Lesejahr C: 2024/2025

1. Lesung (Ez 47,1-2.8-9.12)

1 Dann führte er mich zum Eingang des Tempels zurück und siehe, Wasser strömte unter der Tempelschwelle hervor nach Osten hin; denn die vordere Seite des Tempels schaute nach Osten. Das Wasser floss unterhalb der rechten Seite des Tempels herab, südlich vom Altar. 2 Dann führte er mich durch das Nordtor hinaus und ließ mich außen herum zum äußeren Osttor gehen. Und siehe, das Wasser rieselte an der Südseite hervor. [...] 8 Er sagte zu mir: Diese Wasser fließen hinaus in den östlichen Bezirk, sie strömen in die Araba hinab und münden in das Meer. Sobald sie aber in das Meer gelangt sind, werden die Wasser gesund. 9 Wohin der Fluss gelangt, da werden alle Lebewesen, alles, was sich regt, leben können und sehr viele Fische wird es geben. Weil dieses Wasser dort hinkommt, werden sie gesund; wohin der Fluss kommt, dort bleibt alles am Leben. [...] 12 An beiden Ufern des Flusses wachsen alle Arten von Obstbäumen. Ihr Laub wird nicht welken und sie werden nie ohne Frucht sein. Jeden Monat tragen sie frische Früchte; denn ihre Wasser kommen aus dem Heiligtum. Die Früchte werden als Speise und die Blätter als Heilmittel dienen. 

Überblick

Wenn dort, wo kein Wasser entspringt, Gott sein Heil beginnen lässt, dann wird selbst das Tote Meer lebendig!

 

1. Verortung in der Geschichte und im Buch

Es geschah am 10. April 574 v. Chr. – so erzählt es zumindest das Buch des Propheten Ezechiel -, da empfing Ezechiel im babylonischen Exil in einer Vision die sogenannte „Verfassung des Gottesvolkes“ (Ezechiel 40-48), mit der dieses Prophetenbuch endet.  Mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels (587 oder 586 v. Chr.) verlor das Volk Israel nicht nur seinen kultischen Mittelpunkt, sondern geriet auch in eine tiefe theologische Krise: Gott war scheinbar nicht in der Lage gewesen, sein Heiligtum gegen die anstürmenden Babylonier zu verteidigen. Nun, am Ende des Buches Ezechiel sieht der Prophet in einer Vision den neu zu errichtenden Tempel Gottes in Jerusalem (Ezechiel 40-42) und erhält neue Ordnungen für die Fürsten, die Priester und das Volk (Ezechiel 43-46).

Im Buch Ezechiel wird die Katastrophe des Exils als Stärke Gottes umgedeutet – denn er wird nicht als Opfer der Babylonier, sondern als Richter über Israel gedeutet: „… so spricht GOTT, der Herr: Siehe, ich gehe gegen dich vor, ja ich. Vor den Augen der Völker werde ich mitten in dir Gericht halten“ (Ezechiel 5,8). Die Babylonier sind sozusagen das Werkzeug in der Hand Gottes, um sein eigenes Volk aufgrund der Sünden der Israeliten zu richten (siehe Ezechiel 21,23-24). In einer eindrucksvollen Vision schildert das Buch Ezechiel, wie die Herrlichkeit Gottes seinen Tempel verlässt, bevor dieser zerstört wird (siehe Ezechiel 10,18-22). Er hat sein Volk somit preisgegeben. In der sogenannten „Verfassung des Gottesvolkes“ genannten Vision (Ezechiel 40-48) sieht Ezechiel dann die Rückkehr Gottes in den zu errichtenden neuen Tempel: „Und die Herrlichkeit des HERRN zog in den Tempel ein durch das Tor, das im Osten lag“ (Ezechiel 43,4). Diese Vision verdeutlicht nicht nur die Kontinuität zwischen dem vorexilischen und dem nachexilischen Tempel, sondern verdeutlicht auch die Rolle des Heiligtums als Gottes Scharnier-Ort für das Heil des ganzen Landes und Volkes – dieses Heil wird in der Vision durch die in Ezechiel 47,1-12 beschriebene Tempelquelle vor Augen geführt.

 

2. Aufbau

Der Text verfolgt die in der Vision gesehene Tempelquelle von der Schwelle am Eingang des Tempels durch das Tempelareal (Verse 1-2), dann entlang des Kidrontales von Jerusalem bis ins Tote Meer (Vers 8), bevor abschließend die „heilende“ Wirkung des Tempelquellwassers thematisiert wird (Verse 9 und 12).

 

3. Erklärung einzelner Verse

Verse 1-2: Innerhalb der Vision (Ezechiel 40-48) wird der Prophet von einer Gestalt geführt, die ihn nun nicht in das von der Herrlichkeit Gottes erfüllte Tempelhaus führt, sondern zu dessen Eingang. Der Prophet sieht selbst nicht die Quelle, sondern nur ein Rinnsal. Der Tempel ist nach Osten – hin zur aufgehenden Sonne – ausgerichtet und das Wasser fließt anfangs Richtung Osten, verlässt das Tempelareal dann jedoch Richtung Süden, bevor es dann wieder in Richtung Osten weiterfließt (siehe Vers 8). Dieser Umweg ist von Bedeutung (siehe Auslegung).

Verse 8-9: Die ausgelassenen Verse beschreiben das Zunehmen der Wasser – aus dem Rinnsal ist ein Fluss geworden (siehe Verse 3-7). Er fließt von Jerusalem nach Osten in die Richtung des Jordantales, das im Alten Testament „Araba“ genannt wird und synonym für ein wasserarmes und unfruchtbares Land steht (siehe Deuteronomium 4,49). Das Tote Meer wurde in der Zeit des Alten Testaments auch „Meer der Araba“ genannt. Mit einem Salzgehalt von 28% gibt es außer einer Vielfalt von Mikroorganismen, darin keine Fauna und fast gar keine Flora. Dass die Tempelquellwasser das Tote Meer „heilt“ bedeutet hier, dass selbst an diesem lebensfeindlichen, heißen und 396 Meter unter dem Meeresspiegel liegenden Ort, neues Leben entstehen und bewahrt wird, wie Vers 9 verdeutlicht. Diese „heilende Wirkung“ bezieht sich aber nicht nur auf das Tote Meer, sondern das Tempelquellwasser führt allgemein dazu, dass das Land Israel aufblüht (siehe Verse 7 und 12).

Vers 12: Der abschließende Vers wendet den Blick nochmals zurück und hebt nochmals hervor, dass dieser belebende Fluss aus dem Tempel stammt und von dort Heil bringt, das nicht in natürlichen Kategorien zu denken ist. Es handelt sich nicht nur um eine Bewässerung, sondern – wieder wie in Vers 8 – wird das Wort „heilen“ aufgenommen. Die Bäume werden nicht nur nicht mehr ihre Blätter verlieren und immer Früchte tragen, sondern auf diesem Weg wird Gott sein Volk ernähren und durch die Blätter heilen. In diesem Vers wird somit ein paradiesischer Zustand (vgl. Genesis 2) beschrieben.

Auslegung

Der neue Tempel, den der Prophet Ezechiel in einer Vision sieht, ist kein verschlossenes Heiligtum hinter hohen Mauern, sondern der Quellort für einen Neuanfang voller Leben und Heil. Die Tempelquelle ist ein Heilsbild, das unscheinbar als kleines Rinnsal beginnt und wie ein Senfkorn oder ein Sauerteig wächst, und schließlich unerschöpfliches Heil verkündet.

Jedoch gab es weder damals noch heute auf dem Tempelberg eine Quelle (siehe aber die Rubrik „Kon-texte“). Die einzige Wasserquelle in der Nähe des Tempels ist der etwas 600 Meter südlich entspringende Gichon – bei Ausgrabungen im 19. Jahrhundert wurden nur 34 große Zisternen, die vermutlich aus der Zeit des nachexilischen Tempels stammen, entdeckt. Im vorexilischen, salomonischen Tempel gab es jedoch das Eherne Meer, das in der Vision des neuen Tempels in Ez 40-48 nicht erwähnt wird. Dabei handelte es sich um ein großes Wasserbecken, das auch in den Nachbarkulturen Israels in Tempelanlagen zu finden war. In Mesopotamien symbolisierten solche Wasserbecken den kosmischen Süßwasserozean Apsû, aus dem sich gemäß der damaligen Sicht auf die Welt alle Süßwasserquellen, u.a. der Euphrat und der Tigris, und der Regen speisten. Somit waren diese Becken ein Symbol für die Leben ermöglichende Ordnung der Welt. In Ezechiel 47,1-12 ist nun bemerkenswert, dass das Wasser von der Tempelschwelle zuerst nach Osten fließt, aber dann südlich vom Altar weiterfloss. Dieser Bogen führt das Wasser dort entlang, wo im vorexilischen, salomonischen Tempel das Eherne Meer stand. Vielleicht symbolisierte das Eherne Meer die Stabilität der göttlichen, lebensförderlichen Ordnung – und dieses Symbol wurde in der Vision Ezechiels umgewandelt zu einem dynamischen Bild: Das Heil wird überfließen, das Unheil wird geheilt werden.

Kunst etc.

Es ist auffallend, dass in vielen Darstellungen des in Ezechiel 40-48 geschilderten neuen Tempels, die Tempelquelle, bzw. der im Tempel entspringende Fluss nicht dargestellt wird. Oft sind die Darstellungen eher an architektonischen Details interessiert anstatt an den theologischen Heilsbildern. Anders ist dies zum Beispiel in „Ezekiel’s temple“ von Henry Sulley (1845-1940). Den topografischen Gegebenheiten zum Trotz zeigt er den Tempelberg wie einen Gottesberg, der alles überragt und von der Spitze ergießt sich der anschwellende Strom des Heils.

„Ezekiel’s temple“ (1887), Henry Sulley. Lizenz: gemeinfrei. Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/File%3AHenry_Sulley%27s_rendering_of_Ezekiel%27s_Temple.jpg

„Ezekiel’s temple“ (1887), Henry Sulley. Lizenz: gemeinfrei.
„Ezekiel’s temple“ (1887), Henry Sulley. Lizenz: gemeinfrei.