Für das Allerheiligenfest hat die Liturgie eine besondere Lesung aus der Offenbarung des Johannes vorgesehen: Weder die katastrophalen Gerichtsbilder stehen im Mittelpunkt, noch der heilvolle Retter, das siegreiche Lamm, das noch die Wunde seiner Schlachtung trägt. Das Zentrum der Vision bildet die unzählbare Schar der Geretteten. (Zur Einführung in das ganze Buch s. Zweiter Sonntag der Osterzeit, Zweite Lesung, Überblick: "Apocalypse now").
Einordnung in den Kontext
Das der Lesung vorangehende Kapitel 6 der Offenbarung endet mit der Öffnung des sechsten der insgesamt mit sieben Siegeln verschlossenen Buchrolle, die in Kapitel 5 dem "Lamm" (Christus) vom "Thronenden" (Gott Vater) übergeben worden war. Mit dem sechsten Siegel ist das Sichtbarwerden des "großen Tages des Zorns" des Thronenden wie des Lammes erreicht (vgl. Offenbarung 6,16-17). Dies ist nichts anderes als der schon von den Propheten Israels erwartete "Tag JHWHs" (Einheitsübersetzung 2016: "Tag des HERRN").
Dieser "Tag des Zorns" wird in das Bild einer kosmischen Katastrophe gekleidet, die sich bei der Öffnung des sechsten Siegels zusammenbraut. Doch ehe diese Katastrophe losbricht, erscheinen vier Engel, deren Zahl auf die vier Himmelsrichtungen verweist. Mit ihnen wird die Fähigkeit verbunden, die verheerenden Stürme in ihren Kammern - so stellte man sich damals die Herkunft des Nord-, Ost-, Süd und Westwindes vor - zurückzuhalten (so der ausgelassene Vers Offenbarung 7,1).
Ein entsprechender Befehl geht von einem weiteren, den Vieren übergeordneten Engel aus.
Verse 2 - 4: "Einhundertvierundvierzigtausend"
Genau mit der Herabkunft dieses Engels setzt die Lesung - für die Hörenden im Gottesdienst etwas unvermittelt - ein. Entscheidend ist die Begründung des von ihm verordneten Aufschubs, wobei innerhalb der Offenbarung klar ist, dass er nicht aus eigenem Antrieb, sondern allein als Werkzeug des "Thronenden" (also Gott Vaters) und des "Lammes" (also des Gottessohnes Jesus Christus) handelt:
Es soll eine Zeit gewährt werden, um zunächst einmal 144.000 Menschen aus den 12 Stämmen Israels zu besiegeln, also mit einer Art Brandzeichen auf der Stirn zu kennzeichnen. Aus jedem der 12 Stämme Israels sollen 12.000 "Knechte unseres Gottes" mit einem Überlebenszeichen markiert und so für die Rettung in der bevorstehenden Gerichtskatastrophe vorgesehen werden.
In den ausgelassenen Versen 5-8 werden die aus dem Alten Testament bekannten Stämme, die auf die Söhne von Abrahams Enkel Jakob zurückgeführt werden, alle namentlich angeführt. Dabei wird der negativ beleumundete Stamm Dan durch Manasse, einen Enkel Jakobs, ersetzt. Rechnerisch ergibt sich so die Zahl 144.000 Gerettete. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine irgendwie nachzuzählende Größe, sondern um eine Zahl, die unendliche Fülle und Heiligkeit (im Sinne von Gottzugehörigkeit) in einem symbolisiert.
Besonders erwähnenswert ist der schnell zu überlesende Ehrentitel, der diesen Geretteten zuteil wird: Ein solcher ist nämlich die Bezeichnung als "Knecht(e) Gottes", die alttestamentlich nur wenigen vorbehalten ist: Abraham, Jakob, Mose und David werden so tituliert, weil sie trotz aller nicht verschwiegenen Schwächen im Letzten nicht von Gott gelassen haben und sich so als treu erwiesen haben. Schließlich sprechen noch vier "Lieder" im Buch Jesaja vom "Gottesknecht", einer Martyrergestalt (Jes 42,1-4; Jes 49,1-6; Jes 50,4-9;Jes 52,13-53,12) . Er erleidet schließlich den Tod, den eigentlich andere verdient hätten. Während diese Heilsgestalt alttestamentlich anonym bleibt, wird sie neutestamentlich auf Jesus und sein Sterben am Kreuz bezogen. In dieser Mischung von Gottestreue und Anteil am Heilstod Jesu ist wohl die Rede von den "Knechten unseres Gottes" in Offenbarung 7,3 zu verstehen.
Vers 9: Mehr als "einhundertvierundvierzigtausend"
In Vers 9 wird diese Zahl der also nur scheinbar zählbaren Einhundertvierundvierzigtausend nun noch einmal aufgestockt. Die Rede von den "Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen" macht deutlich, dass die Offenbarung in den Kategorien eines "neuen Gottesvolkes" denkt, das nicht mehr nur das jüdische Volk Israel meint, sondern die sich aus Juden wie - besonders seit den Missionserfolgen des Paulus - aus Nichtjuden zusammensetzende christliche Kirche. Die von Jesus befohlene Verbreitung des Evangeliums "bis an die Grenzen der Erde" (Apostelgeschichte 1,8) wird in der Vision des Sehers Johannes schon als in Erfüllung gegangen vorweggenommen.
Dass alle in weiße Kleider gehüllt sind, zeigt den "Fortschritt" in der Vision des Johannes. Denn beim Öffnen des fünften Siegels heißt es bereits:
"9 Als das Lamm das fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem Altar die Seelen aller, die hingeschlachtet worden waren wegen des Wortes Gottes und wegen des Zeugnisses, das sie abgelegt hatten. 10 Sie riefen mit lauter Stimme und sagten: Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, Gericht zu halten und unser Blut an den Bewohnern der Erde zu rächen? 11 Da wurde jedem von ihnen ein weißes Gewand gegeben; und ihnen wurde gesagt, sie sollten noch kurze Zeit ruhen, bis die volle Zahl erreicht sei durch den Tod ihrer Mitknechte und Brüder, die noch getötet werden müssten wie sie" (Offenbarung 6,9-11).
"Weiß" ist in der Offenbarung die Farbe des Sieges, wie die Deutung des weißen Pferdes in der Vision des vorangehenden Kapitels (Offenbarung 6,2) eindeutig sagt. Auch die Palmzweige sind ein Siegeszeichen, mit dem nicht zufällig der in Jerusalem Einzug haltende "König" Jesus begrüßt wird (vgl. Johannes 12,13; aber auch 1 Makkabäer 13,37).
Die Verse 10-14a ...
... legen der unzählbaren Schar der Geretteten und Martyrer denselben Lobpreis Gottes und des Lammes in den Mund, der schon in Kapitel 5 von den Ältesten und den vier Wesen angestimmt wurde (s. die Zweite Lesung vom Dritten Sonntag in der Osterzeit, die Hinweise zu Offb 5,12 im Überblick). Einer der Ältesten tritt überraschend mit Johannes in ein Gespräch ein und fragt ihn nach den Einhundertvierundvierzigtausend: "Wer sind diese?" Johannes gibt die Antwort an den Ältesten zurück: "Mein Herr, du weißt das."
Das Muster dieses Gesprächs stammt aus Ezechiel 37,3: "Er [der HERR] fragte mich: Menschensohn, können diese Gebeine wieder lebendig werden? Ich antwortete: GOTT und Herr, du weißt es." Auch hier handelt es sich um eine Vision.
Der kleine Dialog in beiden Büchern macht deutlich, dass der jeweilige Visionär sich nicht als einer versteht, dessen Verstandeskräfte während seiner Gotteserfahrung komplett ausgeschaltet wurden. Er ist "bei Sinnen" und sieht doch mehr, als er fassen kann und weiß.
Vers 14b: "Im Blut weiß waschen"?
Ab diesem Teil der Lesung befinden wir uns in einer "Aufklärungsrede" des Ältesten an den Seher Johannes, die eigentlich bis Vers 17 reicht. In dem für dei Lesung ausgewählten Vers 14b erhält die weiße Farbe über den Sieg hinaus eine überraschende weitere Deutung: Das Blut des Lammes hat die Gewänder der Martyrer weiß gemacht. Etwas klarer wird der nicht einfach zu verstehende Zusammenhang durch einen Blick auf den in die gleiche Richtung weisenden Text Hebräer 10,22-23:
"19 So haben wir die Zuversicht, Brüder und Schwestern, durch das Blut Jesu in das Heiligtum einzutreten. 20 Er hat uns den neuen und lebendigen Weg erschlossen durch den Vorhang hindurch, das heißt durch sein Fleisch. 21 Und da wir einen Hohepriester haben, der über das Haus Gottes gestellt ist, 22 lasst uns mit aufrichtigem Herzen und in voller Gewissheit des Glaubens hinzutreten, die Herzen durch Besprengung gereinigt vom schlechten Gewissen und den Leib gewaschen mit reinem Wasser! 23 Lasst uns an dem unwandelbaren Bekenntnis der Hoffnung festhalten, denn er, der die Verheißung gegeben hat, ist treu!"
Hier wird deutlich: Dem Blut Jesu, also seiner Selbsthingabe am Kreuz, wird sündenvergebende Kraft zugesprochen, die einen ewigen Zugang zu Gott eröffnet. In diesen Heilszusammenhang lässt sich hineinziehen, wer sich taufen lässt ("waschen mit reinem Wasser"). Der Glaube an diesen Heilszusammenhang, auf den man sich mit der Taufe einlässt (neutestamentlich ist immer an die entschiedene Taufe von Erwachsenen gedacht, noch nicht an die Kindertaufe), will aber auch gelebt werden. Dies erweist sich im unbeirrten Festhalten am "unwandelbaren Bekenntnis der Hoffnung". Genau das aber haben die Martyrer in Offenbarung 7 gelebt. Sie erleben nun die Erfüllung ihrer Hoffnung, ganz aus der sündenvergebenden Liebe Jesu Christi zu leben, die sich in seinem blutigen Kreuzestod erwiesen hat. Dass dabei rot zu weiß wird, könnte auf ein Wort des Propheten Jesaja zurückgehen:
"Kommt doch, wir wollen miteinander rechten, spricht der HERR. Sind eure Sünden wie Scharlach, weiß wie Schnee werden sie. Sind sie rot wie Purpur, wie Wolle werden sie" (Jes 1,18).