Die Ersten werden die Ersten sein – dieses Urteil spricht der Prophet Amos über die Eliten des Nordreichs Israel. Er kritisiert ihre unbegründete Selbstsicherheit.
1. Verortung im Buch
Religiöse und weltliche Feste und Feierlichkeiten sind abscheulich, wenn die Moral abwesend ist. Diese Kritik äußert der Prophet Amos sehr deutlich in Amos 5,18-6,7. Radikal hatte Gott sich vom Kult des Nordreiches abgewandt: „Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feiern nicht riechen. Wenn ihr mir Brandopfer darbringt, ich habe kein Gefallen an euren Gaben und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen. Weg mit dem Lärm deiner Lieder! Dein Harfenspiel will ich nicht hören, sondern das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“ (Amos 5,21-24). Nun wird die Lebensführung der Eliten kritisiert. Diese Kritik bereitet den Leser und die Leserin auf die dritte Vision im Buch Amos vor, in der er die kommende Bestrafung Israels ankündigt (Amos 7,7-8). Der Selbstsicherheit der Eliten wird das über sie hereinbrechende Urteil Gottes gegenübergestellt. Aus den Ersten des Volkes werden die Ersten werden, die in die Verbannung geführt werden (Amos 6,7). Ohne Moral hat selbst eine Erwählung durch Gott keine Bedeutung!
2. Aufbau
Im biblischen Text wird der Wehe-Ruf gefolgt von einer rhethorischen Frage, die verdeutlicht, dass Israel trotz seiner Erwählung nicht anders ist als Völker, die bereits untergegangen sind (Vers 2). In den Versen 3-6 wird der überhebliche Stolz und die damit einhergehende Selbstsicherheit und der ausufernde Luxus als Sünde der Eliten des Nordreiches Israel angeführt. Dieser Schuldaufweis dient als Begründung für die in Vers 7 angekündigte Verbannung aus dem Land. Ein hebräisches Wort verdeutlicht im Verlauf des Textes dessen Aussageintention: רֵאשִׁית (gesprochen: reschit) in Vers 1 und 6, bzw. בְּרֹ֣אשׁ (gesprochen: berosch) in Vers 7. Diejenigen, die sich zu der ersten/höchsten der Nationen zählen (Vers 1), und sich mit dem ersten/besten Ölen verwöhnen (Vers 6), werden als Erste den Zug in die Verbannung anführen (Vers 7).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1a: Der Ausruf, mit dem der Text beginnt, הוֹי (gesprochen: hoi), wird auch in der Totenklage verwendet und drückt Missfallen und Schmerz über etwas aus. Mit ihm werden sowohl die Mächtigen in Zion, das ist die Hauptstadt des Südreiches Juda, als auch die Eliten in Samaria, das ist die Hauptstadt des Nordreiches Israel, angeklagt. Sie sind nicht im positiven Sinne sorglos und selbstsicher, sondern der Prophet verurteilt ihre fehlgeleitete Sorglosigkeit, die auch als eine blinde Selbstüberschätzung beschrieben werden kann. Sie wird genauer in den folgenden Versen, die nicht zur Lesung gehören, beschrieben: Die Vornehmen rechnen sich zu den großen Völkern, aber sollten doch wissen, dass auch bedeutende Völker in der Geschichte untergegangen sind (Vers 2); sie haben die Frucht vor einem Gottesgericht verdrängt und so das kommende gewaltsame Ende herbeigeführt (Vers 3).
Vers 4: Wie ausufernd der Luxus der Eliten ist, wird plastisch beschrieben. Sie liegen auf Betten mit kostbaren Elfenbeineinlagen, wie sie zum Beispiel der judäische König Hiskija dem mächtigen, assyrischen Großreichkönig Sanherib geschenkt hat. Nicht nur der Luxus wird angeklagt, sondern auch das Verhalten der im Luxus Schwelgenden. Sie – wörtlich übersetzt – „hängen herum“ auf ihren Polstern, sie sind sozusagen schlaff von ihrem Luxus. Zudem klagt Amos die luxuriöse Füllerei und Übersättigung an: Sie verspeisen das zarteste Fleisch der Lämmer und der besonders wertvollen, zum Mästen festgebundenen, fetten Kälber.
Vers 5: Unter den Exegeten ist es umstritten, ob hier ein „Singen“ bzw. „Jaulen“ zur Laute gemeint ist, oder allgemeiner ein „Improvisieren“. Das Improvisieren würde eher passen zu dem folgenden Vergleich mit David. Für ihre Gelage erfinden sie Musikinstrumente, wie König David. Im Buch der Chronik heißt es über ihn: „Die Priester taten ihren Dienst und die Leviten spielten die Instrumente für die Lieder des HERRN. König David hatte diese Geräte anfertigen lassen, um den HERRN zu preisen […]“ (2 Chronik 7,6; vgl. 29,27).
Vers 6: In ihrem Gelage verschwimmen die Grenzen zwischen Kult und eigener Belustigung, denn sie trinken ihren Wein aus Opferschalen. Der hebräische Begriff מִזְרָק (gesprochen: mizrak) wird an anderen Stellen im Alten Testament nur in kultischen Zusammenhängen verwendet. Er leitet sich vom hebräischen Wort für „sprengen“ ab, das unter anderem verwendet wird für den kultischen Akt des Blutsprengens an den Altar. Die Vornehmen des Volkes nutzen diese Opferschalen nun jedoch nicht zum Gottesdienst, sondern zur eigenen Trunkenheit. Auch im Umgang mit den feinsten Ölen wird eine Grenzüberschreitung angedeutet. Das Einsalben mit Ölen galt auch als kosmetischer Akt, aber das hier verwendete Verb משׁח (gesprochen: maschah) wird auch verwendet, um die Heiligung von Objekten anzuzeigen und Personen zum Dienst als König, Priester oder Propheten auszuerwählen. All der Luxus und die beschriebenen Handlungen werden am Ende mit der Realität konterkariert. Sie genießen den Luxus und werden – wörtlich übersetzt – „nicht krank aufgrund des Zusammenbruchs Josefs“. Mit Josef ist das Nordreich Israel bezeichnet, das dem Untergang geweiht ist, ab 738 v. Chr. immer stärker von Assyrien bedrängt wird und 722 v. Chr. endgültig untergeht. Die Lebenswelt der Eliten steht im krassen Kontrast zur Realität.
Vers 7: Weil sich die Eliten der Realität verweigert haben, werden sie dem Volk in die Verbannung voranziehen. Ihre Ausschweifungen werden zusammenfassend mit dem Begriff מַרְזֵחַ (gesprochen: mazreach) beschrieben. In der Umwelt des Alten Testaments werden damit kultische Festversammlungen und -mähler bezeichnet. Im Alten Testament hingegen kommt es ein weiteres Mal nur in Jeremia 16,5 vor und beschreibt dort eine Trauerfeier. Von außen betrachtet, im Angesicht der Realität beschreibt der Prophet Amos die luxuriösen Ausschweifungen der Eliten als nichts anderes, als eine Trauerfeier. Aber das Feiern hat nur ein Ende. Und um dies auszudrücken, wird ein Begriff aus Vers 4 wieder aufgenommen. Die, die auf den Polstern herumhingen, statt zu handeln, deren Fest ist nun vorbei; wörtlich: „beendet ist das Fest der Herumhängenden“, oder vielleicht besser übersetzt, „das Fest der Fläzenden“.