Lesejahr C: 2021/2022

1. Lesung (Jes 6,1-2a.3-8)

61Im Todesjahr des Königs Usija, da sah ich den Herrn auf einem hohen und erhabenen Thron sitzen und die Säume seines Gewandes füllten den Tempel aus. 2Serafim standen über ihm. [...]

3Und einer rief dem anderen zu:

Heilig, heilig, heilig ist der HEER der Heerscharen. Erfüllt ist die ganze Erde von seiner Herrlichkeit .

4Und es bebten die Türzapfen in den Schwellen vor der Stimme des Rufenden und das Haus erfüllte sich mit Rauch. 5Da sagte ich:

Weh mir, denn ich bin verloren. Denn ein Mann unreiner Lippen bin ich und mitten in einem Volk unreiner Lippen wohne ich, denn den König, den HERRN der Heerscharen, haben meine Augen gesehen.

6Da flog einer der Serafim zu mir und in seiner Hand war eine glühende Kohle, die er mit einer Zange vom Altar genommen hatte.7Er berührte damit meinen Mund und sagte:

Siehe, dies hat deine Lippen berührt, so ist deine Schuld gewichen und deine Sünde gesühnt.

8Da hörte ich die Stimme des HERRN, der sagte:

Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen?

Ich sagte:

Hier bin ich, sende mich!

Überblick

Wer kann im Angesicht Gottes bestehen? Der Prophet Jesaja, nachdem ihm glühende Kohlen auf die Lippen gelegt wurden

 

1. Verortung im Buch

In den Büchern der Propheten Jeremia, Ezechiel und Hosea steht die Berufungserzählung am Anfang. Im Buch Jesaja hingegen wird erst der moralische Verfall im Königreich angeprangert (Jesaja 5), bevor keine klassische Berufungserzählung folgt, sondern die Beauftragung zum 'Prophet der Verstockung', wie die Jesaja 6,1-8 folgenden Verse zeigen.

 

2. Aufbau

Auf die Visionen in den Versen 1-7 („ich sah …“) folgt eine Audition in den Versen 8-11 („ich hörte…“). Die eigentliche Vision wird nur in den ersten drei Versen erzählt. Darauf folgt die Reaktion des Tempels und des Prophetens (Verse 4-5) und dann reinigt ein Seraph den Mund Jesajas, sodass er sich zum Dienst melden kann (Verse 6-8).

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 1: Jesajas Vision wird in der Zeit verankert. Im Jahr 734 v. Chr. starb König Usija, der nach einer langen und prägenden Amtszeit als Strafe für seinen Hochmut von Gott mit einem tödlichen Aussatz bestraft wurde (2 Chronik 26). Auch der Ort der Vision ist der Welt nicht entzogen: Jesaja steht im Tempel und sieht über ihm, in der himmlischen Sphäre, Gott auf einem hohen und erhabenen Thron. Allein der Saum seines Mantels füllt den gesamten Tempel aus. Gott ist größer als sein Tempel und sein Mantel symbolisiert seine schützende Macht. So sind sowohl Gottes Nähe als auch seine Distanz angezeigt.

Vers 2: Nicht Gott wird beschrieben, sondern die ihn umgebenden Serafim. Das hebräische Wort  שָׂרָף (gesprochen: saraf) bezeichnet gemeinhin Schlangenwesen. Hier handelt es sich um Halbgötter, wie sie in den altorientalischen Weltbildern häufig zu finden sind, und eigentlich die Funktion haben, die Götter vor Feinden zu beschützen. Hier müssen sie sich nun aber selbst vor der Gottheit schützen, indem sie sich vor Gott verhüllen. Sie sind Teil des himmlischen Heeres, das in der Gottesbezeichnung „Herr der Herrscharen“ gemeint ist (Vers 3).

Vers 3: Die Aufgabe der Serafim ist ein Wechselgesang vor dem als thronenden König gedachten Gott, dem sie zu Diensten bereitstehen. Die dreifache Wiederholung des Wortes „heilig“ verdeutlicht, dass Gott die absolute Heiligkeit darstellt. Der Satz „Die Fülle der ganzen Erde ist seine Herrlichkeit“ erklärt die Bedeutung der Beschreibung Gottes als „heilig“. Bereits Gottes äußere Erscheinung in der Form des Mantelsaums füllt den Tempel aus, denn seine Herrlichkeit füllt die gesamte Welt. Er ist der Herr über die gesamte Welt und übt über sie seine souveräne Macht aus. Dies bedeutet auch, dass es für andere Götter in dieser Welt keinen Platz gibt.

Vers 4: Das Rufen der Serafim gleicht einer Erscheinung Gottes. Allein die Verkündigung der Herrlichkeit Gottes lässt den Tempel erbeben und füllt ihn mit Rauch. Gottes Erscheinung in der Welt wird oft mit Donnergewitter, Erdbeben und Vulkanausbrüchen verglichen.

Vers 5: Daraufhin wird sich der Prophet der Gefahr bewusst, in der er sich befindet. Selbst die Serafim, die mir ihren Lippen Gott im Wechselgesang dienen, verhüllen sich im Angesicht Gottes. Der Prophet aber hat Gott gesehen und Menschen, die Gott direkt sehen, droht der Tod (Ex 33,20). Er selbst kann nicht vor Gott bestehen. Zudem galt im altorientalischen Denken, dass eine Einzelperson auch die Schuld der Gemeinschaft (vgl. Jesaja 5) mitzutragen hat.

Verse 6-8: Aus den altorientalischen Religionen Mesopotamiens und Ägyptens sind Rituale überliefert, in denen der Mund gewaschen oder geöffnet wurde, damit die Priester befähigt werden, vor Gott zu erscheinen. Die brennende Kohle vom Räucheraltar kann vom Serafen nur mit einer Zange berührt werden, aber sie reinigt die „unreinen Lippen“, die der Prophet selbst beklagt hatte. Diese Symbolhandlung führt Jesaja aus der sündigenden Gemeinschaft Israels hinüber auf die Seite Gottes, in dessen Angesicht er nun bestehen kann. Er fühlt sich nun der Diener Gottes zugehörig und stellt sich in Gottes Dienst.

Auslegung

Gott ist nicht im Tempel zu finden, sondern er thront über ihm. Nur der äußere Saum seines Königsmantels füllt den Tempel aus. Seine Herrlichkeit überschreitet alle Grenzen und erfüllt die gesamte Welt. Die von dem Propheten geschilderte Vision stellt die Autorität Gottes in den Vordergrund. Im Angesicht seiner Macht kann niemand bestehen, selbst die Serafim verhüllen ihr Angesicht vor ihm. Kein Mensch kann vor ihm bestehen – auch Jesaja nicht. Es bedarf einer Reinigung im Auftrag Gottes, sodass der Prophet sich mutig in den Dienst Gottes stellt. Er wird nicht berufen, sondern er meldet sich freiwillig. Als er die Stimme Gottes hört: „Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen?" Da macht er den Ruf Gottes zu seiner Berufung.

Kunst etc.

Der Begriff „Serafim“ bezeichnet ursprünglich wohl eine ägypische Kobra, die Uräusschlange, die auf Siegeln oft mit Flügeln dargestellt wurde. Seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. findet sich der Glaube, ihre Darstellung habe eine schützende Wirkung. Das Motiv findet sich im 9.-7. Jahrhundert v. Chr. auch auf judäischen Siegeln – hier zum Beispiel auf dem Siegel Elschamas, des Sohnes des Königs:

Vierflügeliger Uräus (Siegel des Elschama, des Sohnes des Königs; Jaffo; 8./7. Jh. v. Chr.). Aus: O. Keel / M. Küchler / C. Uehlinger, Orte und Landschaften der Bibel. Ein Handbuch und Studienreiseführer zum Heiligen Land, Bd. 1, Zürich u.a. 1984, Abb. 89c; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
Vierflügeliger Uräus (Siegel des Elschama, des Sohnes des Königs; Jaffo; 8./7. Jh. v. Chr.). Aus: O. Keel / M. Küchler / C. Uehlinger, Orte und Landschaften der Bibel. Ein Handbuch und Studienreiseführer zum Heiligen Land, Bd. 1, Zürich u.a. 1984, Abb. 89c; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz