Lesejahr C: 2021/2022

2. Lesung (Offb 1,9-11a.12-13.17-19)

9Ich, Johannes, euer Bruder und Gefährte in der Bedrängnis, in der Königsherrschaft und im standhaften Ausharren in Jesus, war auf der Insel, die Patmos heißt, um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses für Jesus.

10Am Tag des Herrn wurde ich vom Geist ergriffen und hörte hinter mir eine Stimme, laut wie eine Posaune.

11Sie sprach: Schreib das, was du siehst, in ein Buch [und schick es an die sieben Gemeinden: nach Ephesus, nach Smyrna, nach Pergamon, nach Thyatira, nach Sardes, nach Philadelphia und nach Laodizea]!

12Da wandte ich mich um, weil ich die Stimme erblicken wollte, die zu mir sprach. Als ich mich umwandte, sah ich sieben goldene Leuchter

13und mitten unter den Leuchtern einen gleich einem Menschensohn; er war bekleidet mit einem Gewand bis auf die Füße und um die Brust trug er einen Gürtel aus Gold.

17Als ich ihn sah, fiel ich wie tot vor seinen Füßen nieder. Er aber legte seine rechte Hand auf mich und sagte: Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte

18und der Lebendige. Ich war tot, doch siehe, ich lebe in alle Ewigkeit und ich habe die Schlüssel zum Tod und zur Unterwelt.

19Schreib auf, was du gesehen hast: was ist und was danach geschehen wird.

Überblick

"Apocalypse now"

[Dieses etwas längere Kapitel versteht sich als allgemeine Einleitung in das für heutige Lesende besonders fremde Buch der Offenbarung. Es mag helfen, die Zweiten Lesungen der Sonntage in der Osterzeit, die allesamt diesem Buch entnommen sind, besser zu verstehen und einordnen zu können.

Wem die Lektüre dieses Kapitels ein zu langer Anweg zum Überblick über die Lesung selbst ist, kann einfach zur nächsten Hauptüberschrift "Die Zweite Lesung des Sonntags im Überblick" weiterscrollen.]

 

Die Überschrift "Apocalypse now" trifft in mehrfacher Weise zu:

  1. Mit dem Zweiten Sonntag in der Osterzeit beginnt eine Folge von Lesungen aus dem Buch der Offenbarung des Johannes (griechisch: Apokálypsis, eingedeutscht zu: Apokalypse) als Zweite Lesung. Das heißt: Dieses sehr besondere Buch begleitet die Gottesdienstbesucher/innen die ganze Osterzeit - also jetzt/"now".
  2. Das Wort Apokalypse bedeutet: "Aufdeckung, Enthüllung". Diese "Enthüllung" ist doppelt zu verstehen: Das Buch "enthüllt" etwas über Gott: über seine himmlische Macht, die allen irdischen Mächten ein Ende setzen wird, und die Rettung derer, die allein auf diesen Gott setzen. Diese Art von "Enthüllung" nennt die Theologie "Offenbarung". Die Apokalypse "enthüllt" aber auch die Mechanismen, die allein der Unterdrückung, rücksichtsloser Durchsetzung eigener Machtinteressen und Pflege der Selbstherrlichkeit dienen. Insoweit weiß der Seher Johannes, der hinter dieser Schrift steht, sowohl mehr von Gott als andere als auch mehr vom Menschen denn diejenigen, die alle Selbstdistanz und damit die Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstkorrektur verloren haben."Enthüllung - jetzt!" - das ist in diesem doppelten Sinn tatsächlich das Thema der Offenbarung des Johannes.
  3. Die Überschrift ist der Titel zu einem Film (1979), in dem es um den Wahnsinn des Krieges am Beispiel des Vietnamkrieges geht. Nicht zufällig wude in der Titelwahl für den Film auf ein biblisches Buch zurückgegriffen. Denn kriegerische Horrorszenarien kennzeichnen zumindest unter Anderem auch die Offenbarung des Johannes sowie weitere Bücher aus den allerletzten Jahrhunderten vor Christus, die man unter dem Begriff "Apokalyptik" zusammenfasst. Davon ist in der Lesung des Zweiten Sonntags der Osterzeit allerdings noch nichts zu spüren. Und tatsächlich sind die furchterregenden Bilder nur ein kleiner Teil der Eigenarten der apokalyptischen Bücher. 
  4. Größere Aufmerksamkeit fand dieses letzte Buch der Bibel im Horro des Zweiten Weltkriegs. Der zumindest in Köln sehr bekannte Kölner Stadtdechant Robert Grosche (1888 - 1967) zum Beispiel widmete der Offenbarung des Johannes im letzten Kriegsjahr eine Predigtreihe. Dass die in der Apokalypse aufgezeigte, sich ins Unbändige gebärdende politische Macht nach 1945 noch einmal in Europa aufscheint, haben wohl die wenigsten erwartet, zeigt aber zugleich, wie grundsätzlich, d. h. durchaus zeitübergreifend die enthüllenden, besser: entlarvenden Worte des apokalyptischen Sehers Johannes sind.

 

Damit stellt sich die Frage: Was ist die Offenbarung des Johannes für ein biblisches Buch? Was will es eigentlich?

Entstanden in den 90er Jahren des 1. Jh. n. Chr., vielleicht sogar erst in den ersten Jahrzehnten des 2. Jahrhunderts unter Kaiser  Trajan (98 - 117 n. Chr.) bzw. Hadrian (117 - 138 n. Chr.), antwortet es auf die von den Christen als bedrohlich erfahrene Herrschaft Roms, die in Nero (54 - 68 n. Chr.) einen negativen Höhepunkt erlebt hatte. Der oft mit der Offenbarung  in Verbindung gebrachte  Kaiser Domitian (81 - 96 n. Chr.) war zwar weniger schrecklich, galt aber als Wiedergeburt Neros. Zumindest einzelne Tote (genannt wird z. B. ein gewisser Antipas in Offenbarung 2,13) sind bereits zu beklagen, was auch gut in die folgenden Jahrzehnte passen würde, die eine gerichtliche Prozessordnung gegen Chriswten entwickelte, die sich der göttlichen Verehrung des Kaisers widersetzten. In diese Zeit hinein schreibt ein Mann namens Johannes vor allem mit dem Ziel der Ermutigung in bedrängten Zeiten sowie der Stärkung zum Festhalten am christlichen Glauben, aber auch zur Mahnung vor falschen Kompromissen mit dem römischen Kaiserkult (d. h. dem Kaiser gebührte in Tempelanlagen öffentliche Verehrung wie einem Gott; dazu gehörten auch Opferdarbringungen, die mit Opfermahlzeiten verbunden waren; für Johannes beudeten sie Essen von "Götzenopferfleisch"). Er wendet sich mit seiner Botschaft an sieben namentlich genannte Gemeinden (vgl. den oben wiedergegebenen, in der Lesungsfassung allerdings ausgelassenen Vers  11b), die sich wie an einer Perlenschnur entlang einer damals bedeutenden Handelsstraße unweit der kleinansiatischen (heute türkischen) Mittelmeerküste aneinanderreihen. Der Verfasser lebt zur Zeit des Schreibens auf der der Küste gegenüberliegenden Insel Patmos, kaum als offiziell Verbannter - dies blieb im römischen Reich ranghohen Politikern  vorbehalten, sondern eher aus Selbstschutz vor römischer Verfolgung oder auch vor Nachstellungen aus den eigenen Gemeinden. Seine deutlichen Angriffe auf Kompromisslerei und Mitläufertum dürften ihm nicht nur Sympathien eingebracht haben.  Im Übrigen ist er zu unterscheiden vom Evangelisten Johannes. Setzt dieser den Schwerpunkt auf das "fleischgewordene Wort", so zeigt der Johannes der Offenabrung keienrlei Interesse am irdischen Jesus, sondern einzig am im Himmel "thronenden Lamm".

Die Situation wie auch die Rolle des Johannes, der wohl als ein jetzt auf Patmos "festsitzender" Wanderprophet anzusehen ist, erklären die seltsame Doppelform des Offenbarungs-Buches:

  1. Als apokalyptischer Prophet mit besonderem "Einblick" in die Pläne Gottes, die ihm in Seh- und Hör-Erlebnissen durch Jesus Christus vermittelt werden, ist das Buch die Niederschrift eines wie Stufen eines Wasserfalls aufeinander folgenden Visions-"Strudels".  Auf eine Eröffnungsvision (Offenbarung 4,1 - 5,14) folgen 3 mal 7 Visionen, die vom Kampf zwischen Gut und Böse, von Gott und den widergöttlichen Mächten, der Rettung der an Christus Festhaltenden und dem Untergang des "satanischen" Rom  künden (Offenbarung 6,1 - 16,21), dem noch einmal in Kapitel 17,1 - 19,10 eine eigene Gerichtsvision gilt. Am Ende wird die große Heilsvision vom himmlischen Jerusalem vor Augen gestellt (Offenbarung 19,11 - 22,5). 
  2. Gerahmt wird diese Visions-Niederschrift von Elementen eines Briefes, mit dem sich ein Verfasser (Johannes) an seine Adressaten (die sieben Gemeinden) wendet.  Die in damaliger Zeit für einen Brief üblichen formalen Eröffnungs- und Abschlussteile rahmen das Buch der Offenbarung (Offenbarung 1,4-8; 22,21). Als Vorspann zum eigentlichen Visionsteil (Offenbarung 4,1 - 22,5) berichtet der Verfasser von seiner auf Christus selbst zurückgehenden Beauftragung, seine Visionen niederzuschreiben. Aus diesem Teil (Offenbarung 1,9-20) ist die heutige Lesung entnommen.
  3. Ungewöhnlich ist, dass - wie eine Verzögerung - zwischen Beauftragungsvision und Offenbarungsniederschrift noch sieben kurze Briefe an die Einzelgemeinden geschoben werden (Offenbarung 2,1 - 3,22), sozusagen als Briefe im Brief. Sie haben in der Lesungsauswahl für die Osterzeit allerdings keine Berücksichtigung gefunden. Sie sind aber ein wichtiger Bestandteil der ganzen Schrift. Denn wenn Johannes den Auftrag erhält: "Schreib auf, was du gesehen hast: was ist und was danach geschehen wird" (Offenbarung 1,19), dann geben die 7 Gemeindebriefe wieder, "was ist", die anschließenden Visionen hingegen, "was danach geschehen wird".

 

Die Zweite Lesung des Sonntags im Überblick

1. Der Aufbau der Lesung

Die Lesung überspringt das Vorwort und die "Brief-Eröffnung" ( Verse 1-8), mit der das Buch der Offenbarung beginnt, und setzt ein, wenn der Schreiber Johannes von seiner eigenen Berufung spricht. Diese gliedert sich in klare Einheiten:

Vers 9:           Selbstvorstellung des Verfassers mit Namen und Bericht über seine Lebenssituation zur Zeit der Berufung

Verse 10-11:  Hörerlebnis mit Beauftragung, die folgenden Visionen niederzuschreiben

Verse 12-16:  die eigentliche Vision (die Verse 14-16 sind für die Lesung ausgelassen)

Vers 17a:       die Reaktion des Sehers 

Verse 17b-19: Selbstvorstellung des himmlischen Sprechers und Wiederholung des Schreibauftrags

Vers 20:           (in der Lesung leider ausgelassen): die Deutung des Gesehenen.

Mit diesem Berufungsbericht gibt Johannes zu erkennen, dass er sich selbst in der Spur der Propheten einordnet (vgl. die Berufungsberichte in Jeremia 1, Jesaja 6, Ezechiel 1-3 oder die sich über die Kapitel 7 - 9 verteilenden Berufusgsvisionen des Propheten Amos). Dass Vers 11 sieben Gemeinden auflistet, lässt vermuten, dass er vor seiner Verbannung nach Patmos als Wanderprophet untwegs war, der nun per Brief mit diesen Gemeinden in Verbindung bleibt und auch seine geistliche Autorität aufrecht erhält. Die Zahl 7 könnte auch symbolisch verstanden werden und sämtliche Gemeinden des Gesamtgebietes meinen.

 

2. Die einzelnen Abschnitte der Lesung

Vers 9: "Bruder und Gefährte in der Bedrängnis"

Trotz seiner Autorität "kokettiert" Johannes nicht mit einem Titel (Prophet, Apostel, "Knecht Gottes"), sondern solidarisiert sich mit den auf dem Festland Verbliebenen: Als "Bruder" sieht er sich allen Gemeindegliedern verbunden, als "Gefährte in der Bedrängnis, in der Königsherrschaft und im standhaften Ausharren in Jesus" beansprucht er für sich nicht ein besonders schlimmes Los. Vielmehr teilt er dasselbe Geschick aller "seiner" christlichen Gemeinden,

  • unter größter Anspannung aufgrund der römischen Gegebenheiten (s. oben die Einleitung) leben zu müssen,
  • dennoch an der Überzeugung festzuhalten, dass der eigentliche "König" nicht der Kaiser von Rom, sondern Gott selbst ist  ("Königsherrschaft Gottes" ist ein zentraler Begriff aus der Verkündigung Jesu),
  • und mit Blick auf den gekreuzigten, auferweckten und zu Gott Vater zurückgekehrten Christus durchzuhalten.

 

Verse 10-11: "vom Geist ergriffen"

Die Niederschrift des Buches - also des Buches Offenbarung  - verdankt sich nicht der Eigeninitiative des Johannes, sondern er sieht sich von Gott dazu getrieben Dies gilt doppelt. So wie der Prophet Ezechiel immer wieder davon spricht, vom Geist (Gottes) ergriffen worden zu sein, so drängt dieser Geist auch Johannes dazu, innezuhalten und mit innerem Ohr und innerem Auge hinzuhören und hinzusehen, was geschieht. - und es niederzuschreiben (zu den genaueren alttestamentlichen Hintergründen s. die Rubrik "Auslegung"). Die "Posaune", die wohl genauer als "Trompete" zu übersetzen wäre (griechisch: sálpinx), ist neutestamentlich mit der erwarteten Wiederkunft Christi verbunden (vgl. z. B. 1 Thess 4,16): Ihr Schall lässt dann Tote auferstehen. Sie ist aber auch ein Instrument der Gerichtsverkündigung, wie besonders die sieben "Posaunen" in Offenbarung 8 - 11 erkennen lassen.

 

Verse 12-13 (und der ausgelassene Vers 20): Merkwürdige Bilder

Johannes beschreibt seine Berufung also als ein Hineinversetztwerden in einen besonderen Wahrnehmungszustand. Er lässt ihn eine Stimme vernehmen, der aber zunächst kein sichtbarer Sprecher entspricht. Auf der Ebene des Sehens nimmt Johannes vielmehr sieben Leuchter wahr. Das Bild erinert an den siebenarmigen Leuchter im Tempel von Jerusalem, bleibt aber zunächst unklar. Auf einer abstrakten Ebene lässt sich schon sagen: "Sieben" ist biblisch eine Symbolzahl der Vollkommenheit.

Erst auf den zweiten Blick wird einer "gleich einem Menschensohn" sichtbar - Christus selbst (Näheres dazu unter "Auslegung"). 

Von den ausgelassenen Versen 14-16 ist zumindest zu erwähnen, dass dieser "Menschensohn-Ähnliche", dessen Bekleidung u. a an den Hohepriester im Tempel von Jerusalem erinnert und damit Würde ausdrückt, in Entsprechung zu den sieben Leuchtern sieben Sterne in der Hand hält (Vers 16). Sie erinern an das sog. Siebengestirn, also ein Sternbild, das im Alten Orient sowohl für Macht als auch für Gerechtigkeit und Gericht steht. Trotz allem bleiben die Bilder bislang rätselhaft und werden - wie in einem spannenden Buch - erst mit Verzögerung aufgelöst und erklärt, und zwar in einem Vers, den die Lesung selbst leider auslässt::

"Das Geheimnis der sieben Sterne, die du auf meiner rechten Hand gesehen hast, und der sieben goldenen Leuchter ist: Die sieben Sterne sind die Engel der sieben Gemeinden und die sieben Leuchter sind die sieben Gemeinden" (Offbarung 1,20).

Was sollen die "Engel der Gemeinden"? Dies erklärt sich aus der apokalyptischen Weltsicht, nach der Alles auf Erden im Himmel ene Entsprechung hat. Jeder Mensch und jedes Volk hat im Himmel einen ihn bzw. es repräsentierenden Engel. Daher kommt unsere Schutzengel-Vorstellung. Der bekannteste Völkerengel ist Michael als der Engel Israels (vgl. Daniel 10,13.21; 12,1), der für sein Volk streitet. Ganz in Entsprechung zu dieser Vorstellung hat bei Johannes auch jede Gemeinde einen sie repräsentierenden Engel. Die Briefe, die noch folgen (Kapitel 2 und 3 der Offenbarung), gehen an sie und nehmen Stellung zur "Leuchtkraft" der tatsäclichen Gemeinden. Denn nach Mattäus 5,16 ist es die Aufgabe der an Christus Glaubenden und ihm Nachfolgenden, "Licht für die Welt" zu sein.

 

Verse 17-19: Die Selbstvorstellung des Sprechers

Ebenfalls wie der Prophet Ezechiel (Ez 1,28) fällt auch Johannes angesichts der ihn erschütternden Gottsbegegnung nieder. Dies drückt die eigene Kleinheit und Ohnmacht ebenso aus wie die Verehrung dessen, der zu ihm spricht.

Der Sprecher, Christus selbst, richtet Johannes mit denselben Worten auf ("Fürchte dich nicht"), mit der ein Engel schon den Seher Daniel in Daniel 10,12.19 aufgerichtet hat (an dieses Kapitel erinnert schon die Beschreibung der Gewandung des Menschensohn-Ähnlichen: vgl. Daniel 10,15). Hier aber geht es nicht um die Begegnung mit einem Engel, sondern mit dem Auferweckten, der beim Vater ist - der also den Tod überwunden hat und ganz auf die Seite Gottes gehört. Das Zweite, die Göttlichkeit, macht die Rede vom "Ersten und Letzten" deutlich, die bereits aus dem Buch Jesaja bekannt ist (vgl. Jesaja 44,6; 48,12) - als Selbstaussage des einzigen Gottes. Das Erste, die Überwindung des Todes, macht die Rede vom "Lebendigen" deutlich (vgl. Daniel 6,21.27; Johannes 6,57). In beiden Aussagen liegt der eigentliche Hoffnungsgrund für Johannes wie für die Gemeinden, sich von den augenblicklichen Bedrängnissen und Nöten nicht aus der Bahn werfen zu lassen und weiterhin zu vertrauen: Gott ist stärker als jede noch so große Not. Die "Schlüssel zu Leben und Tod" hat nur er - keiner sonst!

Auslegung

Berufung (Verse 10-11)

Formal, so wurde im Überblick gesagt, orientiert sich die Berufung des Johannes an den Prophetenberufungen des Alten Testaments. Tatsächlich aber gibt es auch wesentliche Unterschiede. Denn die Berufung ergeht an jemanden, der nicht erst von Gott in Dienst genommen werden muss wie ein Amos oder Jeremia, die sich auch eher zieren und winden, den Auftrag anzunehmen.. Offensichtlich ist Johannes schon längst im Auftrag und Namen Jesu unterwegs. Nur ist ihm der bisherige Verkündigungsweg als eine Art Wanderprophet durch das Leben auf der Insel Patmos nicht mehr möglich. Der Weg zu seinen Gemeinden ist ihm abgeschnitten. Jetzt heißt Berufung: Die grundsätzliche Änderung der Rahmenbedingungen bedeuten nicht das Ende aller Handlungsmöglichkeiten. Auch Sich-Hängenlassen, Resignation oder Depression sind nicht angesagt. Gott selbst, genauer: der in den Himmel erhöhte Christus weist Johannes einen neuen Weg - einen Ausweg. Die Berufung gilt einer neuen, zeitlich begrenzten Etappe seines Wirkens und einem begrenzten Auftrag: Er soll ein "Buch" schreiben.

Biblisch stehen zwei "Vorbilder" im Hintergrund:

  • Auch der Prophet Ezechiel (zu ihm vgl. den Überblick zur 7. Lesung der Osternacht) wird nach seiner ersten großen Berufung (Ezechiel 1-3) immer neu "vom Geist ergriffen". Bei ihm bedarf offensichtlich jeder Schritt seines Tätigwerdens als Prophet eines neuen Anstoßes von außen (vgl. z. B. Ezechiel 11,1; 37,1)..
  • Der konkrete Auftrag, Gesehenes und Gehörtes niederzuschreiben, erinnert hingegen an das Buch des Propheten Habakuk, der noch vor der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier 587/586 v. Chr. sagt:

1 Ich will auf meinem Wachtturm stehen, ich stelle mich auf den Wall und spähe aus, um zu sehen, was er mir sagt und was ich auf den Vorwurf gegen mich antworten soll. 2 Der HERR gab mir Antwort und sagte: Schreib nieder, was du siehst, schreib es deutlich auf die Tafeln, damit man es mühelos lesen kann! 3 Denn erst zu der bestimmten Zeit trifft ein, was du siehst; aber es drängt zum Ende und ist keine Täuschung; wenn es sich verzögert, so warte darauf; denn es kommt, es kommt und bleibt nicht aus (Habakuk 2,1-3).

Auf diesem Hintergrund erklärt sich auch genauer der Auftrag zur Niederschrift: Johannes soll nicht nur einfach einen Weg finden, seine ermutigende und stärkende Botschaft an die ihm anders nicht mehr zugänglichen Gemeinden richten zu können - nämlich per Brief (seine Verbannung dürfte Kontakt mit Boten durchaus erlaubt haben). Das schriftliche Festhalten soll auch die Gewissheit zum Ausdruck bringen, dass die in Aussicht gestellte Herrschaft Gottes als des Herrn der Schöpfung und der Zeit (Offenbarung 1,8 spricht vom Alpha und Omega als erstem und letztem Buchstaben des griechischen Alphabets, das mit seinen 24 Buchstaben den 24 Stunden des Tages entspricht) sich auch tatsächlich durchsetzen wird. Dies ist so gewiss, dass Johannes es jetzt aufschreiben soll, damit man später, wenn es eintrifft, sein Zeugnis wird nachlesen können.

Diese "Gewissheit" ist kaum so zu verstehen, wie der Arzt und Astrologe Nostradamus (1503 - 1566) es tat, der meinte, aus der Offenbarung exakte Geschichtsepochen der bereits erfolgten Vergangenheit (seit den Zeiten des Johannes) und der weiteren Zukunft den einzelnen Visionen zuordnen zu können. Schon Paulus rät von derlei Spekulationen ab, wenn er an die Thessalonicher schreibt:

1 Über Zeiten und Stunden, Brüder und Schwestern, brauche ich euch nicht zu schreiben. 2 Ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. (1 Thessalonicher 5,1-2)

Berechnung ist eher ein Ausdruck von Angst, Johannes aber will mit Freude und Hoffnung erfüllen - wahrhaft österliche Grundtugenden!

 

Einer "gleich einem Menschensohn" (V 13)

"Menschensohn" ist eigentlich nur ein anderes Wort für "Mensch", das aber gerade deshalb auffällt. Es wird biblisch mit unterschiedlichen Absichten verwendet. Im Alten Testament kommt es einerseits besonders häufig im Buch Ezechiel vor, und zwar immer dann, wenn Gott diesen Propheten anspricht. Die Namensvermeidung hat dabei den Grund, Ezechiel nicht als Einzelperson (Individuum) in den Vordergrund zu rücken, sondern ihn als Stellvertreter (Repräsentanten) eines jeden "Menschenkindes" aus dem Volk Israel anzureden. In seinem Geschick spiegelt sich das Geschick Israels (vgl. z. B. Ezechiel 2,1.3.6.8).

Da wir uns mit der Offenbarung des Johannes in der apokalyptischen Welt befinden, ist hier ein anderer Hintergrund anzunehmen, zumal nicht einfach von einem "Menschensohn", sondern von einem "gleich einem Menschensohn" die Rede ist. Dieser "Menschensohn-Ähnliche" ist dem anderen apokalyptischen Buch der Bibel entnommen, nämlich dem Buch Daniel (vgl. Dan 7 ,13  zum Text vgl. die Rubrik "Kontexte"). Dort wird er als eine vom Himmel herabkommende Richtergestalt erwartet, deren "Menschenähnlichkeit" das krasse Gegenbild zur Bestialität der grausamen Herrscher ist, über die Gott Gericht sprechen wird. Dabei sind besonders die religionsunterdrückenden Nachfolger des griechichen Herrschers Alexander des Großen im 2. Jh. v. Chr., aber auch schon deren Vorgänger gemeint. Sie werden als Löwe, Bär, Panther und eisenbezahntes Tiermonster beschrieben (Daniel 7,4-8). Diese Bilderwelt taucht auch in der Offenbarung des Johannes wieder auf (vgl. etwa die "Monsterpferde" in Offenbarung 9,13-21 oder der Drache in Offenbarung 12,1-18). Das weiß man als Lesender oder Hörender des Buches in Kapitel 1 noch nicht. Aber der Vergleich mit dem Danielbuch fiel den Gemeinden des Johannes damals sicherlich sofort ein. Der Grundwesenszug des vom Himmel her herrschenden Christus ist also nicht Willkür, Brutalität oder blinder und rücksichtsloser Instinkt, sondern wahre Menschlichkeit.

Die Rede vom "Menschensohn-Ähnlichen" erinnert damit auch an den Titel "Menschensohn", der in den Evangelien immer wieder verwendet wird, und zwar als zweiter Begriff neben dem Titel "Gottes Sohn" Zur groben Orientierung kann man sagen: Der Begriff "Gottes Sohn" spricht vom Menschen Jesus von Nazareth im Blick auf seine göttliche Herkunft bzw. darauf, dass in ihm Gott sich auf die Schlichtheit/Niedrigkeit menschlichen Daseins eingelassen hat. Auch in der erniedrigendsten Situation gilt: Jesus bleibt Gottessohn (Lukas 1,35; Matthäus 27,40.43; Markus 15,39). Vom "Menschensohn" wird eher gesprochen im Blick darauf, dass dieser durch Leid und Tod hindurchgehende Jesus von Nazareth als Auferstandener zum Vater zurückkehrt und von dort her, wie es das Credo sagt, "wiederkommen wird zu richten die Lebenden und Toten" (vgl. z. B. Mathäus 16,27-28; 17,9.12; Markus 9,31; Lukas 9,26). Ostern und Christi Himmelfahrt bedeuten nicht, dass Gott sein in Christus erfahrenes Menschsein abstreift. Als "Menschensohn" weiß er im Gericht um die Menschlichkeit der zu Beurteilenden, aber er weiß auch, was Unmenschlichkeit bedeutet. In der Rede von Christus als "gleich einem Menschensohn" liegt damit Trost und Mahnung in einem.

Kunst etc.

Hans Memling, Johannes auf Patmos (1479), gemeinfrei, Wikimedia Commons
Hans Memling, Johannes auf Patmos (1479), gemeinfrei, Wikimedia Commons

Das Bild des vornehmlich in Brügge wirkenden Malers Hans Memling (gest. 1494) geht nach alter Vorstellung von der Identität des Evangelisten Johannes und des Sehers auf Patmos aus. Dies spielt aber nur für den Titel, nicht für die Darstellung eine Rolle. Erkennbar ist die Inselsituation des Johannes sowie die Erfüllung des in der Lesung erfolgenden Auftrags, alles Gesehene (und Gehörte) in ein Buch niederzuschreiben. In einer eigenen Mandorla ist das himmlische Geschehen dargestellt, dazwischen schiebt sich wie ein irdisch-reales Geschehen die Vision der verschiedenfarbigen Pferde aus dem 6. Kapitel der Offenbarung.

Die stoisch-entspannte Haltung, in der Memling Johannes gemalt hat, gibt eher einen Zustand der Entrückung wieder, lässt aber nichts erkennen vom "Bruder und Gefährten in der Bedrängnis" (Vers 9 der Lesung).