Lesejahr A: 2022/2023

1. Lesung (Jes 42,5a.1-4.6-7)

425a So spricht Gott, der HERR 

1 Siehe, das ist mein Knecht, den ich stütze; das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen. Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt, 

er bringt den Nationen das Recht.

2 Er schreit nicht und lärmt nicht und lässt seine Stimme nicht auf der Gasse erschallen.3 Das geknickte Rohr zerbricht er nicht und den glimmenden Docht löscht er nicht aus; ja, er bringt wirklich das Recht. 4 Er verglimmt nicht und wird nicht geknickt, bis er auf der Erde das Recht begründet hat. 

Auf seine Weisung warten die Inseln.

[…]

6 Ich, der HERR, habe dich aus Gerechtigkeit gerufen, ich fasse dich an der Hand. Ich schaffe und mache dich zum Bund mit dem Volk, zum Licht der Nationen, 7 um blinde Augen zu öffnen, Gefangene aus dem Kerker zu holen und die im Dunkel sitzen, aus der Haft.

Überblick

Gott ist der Herr der Weltgeschichte – und das soll sich in der Schwäche seines Gesandten zeigen. Der Leisetreter wird zum Licht der Nationen.

 

1. Verortung im Buch

Gott ruft die gesamte Welt zu einem Rechtsentscheid auf, an dessen Ende feststeht, dass die Götter der Völker nur Nichtse sind: „Siehe, sie alle sind nichts, ihr Tun ist ein Nichts; windig und nichtig sind die Bilder der Götter.“ (Jesaja 41,29). Der Gott Israels ist der alleinige Weltenlenker. Seine gerechte Weltordnung wird sich in der Geschichte durchsetzen. Um diese Wahrheit in der Völkerwelt zu verkünden, ist „sein Knecht“ berufen, der in Jesaja 41,27 als Freudenbote für Jerusalem angekündigt wird. Jesaja 42,1-4 ist das erste der sogenannten „Gottesknechtlieder“ (siehe noch Jesaja 49,1-6; 52,13-53,12 und auch Jesaja 50,4-9).  In der Forschung ist es umstritten, wer dieser Knecht Gottes ist. Sein Auftrag wird erst erfüllt sein, wenn weltweit unter den Völkern das Loblied zu Ehren Gottes erklingt (Jesaja 42,10-12). 

 

2. Aufbau

Während Gott seinen Knecht in den Versen 1-4 vorstellt - sein Auftrag ist „Recht“ zu den Völkern zu bringen –, spricht er ihn in den Versen 6-9 direkt an. Sein Wirken werde zwar unscheinbar, beinahe leise und lautlos geschehen (Vers 4), aber für alle Völker sichtbar sein (Vers 6).

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 1: Der Knecht steht zu Gott in einem Schutz- und Patronatsverhältnis. Sein Auftrag wird erfolgreich sein, weil Gott ihn hält und stützt. Der Knecht steht im Dienst Gottes. Er soll den Völkern nicht das Recht im Sinne der niedergeschriebenen, alttestamentlichen Gesetze, sondern den im vorherigen Kapitel gefallenen Rechtsentscheid verkünden: JHWH, der Gott Israels, allein ist Gott. Die Formulierung im Hebräischen meint genaugenommen nicht nur eine Verkündigung, sondern die Durchsetzung des Rechtsentscheids.

Verse 2-3: Der Knecht ist ein Leisetreter! Er schreit die Botschaft nicht heraus und erregt kein Aufsehen. Denn die Botschaft, die er verkündet, bedarf keiner, Aufsehen erregender Mittel. Seine Botschaft geht nicht zu Lasten des Fragilen und Zerbrechlichen. Gewaltlos wird sich die gerechte Weltordnung Gottes durchsetzen.

Vers 4: Der, der nicht auslöscht und den anderen nicht zerbricht, wird selbst nicht ausgelöscht und nicht zerbrochen. Die Durchsetzung seines Auftrags wird durch Gott garantiert. Er wird den Völkern den Rechtsentscheid nicht nur bringen, sondern ihn durchsetzen bis an die Ränder der Welt – das ist mit „Inseln“ gemeint. Alle Völker, die im Rechtsstreit vor der Geschichtsmächtigkeit Gottes gezittert hatten, warten nun auf die Belehrung durch den Knecht.

Vers 5: Die Redeeinleitung betont im hebräischen Text, dass JHWH nicht nur irgendein Gott ist, sondern „der Gott“. Seine Mächtigkeit wird in zeitlosen Partizipien ausgedrückt: Er ist der Schöpfer und Bewahrer der Welt. Er gibt dem Volk, das heißt hier der Völkergemeinschaft, nicht nur den Lebensatem, sondern im Geist die besondere Verbundenheit des Geschöpfs zum Schöpfer. Die Redeeinleitung preist Gott als Grund alles Lebens in der Welt und leitet vom Wort über den Knecht zum Gotteswort an den Knecht über.

Verse 6-9: Gott stellt sich selbst nicht vor im Sinne von „Ich bin JHWH“, sondern verdeutlicht mit der Nennung seines Namens seinen exklusiven Anspruch (siehe Vers 8). Die Berufung des Knechts geschieht, um Gerechtigkeit und somit das universale Heil durchzusetzen. Gott macht ihn „zum Bund mit dem Volk“ und „zum Licht der Nationen“. Der Begriff „Bund“ meint hier keine gegenseitige Verpflichtung, sondern der Knecht ist das Zeichen und zugleich die Umsetzung der Selbstverpflichtung Gottes. Damit wird ein Rückverweis auf den Bund Gottes mit seinem Volk Israel gegeben, der unzerbrechlich ist. Durch die Verwendung des Wortes „Volk“ (עַם, gesprochen: am) in Vers 6 nicht wie üblich auf ein Volk, sondern auf die Völkergemeinschaft bezogen, öffnet die Beziehung Gottes zu seinem Volk hin zu den Völkern, die durch die vom Knecht überbrachte Belehrung und das Recht sozusagen erleuchtet werden. Die Bilder der wiedersehenden Augen und der Befreiung aus dem Kerker verdeutlichen, dass Gott die gesellschaftliche und politische Grundlage schaffen wird, damit die Völker seine Macht anerkennen und so in Frieden und Freiheit leben werden. Durch den Verweis auf Verheißungen in Vers 9, die sich in der Vergangenheit erfüllt haben, bekräftigt er seine Worte an den Knecht: Das erneute Handeln Gottes durch den Knecht hat er nun angekündigt und es wird sich ebenso erfüllen. Mit dem letzten Wort des Verses stellt sich heraus, dass nicht nur der Knecht angesprochen ist in den Versen 6-9, sondern auch Israel, die Völker und jeder Leser dieser Zeilen.

Die Verse 8-9 sind nicht Teil der Lesung: „Ich bin der HERR, das ist mein Name; ich überlasse die Ehre, die mir gebührt, keinem andern, meinen Ruhm nicht den Götzen. Siehe, das Frühere ist eingetroffen, Neues kündige ich an. Noch ehe es zum Vorschein kommt, mache ich es euch bekannt.

Auslegung

Der Knecht Gottes ist selbst kein König. Er ist beauftragt durch scheinbare Unscheinbarkeit Gottes Macht aufzuzeigen. Sein Tun ist weniger seine Botschaft als seine Existenz: Er übt keine Gewalt aus, kann aber selbst weder zerbrochen noch ausgelöscht werden. In ihm soll sich der Heilswillen nicht mehr nur für das Volk Israel, sondern der gesamten Völkerwelt zeigen, weil Gott nicht nur der Gott Israels, sondern der Herr der gesamten Welt ist. Der Knecht ist der Weltprophet, der den Völkern Gottes Macht verkünden soll. Soll er wie Paulus missionierend durch die Länder ziehen? Der Text erklärt nicht, wie der Knecht den Völkern das Recht, den Rechtsentscheid „bringen“ wird. Der Text lässt auch offen, wer der Knecht selbst ist. Seine Beschreibung in den Versen 2-4 scheinen auf eine einzelne Person zu verweisen. Aber bereits in der vorchristlichen, griechischen Übersetzung (= Septuaginta) wird der Knecht im ersten Vers direkt mit Israel als Gemeinschaft identifiziert. Im vorherigen Kapitel wird das Volk Israel von Gott als „mein Knecht“ bezeichnet. Ebenso wie der Knecht in Jesaja 42,1-4 wird Israel als Knecht von Gott „ergriffen“ und „gerufen“ (Jesaja 41,8-9.13). Somit kann der unbenannte Knecht Gottes auch mit dem Volk Israel oder einer Gruppe daraus identifiziert werden.

Kunst etc.

Das in Jesaja 42,3 mit „Rohr“ übersetzte, hebräische Wort קָנֶה (gesprochen: kane) bezeichnet ursprünglich ein Schilfrohr bzw. ein gewachsenes Holzrohr, das unter anderem als Maßstab verwendet wurde. Wie die Textstellen Jesaja 36,6 und Ezechiel 29,7 nahelegen, besteht dieses Rohr aus leicht zerbrechlichem Material. Gibt es erstmal eine Bruchstelle, an der es zerfasert, ist es nutzlos, selbst wenn es noch nicht zerbrochen ist.

Phragmites australis ligula, fotografiert von Rasbak – Lizenz: CC BY-SA 3.0
Phragmites australis ligula, fotografiert von Rasbak – Lizenz: CC BY-SA 3.0