Lesejahr C: 2021/2022

1. Lesung (Ex 32,7-11.13-14)

7 Da sprach der HERR zu Mose:

Geh, steig hinunter, denn dein Volk, das du aus dem Land Ägypten heraufgeführt hast, läuft ins Verderben. 8 Schnell sind sie von dem Weg abgewichen, den ich ihnen vorgeschrieben habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht, sich vor ihm niedergeworfen und ihm Opfer geschlachtet, wobei sie sagten: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben.

9 Weiter sprach der HERR zu Mose:

Ich habe dieses Volk gesehen und siehe, es ist ein hartnäckiges Volk. 10 Jetzt lass mich, damit mein Zorn gegen sie entbrennt und sie verzehrt! Dich aber will ich zu einem großen Volk machen.

11 Mose aber besänftigte den HERRN, seinen Gott, indem er sagte:

Wozu, HERR, soll dein Zorn gegen dein Volk entbrennen, das du mit großer Macht und starker Hand aus dem Land Ägypten herausgeführt hast.

[…]

13 Denk an deine Knechte, an Abraham, Isaak und Israel, denen du selbst geschworen und gesagt hast: Ich will eure Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne am Himmel, und: Dieses ganze Land, von dem ich gesprochen habe, will ich euren Nachkommen geben und sie sollen es für immer besitzen.

14 Da ließ sich der HERR das Unheil reuen, das er seinem Volk angedroht hatte.

Überblick

Warum ist Mose nicht der Stammvater des Gottesvolkes? Weil er Gott an die Verheißungen erinnert und so seinen Zorn besänftigt.

 

1. Verortung im Buch

Während das Volk Israel sich am Berg Sinai von Gott abwendet und das goldene Kalb erschafft (siehe Exodus 32,1-6), ist Mose bei Gott und wartet darauf das von Gott geschrieben Wort, das an die Stelle eines Kultbildes treten soll, zu empfangen. Ohne menschlichen Anführer verrennt sich Israel so in den Symbolen des von Gott verurteilten Götzendienstes.

In Exodus 24,12 wird Mose von Gott aufgefordert zu ihm auf den Berg Sinai hinaufzusteigen: „Der HERR sprach zu Mose: Komm herauf zu mir auf den Berg und bleib hier! Ich will dir die Steintafeln übergeben, die Weisung und das Gebot, die ich darauf geschrieben habe, um sie zu unterweisen.“. Dort verweilt er 40 Tage bei Gott (siehe Exodus 24,18) und kurz bevor Israel beginnt das goldene Kalb herzustellen, heißt es dann: „Nachdem der HERR aufgehört hatte, zu Mose auf dem Berg Sinai zu sprechen, übergab er ihm die zwei Tafeln des Bundeszeugnisses, steinerne Tafeln, beschrieben vom Finger Gottes.“ (Exodus 31,18). Gott verfasst sein dauerhaftes Wort an sein Volk und anstatt darauf zu warten, erschafft sich das Volk ein Götterbild. In dieser Situation entbrennt Gottes Zorn und an Moses Handeln entscheidet sich nun, ob das Volk eine Zukunft hat. Mose muss Gott besänftigen, damit Israel doch noch das Wort Gottes auf den Tafeln, die Gott als Bundeszeugnisse für sein Volk selbst niedergeschrieben hatte, erhält: „Mose kehrte um und stieg den Berg hinab, die zwei Tafeln des Bundeszeugnisses in der Hand, die Tafeln, die auf beiden Seiten beschrieben waren. Auf der einen wie auf der andern Seite waren sie beschrieben. Die Tafeln hatte Gott selbst gemacht und die Schrift, die auf den Tafeln eingegraben war, war Gottes Schrift.“ (Verse 15-16) – doch Mose wird dann vor Zorn im Angesicht der Sünde Israels diese Bundesstafeln zerschmettern.

 

2. Aufbau

Dem Zorn Gottes in den Versen 7-9 stehen die Argumente Moses in den Versen 11-13 gegenüber. In dem Gespräch zwischen Gott und Mose ist die entscheidende Frage: Wessen Volk ist Israel? Ist Israel das hartnäckige Volk Moses, das Gott vernichten wird (Vers 7-9)? Oder sind die Israeliten Gottes auserwähltes Volk, dem die Verheißungen an die Erzväter gelten (Verse 10-13)?

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 7: Seit dem Anfang des Buches Exodus bezeichnet Gott Israel leidenschaftlich als „mein Volk“ (erstmals in Exodus 3,7). Nun aber ist es in seinen Worten nur noch das Volk Moses, „dein Volk“, das eben nicht er selbst aus Ägypten befreit hat, sondern das von Mose aus dem Sklavenhaus herausgeführt wurde.  Mit seinen Worten spiegelt Gott die Worte, die das Volk kurz zuvor selbst gesprochen hatte, wider: „dieser Mose, der Mann, der uns aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat“ (Vers 1).

Vers 8: Auch in diesem Vers nimmt Gott eine zuvor vom Volk gemachte Aussage auf. In Vers 4 sagen sie, nachdem das gegossene Kalb, dieses Gottesbild, hergestellt ist: „Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben.“ In der Beschreibung des Verhalten Israels gegenüber diesem gegossenen Kalb, das als Kultobjekt fungiert, verdeutlicht Gott, dass das Volk es anstatt ihm als Gott verehrt.

Verse 9-10: Gott kommt zu dem Urteil, dass Israel – wörtlich – „ein Volk mit einem steifen Nacken“ ist. Der Gott, der am Anfang des Buches die Not seines Volkes sieht (Exodus 3,7), sieht nun dessen störrische Widerspenstigkeit. Und er will das Volk deshalb umbringen. Seine Absicht leitet er wörtlich ein mit: „Gib mir Ruhe!“ Bevor Mose noch irgendein Gegenwort sagen kann, sagt Gott bereits, Mose solle ihn in Ruhe lassen. Diese Aufforderung Gottes ist das Einfallstor für die Reaktion Moses und es deutet schon an, dass Gott offen für eine Fürbitte Moses ist. Im Endeffekt steht Mose vor einer Entscheidung: Soll er seinem Amt gerecht werden und als Fürsprecher Israels vor Gott auftreten – oder soll er sich auf das folgende Angebot Gottes einlassen: Wie am Anfang des Weges mit Abraham, sagt Gott nun zu Moses, dass er ihn zu einem großen Volk machen will (vgl. Genesis 12,2: „Ich [Gott] werde dich [Mose] zu einem großen Volk machen“).

Vers 11: Mose entscheidet sich dazu, als argumentativer Fürbitter aufzutreten und nicht einen eigenen Nutzen aus der Situation zu ziehen. Das erste Argument, das er hierzu anführt, packt Gott bei seiner Ehre. Die Herausführung aus Ägypten war ein Machtbeweis Gottes, den er selbst nun zunichtemachen würde. Entscheidend ist hier die Begründung in Vers 12, die im vorherigen Vers mit der Frage „Wozu?“ (also zu welchem Ziel und Zweck?) eingeleitet wird. Gemäß Exodus 7,5 (siehe auch Exodus 9,16) sollte gerade die Befreiung Israels zur Gotterkenntnis Ägyptens führen. Die ganze Befreiungsgeschichte würde am Ende nur dazu dienen, dass in den Augen der Völker die Bosheit Gottes offenbart würde.

Verse 13-14: Es geht nicht nur um den Ruf Gottes bei den Völkern, sondern es geht um die Glaubwürdigkeit Gottes. Mose ruft ihm die gegenüber den Erzvätern gegebenen Verheißungen ins Gedächtnis. Nicht nur hat er ihnen und seinen Nachfahren die Volkswerdung und den Landbesitz in Kanaan verheißen, sondern er hat dies auch bei sich selbst geschworen; vgl. Genesis 22,16-17 und 26,3-4. Natürlich ist auch Mose ein Nachfahre der Erzeltern, und ein Neuanfang durch seine Linie stände den Verheißungen nicht entgegen, aber in den Worten Mose geht es um die Bedeutung des gesamten Exodus. Denn, dass Gott seines Bundes mit den Erzeltern gedacht hatte, war der Grund für das Befreiungshandeln (siehe Exodus 2,24). Die Enge Verbindung des Volkes mit seinen Erzeltern unterstreicht Mose mit einem wichtigen Detail. Er spricht nicht, wie es sonst üblich ist von „Abraham, Isaak und Jakob“, sondern nennt Jakob mit dem ihm vom Gott verliehenen Namen „Israel“, den auch das Gottesvolk trägt.

Auslegung

„Lass mich in Ruhe!“ – diese Worte sollen Distanz erzeugen. In ihnen drückt sich aber zugleich aus, dass der Sprechende vom Handeln der anderen Person in gewisser Weise abhängig ist – der oder die andere muss eben von seinem Handeln ablassen. Diese Aufforderung im Munde Gottes lässt aufhorchen. In seinem Zorn ist Gott doch ansprechbar. Seine Wut führt in diesem Fall nicht direkt zur Tat, sondern zu einem Gespräch. Und in diesem Gespräch wird Gott durch die Argumente Moses besänftigt. Hier zeigt sich das Gottes Zorn nicht unabwendbar ist – doch diesmal ist es nicht die Umkehr der Sünder, die zur Barmherzigkeit Gottes führt, sondern der Verweis auf Gottes eigenen Heilsplan. Ja noch drastischer: Mose appelliert gar an Gottes Ehre. Hier zeigt sich ein sehr dynamisches Gottesbild.

Oder geht es in der Geschichte weniger um Gott und mehr um Mose? Mit den Worten „Lass mich in Ruhe!“ bietet Gott doch indirekt das Einfallstor für Moses Worte, bzw. die Erwartung ist da, dass Mose eben nicht ablässt und den Zorn Gottes nicht walten lässt. Während Gott mit seinen letzten Worten verheißt, dass er aus Mose ein großes Volk machen will, verweist Mose weg von sich, zurück in die Vergangenheit, auf die Erzeltern, denen diese Verheißung gehört und die sich verwirklichen soll. Der Leser und die Leserin begegnen Mose als Anführer Israels in seiner Funktion als Fürbitter bei Gott, der fest an den gegebenen Heilsplan Gottes glaubt, selbst wenn Gott sich scheinbar abwendet.

Kunst etc.

Zum Verständnis des Zwiegespräches zwischen Gott und Mose sind die vorhergehenden in Exodus 32,1-6 erzählten Geschehnisse die Grundlage:

1 Als das Volk sah, dass Mose noch immer nicht vom Berg herabkam, versammelte es sich um Aaron und sagte zu ihm: Komm, mach uns Götter, die vor uns herziehen. Denn dieser Mose, der Mann, der uns aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat - wir wissen nicht, was mit ihm geschehen ist. 2 Aaron antwortete: Nehmt euren Frauen, Söhnen und Töchtern die goldenen Ringe ab, die sie an den Ohren tragen, und bringt sie her! 3 Da nahm das ganze Volk die goldenen Ohrringe ab und brachte sie zu Aaron. 4 Er nahm sie aus ihrer Hand. Und er bearbeitete sie mit einem Werkzeug und machte daraus ein gegossenes Kalb. Da sagten sie: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben. 5 Als Aaron das sah, baute er vor ihm einen Altar und rief aus: Morgen ist ein Fest für den HERRN. 6 Früh am Morgen standen sie auf, brachten Brandopfer dar und führten Tiere für das Heilsopfer herbei. Das Volk setzte sich zum Essen und Trinken und stand auf, um sich zu vergnügen.

Der Widerspruch zwischen der Herstellung des goldenen Kalbes als Kultobjekt und dem von Gott selbst niedergeschriebenem Wort, das Israel den Weg weisen soll und das im Ersten Tempel in der Bundeslade anstatt eines Kultbildes aufbewahrt wurde, wird drastisch in folgenden Bibelillustration deutlich. Die Vermenschlichung des Kultbildes verdeutlicht, dass Israel sich damit einen neuen „Anführer“ schafft. Im Hintergrund nun sieht man Mose, wie er nach dem Zwiegespräch mit Gott vom Berg steigt und die Bundestafeln in die höhe streckt, um sie vor Wut zu zerschmettern. Gleichzeitig wird in seiner Haltung deutlich, dass anders als das Kultbild, die Bundestafeln göttlich sind – sie kommen von „oben“.

A print from the Phillip Medhurst Collection of Bible illustrations in the possession of Revd. Philip De Vere at St. George’s Court, Kidderminster, England. Lizenz: CC BY-SA 3.0.
A print from the Phillip Medhurst Collection of Bible illustrations in the possession of Revd. Philip De Vere at St. George’s Court, Kidderminster, England. Lizenz: CC BY-SA 3.0.