„Verkündet das Evangelium, notfalls mit Worten“. Die Lesung aus dem 2. Timotheusbrief veranschaulicht die Idee eines Lebenszeugnisses am Beispiel des Apostel Paulus.
1. Verortung im Brief
Der 2. Brief an Timotheus (2 Tim) gehört zusammen mit dem 1. Brief an Timotheus und dem Titusbrief zu den sogenannten Pastoralbriefen. In diesen wendet sich der Verfasser, der sich als Paulus ausgibt, um seinen Worten eine größere Autorität zu verleihen, an Gemeindeleiter in Ephesus (Timotheus) und Kreta (Titus). Grundthema der Briefe ist die Frage nach einer verlässlichen Weitergabe des Evangeliums angesichts vielfältiger Herausforderungen.
Die Mahnungen an den Gemeindeleiter Timotheus und die an ihn gerichteten Ermutigungen im Hauptteil des Briefes lassen sich in zwei Schwerpunkte untergliedern. Im ersten Teil des Hauptteils (2 Tim 2,1-26) steht die Person des Timotheus und seine persönliche Treue zum Evangelium auch in Krisenzeiten im Fokus. Im zweiten Hauptteil (2 Tim 3,1-4,8) liegt das Augenmerk auf der Funktion des Timotheus als Gemeindeleiter. Der Abschnitt der Lesung bildet in den Versen 6-8 das Ende dieses zweiten Hauptteils und fährt mit einigen persönlichen Mitteilungen des Verfassers fort (Verse 16-18).
2. Aufbau
Obwohl die Verse der Lesung aus unterschiedlichen Abschnitten des Briefes zusammengesetzt sind, haben sie ein großes verbindendes Thema. Im Mittelpunkt steht das Schicksal des Apostels Paulus in dessen Namen der Brief verfasst ist. Der Apostel befindet sich so will der Verfasser deutlich machen in Gefangenschaft. Entsprechend prägt diese Situation die Lesung.
Die beiden Teile (Verse 6-8 und 16-18) sind parallel aufgebaut. In den Versen 6-7 steht die aktuelle Lage des Paulus im Fokus, während in den Versen 16-17 vergangene Situationen der Bedrängnis in den Blick genommen werden. Die Verse 8 und 18 verbinden Aktuelles und Vergangenes mit einem hoffnungsvollen Blick in die Zukunft und weiten damit den jeweiligen Abschnitt in die Verheißung Gottes hinein.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 6-7: Mit der Bezugnahme auf sein unmittelbar bevorstehendes Sterben verleiht der Apostel den vorangegangenen Weisungen noch einmal besondere Bedeutung. Die Eindringlichkeit, mit der er zuvor Timotheus angewiesen hatte, an der Botschaft des Evangeliums und dessen Verkündigung unbedingt festzuhalten, egal ob er damit „gelegen oder ungelegen“ (Vers 2) kommt, wird verständlich. Denn schließlich weiß Paulus selbst aus eigener und aktueller Lebenserfahrung, was es bedeutet, für das Evangelium zu leiden.
Die Rede vom „geopfert werden“ und „seinem Aufbruch“ verleiht seinen Worten einen feierlichen Charakter und hat nur ein Ziel: Paulus soll als das perfekte Vorbild im Glauben verstanden werden. Timotheus wird eingeladen und angemahnt, diesem Vorbild zu folgen. Deshalb finden sich in der Selbstbeschreibung des Paulus Eigenschaften und Verhaltensweisen, die er auch dem Timotheus schon anempfohlen hat. Als Erstes spricht er davon den „guten Kampf gekämpft“ zu haben. In 1 Tim 6,12 hatte Paulus Timotheus aufgefordert, seinerseits den „guten Kampf zu kämpfen“. Was den guten Kampf auszeichnet, hatte Paulus dort mit konkreten Haltungen umschrieben: „Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Glauben, Liebe, Standhaftigkeit und Sanftmut“ (1 Tim 6,11). Als Zweites gibt Paulus an, den „Lauf vollendet“ zu haben. Gleiches hatte er auch dem Timotheus in 2 Tim 2,5 empfohlen. Des Weiteren spricht der Apostel davon, die „Treue bewahrt“ zu haben. Dieses Thema durchzieht den Brief in unterschiedlichen Schattierungen (z.B. 2 Tim 2,1-2).
Vers 8: Aus dem zuvor beschriebenen „perfekten“ und beispielhaften Leben und Wirken des Apostels folgt die Gewissheit einer Belohnung. Weil diese „jetzt schon bereit liegt“ wird sie als sicher verstanden, ja es scheint, als wäre sie bereits überreicht. Dabei ist der Zeitpunkt der Übergabe noch ausstehend, denn „jener Tag“ der Erscheinung, also Wiederkunft Jesu Christi steht noch aus. Im letzten Teil des Verses weitet sich das Bild, das zuvor vollkommen auf Paulus fixiert war, aus. Denn Paulus spricht die Gewissheit aus, dass nicht nur er, sondern auch die anderen, die den Tag der Wiederkunft ersehnen, dann für ihren Kampf entlohnt werden. Damit ist auch dieser letzte Gedanke auf die Ermutigung des Timotheus ausgerichtet, der sich zweifelsohne in der Gruppe der „anderen“ wiederfindet. Diejenigen, die den Tag der Wiederkunft ersehnen, sind zweifelsohne die, die die Botschaft des Evangeliums treu bewahrt und weitergeben haben (vgl. 2 Tim 1,12-14).
Verse 16-17: Mit diesen Versen sind wir ganz in die Schlussmahnungen des Schreibens hineingenommen. In den Versen 9-15 hatte Paulus vom Verbleib konkreter Personen erzählt, die mit ihm unterwegs waren. Manche wurden mit Aufträgen betraut, mit anderen gab es Auseinandersetzungen. So ist das Wort „alle haben mich im Stich gelassen“ auch angesichts der zuvor geschilderten Zusammenhänge nicht rein wörtlich, sondern auch im übertragenen Sinne zu verstehen. Auch hier ist das Bild, das vom Schicksal des Apostels vermittelt werden soll, entscheidend: Paulus hat für das Evangelium gekämpft, er leidet für das Evangelium und an ihm und seiner jetzigen Situation der Inhaftierung nehmen offenbar auch engere Vertraute Anstoß. Nichtsdestotrotz soll man sich der Botschaft nicht schämen, das hatte Paulus Timotheus in 2 Tim 1,8 deutlich gemacht. Zugleich entspricht das „von allen verlassen sein“ dem Schicksal Jesu selbst, dessen Jünger bei der Gefangennahme fliehen. Paulus wird hier in besonderer Weise in der Nachfolge Jesu dargestellt, was durch das indirekte Gebet um Vergebung („möge es ihnen nicht angerechnet werden“, vgl. Lukasevangelium 23,34) unterstrichen wird.
Welcher biographische Moment mit dem „ersten Verhör“ (Vers 16) gemeint ist, bleibt unklar. Am Wahrscheinlichsten ist die Befragung in Jerusalem gemeint (Apostelgeschichte 22), der genaue Zeitpunkt ist jedoch weniger von Bedeutung. Entscheidend ist das Erleben dieser Situation aus der Sicht des Paulus. Denn für ihn zeigt sich in der Bedrängnis und in der Situation, in der alle Gefährten ihn „im Stich lassen“ Gott als derjenige, der „ihm zur Seite steht“ und „Kraft gibt“. Wie stark der Apostel die Situation als existentielle Notlage und die Rettung daraus als göttliche Hilfe begreift, wird im Bild „dem Rachen des Löwen entrissen“ deutlich. Es knüpft an alttestamentliche Bildsprache für Errettung aus höchster Not an, wie etwa in Psalm 22,22 „Rette mich vor dem Rachen des Löwen und vor den Hörnern der Büffel!“ oder in der Erzählung vom Propheten Daniel in der Löwengrube (Buch Daniel 6,28). Auch wenn der Apostel nicht vollkommen errettet wird – er befindet sich ja noch in Gefangenschaft und hat den Tod vor Augen – er nimmt Gott dennoch als Kraft und Beistand in ausweglosen Situationen wahr.
Vers 18: Auf der Grundlage der Erfahrungen in den Versen 16-17 blickt Paulus nun noch einmal voraus: Weil er Gott bereits als Beistand und Retter erfahren hat, vertraut er darauf, letztlich nicht im Unheil und in menschlichen Macht zu bleiben. Die wirkliche Rettungstat, die Gott an ihm vollbringt, ist die Aufnahme in sein Reich. Die Gewissheit, mit der er davon spricht, schlägt einen Bogen zu Vers 8 und der dort zum Ausdruck gebrachten Sicherheit, den „Kranz der Gerechtigkeit“ als Lohn zu erhalten.