von Schafen und Wölfen, sondern auch das Bild der Ernte und die Schlangen und Skorpione als feindliche Wesen sind den alltäglichen Erfahrungen der Menschen entnommen. Auf diese Weise wird sowohl den 72 als auch allen Hörern und Lesern des Evangeliums der Auftrag zur Verkündigung des Gottesreiches nahegebracht. Zwei Dinge scheinen dabei besonders wichtig. Zum einen ist der Auftrag dringlich, denn wie in der Erntezeit gibt es nur ein klar umrissenes Zeitfenster, um die Aufgabe zu erfüllen. Zum anderen ist der Auftrag kein leichter und die 72 werden sich Bedrängnissen ausgesetzt sehen, die sie nicht voraussehen können.
Wenn Jesus nun den Auftrag erteilt, in die Städte und Ortschaften zu gehen, in die er selbst kommen will, dann gibt er den 72 in ungeahntem Maße Anteil an seiner eigenen Sendung. Jesus ist seit Lk 9,51 auf dem Weg nach Jerusalem. Auf dem Weg nach Jerusalem bedeutet aber nicht nur ein Ziel zu haben, sondern auch dem Zielpunkt seiner Sendung, also Kreuz, Auferstehung und Himmelfahrt entgegenzugehen. Von diesem Ende aus gesehen, ist das Zeitfenster knapp und die zu verkündige Botschaft dringlich. Jesus möchte das Reich Gottes den Menschen verkünden und es ihnen in Wundern und Gleichnissen nahe bringen – das ist seine Sendung. Er möchte Menschen aufrütteln und einladen, ihr Leben auf Gott hin auszurichten und ihm zu vertrauen. Genau mit diesem Ziel sendet er auch die 72 aus. Sie sollen den Menschen deutlich machen: Das Reich Gottes ist nahe. Nahe ist das Reich Gottes aber, weil Jesus selbst kommt und es ihnen zeigt durch seine Gegenwart, durch seine Worte und Taten. Jesus sendet Jünger aus, damit sie dort, wohin er selbst noch gehen will, sein Kommen ankündigen. Wie nahe das Gottesreich den Städten und Ortschaften schon gekommen ist, merken diese an den 72. Sie sind nämlich nicht nur Boten, die eine Nachricht überbringen, sondern in ihrem Tun und Verkünden selbst schon Zeugen des Gottesreiches. In diesem Sinne sind die Tätigkeiten der 72 zu verstehen: sie sprechen Heil zu, indem sie den Frieden wünschen, sie heilen die Kranken und sie verweilen bei den Menschen. Alle diese Merkmale ihrer Sendung, sind auch Merkmale der Sendung Jesu, sie tun, was er tut.

Der Evangelist Lukas nimmt die ausgesendeten und bevollmächtigten Jünger in den Mittelpunkt der Erzählung – auch wenn sie erst in Vers 20 selbst einmal zu Wort kommen. Lukas unterstreicht die Bedeutung der Jünger als Botschafter für das Reich Gottes unterwegs zu sein. Dabei benutzt er ein Wort oder ein Motiv, das ihm im gesamten Evangelium und der Apostelgeschichte immer wieder wichtig ist: bleiben. Die 72 wie auch die Zwölf Apostel sollen bleiben, wo man sie aufnimmt. D.h. trotz der Dringlichkeit der Botschaft sollen sie keine Hektik verbreiten, sondern die Situationen, in die sie kommen und die Menschen, denen sie begegnen ernst nehmen. Bleiben meint, sich den Menschen widmen, ihre Nöte und Sorgen, ihre Freuden und Herausforderungen teilen. „Bleiben“ ist aber nicht nur als Alltagswort gemeint, dies wird deutlich, wenn man sich an zwei andere Texte erinnert, in denen das Wort vorkommt. Sowohl in der Zachäus-Geschichte (Lk 19,1-10) als auch in der Emmaus-Erzählung (Lk 24,13-35) wir das Motiv verwendet. Jesus bleibt bei Zachäus und sagt anschließend, dass dem Haus Heil geschenkt wurde. Die Jünger bitten Jesus in Emmaus bei ihnen zu bleiben und ihnen wird ebenfalls Heil geschenkt, denn sie erkennen Jesus, den Auferstandenen in ihrer Mitte. „Bleiben“ meint also nicht nur geteilte Zeit und geteiltes Leben, sondern auch Heil, das geschenkt wird. Wenn auch die Jünger bleiben sollen, dann ist dies wie auch die Heilung der Kranken und der Zuspruch des Friedens ein Moment der Gottesgegenwart, ein Zeichen, dass das Reich Gottes wirklich schon nahe ist.

Weil die 72 zu denen gehören, die Gott und seiner Botschaft vertrauen, weil sie die sind, die die Gegenwart Gottes unter sich erfahren haben in der Begegnung mit Jesus, können sie die Botschaft weitergeben. Und weil Jesus die 72 kennt und ihnen und ihrem Glauben traut, kann er sie durchaus guten Gewissens in die Welt hinaus senden. Auch wenn für sie mal nicht alles reibungslos läuft, so weiß er doch, dass sie Dinge vermögen, die sie selbst kaum erahnen. Und dass sie Fähigkeiten haben, die sie selbst am Ende staunen lassen.

Kunst etc.

In einem großen Lichtstrahl scheint in der Satan auf dem Stich Gustave Dorés aus dem Himmel herab auf die Erde zu fallen, über der sich an einer Stelle die Wolkendecke gelichtet hat. Eigentlich aber zeigt er die Reise des Satans durch die Weiten des Universums. Der Stich entstammt den Illustrationen Dorés zu John Miltons epischem Gedicht „Paradise Lost“, das die Geschichte des gestürzten Satans und dessen Versuche weiter sein Unwesen zu treiben erzählt.

 

 

 

Gustave Doré, Illustration für John Milton „Paradise Lost“ [Public domain] via wikicommons.
Gustave Doré, Illustration für John Milton „Paradise Lost“ [Public domain] via wikicommons.