Was wir von Josef lernen können. Die Erzählung von der Flucht nach Ägypten und der Rückkehr erzählt von der Zerbrechlichkeit und Stabilität einer Gemeinschaft.
1. Verortung im Evangelium
Das Matthäusevangelium (Mt) schildert nach dem Stammbaum Jesu (Mt 1,1-17) und der Erzählung über die Umstände der Geburt Jesu (Mt 1,18-25) die Huldigung der Sterndeuter gegenüber dem neugeborenen Kind (Mt 2,1-12). Diese Erzählung wird zum Ausgangspunkt drei weiterer kleinerer Episoden, die im 2. Kapitel des Evangeliums dargestellt werden: Flucht nach Ägypten (Mt 2,13-15), Kindermord in Bethlehem (Mt 2,16-18), Rückkehr aus Ägypten (Mt 2,19-23). Die Geschichten von der Flucht nach und Rückkehr aus Ägypten sind nicht nur inhaltlich eng miteinander verbunden. Sie nehmen mit dem Motiv der göttlichen Führung auch ein wichtiges Element aus der Geburtserzählung wieder auf und weisen zugleich mit dem Motiv der Gefährdung des Gottes Sohnes hinein in die Dramaturgie der weiteren Jesusgeschichte.
2. Aufbau
Es begegnen uns zwei getrennte, aber eng verknüpfte Episoden der Jesusgeschichte. Die Verse 13-15 sind mit der Huldigung der Sterndeuter (Mt 2,1-12) über Vers 13 verbunden, ebenso die Verse 19-23. Hier ist es die Person des Herodes (Vers 19), die auf die Sterndeuter-Erzählung verweist. Beide Abschnitt werden mit einem Erfüllungszitat abgeschlossen, die noch einmal betonen, dass die Geschichte des Gottessohnes, die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel fortsetzt.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 13: Die Sterndeuter haben Maria, Josef und das Kind verlassen und sind aufgrund eines Traumes (Vers 12) auf einem anderen Weg nach Hause zurückgekehrt, damit Herodes nichts von der Entdeckung des Kindes mitbekommt. Nun erscheint auch Josef ein Engel im Traum (vgl. Mt 1,20) und gibt Anweisungen, was zu tun ist. Anders als in Mt 1,20 wird Gott durch seinen Engel hier nicht aktiv, weil Josef überlegt, wie er als Gerechter auf eine Situation reagieren kann. Hier greift Gott ein, weil er mehr weiß als Josef. Er kennt die Pläne des Herodes und warnt Josef und seine Familie, damit der Gottessohn in Sicherheit ist. Mit der Weisung nach Ägypten zu fliehen und dort zu verweilen „bis ich dir etwas anderes auftrage“ zeigt Gott Josef seine Begleitung und Unterstützung an.
Der Grund für die Flucht wird Josef dramatisch vor Augen geführt: Herodes will das Kind töten. Im griechischen Text steht dies noch expliziter, weil das verwendete Wort eigentlich viel stärker formuliert: „vernichten“. Herodes will das Kind vernichten – so formuliert der Evangelist und weist mit der Verwendung des Verbs bereits voraus auf die weiteren Ereignisse im Leben Jesu. Denn genau dieses Verb „vernichten“ verwendet er auch dort, wo die Pharisäer beschließen Jesus umzubringen (Mt 12,14) und in der Passionserzählung als die Menge überredet wird, die Freilassung des Barnabas und den Tod Jesu zu fordern (Mt 27,20). Matthäus spannt von der ersten Gefährdung des Gottessohnes einen bewussten Bogen bis hin zu seinem Ende durch Verrat und Kreuzigung.
Verse 14-15: Josef tut, was ihm von Gott geraten wird, Matthäus drückt seinen Gehorsam durch eine wortwörtliche Übernahme der Handlungen zwischen Vers 13 und 14 aus.
Das Zitat aus Hosea 11,1 rundet den Abschnitt ab und ordnet das Geschehen heilsgeschichtlich ein. Der Evangelist möchte mit der Aussage aus dem Buch Hosea zwei Dinge verdeutlichen: Gott ist treu, er ist der Immanuel, der Gott mit uns und deshalb setzt er seine Verheißungen fort. Das Kind, das in Bethlehem geboren wurde, ist Gottes Fortschreibung der Geschichte mit dem Volk Israel, deshalb können die Verheißungen der Propheten nun auf Jesus angewendet werden. Gleichzeitig wird die Verheißung des Propheten hier sehr konkret auf Jesus zugespitzt. Ist im Buch Hosea ganz Israel als „Sohn“ bezeichnet, der aus Ägypten herausgeführt wird, so ist es nun klar Jesus, der als Sohn hinein und heraus aus Ägypten geführt wird.
Verse 19-21: Wieder erscheint Josef im Traum ein Engel und gibt ihm einen Auftrag. Ähnlich wie in Vers 13 wird Josef etwas mitgeteilt, was er aufgrund der räumlichen Distanz nicht unbedingt wissen kann: Herodes ist tot, die Gefahr für das Kind damit gebannt. Wieder tut Josef, was ihm geheißen wurde, er zieht mit Maria und dem Kind zurück nach Israel.
In Vers 21 verwendet der Evangelist das sechste Mal im bisherigen Verlauf der Jesuserzählung das Verb „paralambano“ (griechisch: παραλαμβάνω), das „zu sich nehmen“ oder „annehmen“ bedeutet. Das Wort ist weniger technisch, als gemeinschaftsbildend zu verstehen und wird so auch vor allem im neutestamentlichen Kontext verwendet, aber auch außerhalb der Heiligen Schrift. „Zu sich nehmen“ meint, sich eines Menschen annehmen, sich einander zuwenden, woraus dann gemeinschaftliche, familiäre Beziehung entsteht. So wird das Wort nicht nur in der Erzählung von der Geburt Jesu verwendet (Mt 1,20 und 24), wenn Josef Maria zu sich nehmen soll (statt sich zu trennen). Es wird auch in Mt 2,13-15 und 19-23 verwendet, um die familiäre Bindung zwischen Josef, Maria und dem Kind anzuzeigen. Im weiteren Verlauf des Evangeliums wird mit ebendiesem Wort dann auch umschrieben, wie Jesus Jünger zu sich nimmt, um mit ihnen besondere Momente zu teilen (Verklärung, Getsemani). Der Evangelist Matthäus betont also in den Erzählungen von der Geburt Jesu und seiner Flucht nach Ägypten, wie durch Gottes Weisungen und das Handeln des Josef familiäre Gemeinschaft entsteht und sich darstellt. Josef nimmt Maria zu sich und nimmt sich ihrer und des Kindes an, er gibt denen Schutz, die bedroht werden.
Verse 22-23: Nach der Rückkehr nach Israel bekommt Josef Kunde, dass der Sohn des Herodes in Judäa regiert. Aus Angst, der Sohn könne wie sein Vater Jesus nach dem Leben trachten, zieht Josef mit Maria und dem Kind weiter nach Nazareth in Galiläa. Auch hier lohnt noch einmal ein Blick auf die Wortwahl des Evangelisten. Denn mit „anachoreo“ (griechisch: ἀναχωρέω, wegziehen, sich zurückziehen, entweichen) verwendet Matthäus einen Begriff, den er ebenfalls durch das gesamte Evangelium verwendet. Dabei steht das Wort immer wieder im Kontext von Bedrohungs- oder Konflikterzählungen. Es findet Verwendung in der Erzählung von den Sterndeutern (Mt 2,12 und 13), die auf anderem Wege in ihre Heimat zurückkehren, um nicht noch einmal auf Herodes zu treffen. Außerdem findet es sich dort, wo Jesus seinen Gegnern aus dem Weg geht bzw. ihnen entweicht. So zum Beispiel als direkte Reaktion auf den Beschluss der Pharisäer, ihn zu töten (Mt 12,15).
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass in Vers 22 Josef nicht auf explizite Weisung Gottes hin handelt. Zuvor war das Handeln des Josef immer wortwörtlich vorgezeichnet worden durch Ankündigungen des Engels. Dabei ging es immer um Sachverhalte, die Josef nicht so einfach aus sich heraus erkennen konnte: Maria ist vom Heiligen Geist schwanger, Herodes will das Kind töten, Herodes ist gestorben. In diesen Momenten bringt die Weisung des Engels eine Handlung in Gang, die Josef verborgen geblieben wäre. In Vers 22 kann Josef aber aus sich selbst heraus erkennen, dass Judäa nicht der sicherste Ort für seine Familie ist und daher zieht er ohne explizite Weisung des Engels nach Nazareth. Entsprechend vage spricht Matthäus auch nur von einer Weisung die Josef im Traum erhalten hat und verzichtet auf eine genaue Handlungsanweisung wie an den vorherigen Stellen. Dem Evangelisten ist es wichtig, Josef nicht nur als „Befehlsempfänger“, sondern als mitdenkenden und aktiven Teil der Geschichte darzustellen.
Das abschließende Zitat „er wird Nazoräer genannt“ unterscheidet sich von den anderen Erfüllungszitaten, die im bisherigen Verlauf des Evangeliums eingeflochten wurden. Denn der Wortlaut lässt sich so in keiner überlieferten alttestamentlichen Schrift finden. Es scheint so, als wäre dies auch dem Evangelisten klar gewesen, denn er nennt hier das einzige Mal „die Propheten“ (Plural!) als Quelle und nicht einen Propheten (vgl. Mt 2,15 oder 17). Wichtiger als der Wortlaut eines Prophetenbuches scheint Matthäus die Überlieferung eines Sachverhaltes gewesen zu sein. Mit dem Begriff „Nazoräer“ soll das Aufwachsen Jesu in Nazareth eingeordnet werden. Das Kind wird also mit dem Ort seines Heranwachsens verbunden („er wird Nazoräer genannt“). Zugleich schwingt in „Nazoräer“ aber auch der hebräische Wortstamm „nesär“ (Spross, Zweig) mit, der in prophetischen Texten immer wieder verwendet wird, wenn es um den ersehnten Messias geht. Wie zum Beispiel in Jesaja 11,1: „Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht“.