Wenn Schafe von den Wölfen wiederkommen. Die Strahlkraft der frohen Botschaft erfahren 72 Jünger hautnah.
1. Verortung im Evangelium
Seit Lukasevangelium (Lk) 9,51 befindet sich Jesus auf dem Weg nach Jerusalem, daher spielen alle Begegnungen und Szenen von dort an „unterwegs“. So auch hier die Aussendung der 72, die in Ortschaften gehen sollen, die entlang des Weges nach Jerusalem liegen. Bereits in Lk 9,1-6 waren die Zwölf Apostel von Jesus ausgesandt worden und hatten nach ihrer Rückkehr von ihren Erlebnissen berichtet (Lk 9,10). Die vorliegende Szene nimmt diese Erzählung auf und weitet ihr Geschehen aus auf 72 namenlose andere, die Jesu Botschaft verkünden.
2. Aufbau
Vers 1 setzt den Rahmen für die gesamte Szene und führt in den Sachverhalt ein. Die Verse 2-12 geben die Weisungen Jesu an die Ausgesandten Jünger wieder. Vers 17 beschreibt die Rückkehr und das Ergebnis der Aussendung, das Jesus dann mit den Versen 18-20 allgemein kommentiert.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: In dem Wort „aussuchen“ (anadeiknymi, griechisch: ἀναδείκνυμι) steckt nicht nur der Gedanke einer Auswahl, sondern zugleich die Übertragung einer Aufgabe. Jesus überträgt also eine klar definierte Aufgabe an die 72 „anderen“. Im Gegensatz zu den Aposteln (Lk 9,1-6) gibt es für diese Gruppe keine gemeinsame Bezeichnung, sie sind also kein fester Kreis oder durch bestimmte Merkmale miteinander verbunden. Die paarweise Sendung entspricht einerseits der frühchristlichen Praxis von umherziehenden Predigern, andererseits wird das jüdische Prinzip der doppelten Zeugenschaft aufgenommen, wonach in wichtigen Sachverhalten nur das Zeugnis von zwei Personen gilt (vgl. Deuteronomium 17,6).
Verse 2-4: Das Bild der Ernte steht für eine Aufgabe, die in einem bestimmten Zeitfenster erfüllt werden muss. Dabei steht die Menge der zu erwartenden Ernte in einem Missverhältnis zu den vorhandenen Arbeitskräften. Das Erntebild weist schon voraus in die Dringlichkeit der Botschaft, die die 72 verkünden. Der Dringlichkeit und der dahinterstehenden Radikalität der Verkündigung entspricht auch das Verbot, Geldbeutel und Vorratstasche mitzunehmen. Das Verbot Schuhe „mitzunehmen“ meint wahrscheinlich, dass kein zweites Paar Schuhe mitgeführt werden soll und nicht ganz auf Schuhe zu verzichten. Da sowohl die Tasche, wie der Geldbeutel wie die Schuhe mit einem Verb zusammengefügt sind und es jeweils um das „Mitsichtragen“ geht. Ebenfalls in Richtung Dringlichkeit geht die Weisung „unterwegs niemanden zu grüßen“, sie findet in Vers 5 jedoch noch eine inhaltliche Erweiterung.
Das Bild von der Aussendung der Schafe mitten unter die Wölfe knüpft wie das Bild der Ernte an der Alltagserfahrung der Menschen an. Sie alle wissen, dass Schafe unter Wölfen keine reale Überlebenschance haben.
Verse 5-7: Die Hinweise zum Verhalten ergänzen die Anweisungen zum „Gepäck“. Hier steht nun im Fokus, dass die 72 mit ihrer Botschaft Aufnahme finden. Entsprechend wünschen sie den Frieden, verweilen, essen und trinken. In Vers 6 spiegelt sich dabei jedoch die Erfahrung wider, dass die Verkünder der Botschaft nicht überall willkommen sind. Die Hinweise zum Verhalten bei der Aufnahme in ein Haus sind zum Teil identisch mit denen bei der Aussendung der Zwölf Apostel (Lk 9,1-6). Der Hinweis auf den verdienten Lohn, durchbricht die Systematik der Aufforderungen etwas, hier ist auch nicht vollständig ersichtlich, ob er sich an die Ausgesandten als Bestätigung richtet oder an die Aufnehmenden als Anforderung.
Verse 8-11: Die Situation der 72 wird von dem Haus, in das sie aufgenommen werden (oder auch nicht) nun auf die Ebene der Stadt überführt. Zunächst geht es um den Fall der Aufnahme in der Stadt. Ist die gelungen, sollen sie die Kranken heilen und die Nähe des Gottesreiches verkünden. Im Gegensatz zur Aussendung der Zwölf, bei der auch Heilung und Verkündigung des Gottesreiches verbunden war, ist die Verkündigungsnachricht hier aber „wörtlich“ wiedergegeben: „Das Reich Gottes ist nahe.“ Die 72 bekommen also den konkreten Inhalt und Wortlaut der Botschaft vorgegeben.
Danach rückt der Fall des Nicht-Aufgenommen-Werdens“ in den Blick. Wenn kein „Sohn des Friedens“ (Vers 6) die 72 aufnimmt, sollen sie öffentlich (auf der Straße rufend) darauf reagieren. Das Abschütteln des Staubs von den Füßen macht symbolisch deutlich, dass jede Form von Kontakt abgebrochen wird. Für diejenigen, denen die 72 auch den Staub ihrer Stadt zurücklassen, ist die Ankündigung des Gottesreiches kein Heilswort, sondern klingt mahnend bis drohend.
Vers 12: Das Gerichtswort gegen die Städte, die die 72 abweisen bzw. nicht aufnehmen, ist klar und deutlich. Es nimmt Bezug auf die Vernichtung Sodoms im Buch Genesis, die unter anderem vollzogen wird, weil die Menschen dort gegen das Recht der Gastfreundschaft verstießen (Genesis 19,4-11). Im Vergleich mit dem Schicksal Sodoms wird es den Städten hier schlimmer ergehen, so sagt es das Wort Jesu. Da das Gerichtswort jedoch nicht an die eigentlichen Adressaten, also die Menschen in den Städten gerichtet ist, sondern an die 72 selbst, liegt der Schwerpunkt der Aussage auch bei den Ausgesandten. Die Tatsache, dass die Abweisung der Boten Unheil nach sich zieht, stärkt nämlich im Wesentlichen die Boten selbst. Die angedrohten Konsequenzen ihrer Ablehnung beweisen den 72 die Wichtigkeit ihres Auftrags und sollen ihr Selbstbewusstsein als Botschafter des Gottesreiches stärken. Bestärkt wird dieser Fokus durch Vers 16, in dem es heißt: „Wer euch hört, der hört mich, und wer euch ablehnt, der lehnt mich ab; wer aber mich ablehnt, der lehnt den ab, der mich gesandt hat.“ Die 72 sind nicht nur im Auftrag Jesu unterwegs, sondern sie sind seine Repräsentanten. Wer sie also ablehnt, lehnt Jesus selbst und damit Gott ab. So wird das drastische Wort gegen die Städte verständlicher.
Vers 17: Die Rückkehr der 72 und der Bericht über das Erlebte entspricht der Rückkehr der Zwölf Apostel (Lk 9,10). Dort allerdings wird nicht von der Unterwerfung der Dämonen berichtet. Bisher waren Dämonen im Lukasevangelium nur von Jesus selbst unterworfen worden, wobei sie immer seinen Namen ausriefen (Lk 4,34.41 und Lk 8,28). Nun also gelingt dies auch den 72, wenn sie den Dämonen im Namen Jesu gegenübertreten.
Verse 18-20: Jesus beginnt seine Antwort und Kommentierung der Ereignisse mit einer eigenen visionären Erfahrung. Das Erleben der 72 (Dämonen sind ihnen untertan) wird durch das Wort Jesu begründet. Er selbst hat „gesehen“, dass der Satan – also das Böse schlechthin – vom Himmel gefallen ist und damit seinen Einfluss verloren hat. Weil der Satan entmachtet ist, kann Jesus seinen Jüngern die Vollmacht übertragen, die Dämonen zu vertreiben und letztlich alle feindlichen und bedrohlichen Kräfte zu überwinden. In diesem Sinne sind die „Schlangen und Skorpione“ zu verstehen, die als Sinnbild für feindliche Mächte stehen.
Abschließend gibt Jesus den 72 noch eine weitere Erklärung für das Gelingen ihres Verkündigungsauftrags: Ihre Namen sind im Himmel verzeichnet. Dies entspricht dem Motiv eines himmlischen Buches oder Buch des Lebens, in dem die Namen der Erwählten, derer, die auf Gott vertrauen, verzeichnet ist (z.B. Jesaja 4,3). Weil die 72 zu denen gehören, die Gott und seiner Botschaft vertrauen, und damit in der himmlischen Welt verzeichnet sind und zu ihr gehören, haben sie über die Dämonen Verfügungsgewalt.
Neben dieser Bestätigung ihrer Vollmacht klingt im letzten Wort Jesu hier aber auch an, die Jünger sollten das Verzeichnetsein als eigentliche Auszeichnung begreifen, nicht die Unterwerfung der Dämonen.