Lesejahr A: 2022/2023

1. Lesung (Ex 34,4b.5-6.8-9)

4bFrüh am Morgen stand er [Mose] auf und ging auf den Sinai hinauf, wie es ihm der HERR aufgetragen hatte. […] 5 Der HERR aber stieg in der Wolke herab und stellte sich dort neben ihn hin. Er rief den Namen des HERRN aus. 6 Der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber und rief:

Der HERR ist der HERR,

ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue:

[…]

8 Sofort verneigte sich Mose bis zur Erde und warf sich zu Boden. 9 Er sagte:

Wenn ich Gnade in deinen Augen gefunden habe, mein Herr, dann ziehe doch, mein Herr, in unserer Mitte! Weil es ein hartnäckiges Volk ist, musst du uns unsere Schuld und Sünde vergeben und uns dein Eigentum sein lassen!

Überblick

Wenn Halsstarrigkeit auf Barmherzigkeit trifft, offenbart sich Gottes Wesen und er erklärt die Bedeutung seines Namens.

 

1. Verortung im Buch

Es ist der Tiefpunkt der Beziehung des Volkes Israel zu seinem Gott erreicht – und das bereits kurz nach der Rettung aus Ägypten. Tanzend hatten sie sich von ihrem Retter abgewandt und dem mit eigenen Händen geschaffene Goldenen Kalb zugewandt (Exodus 32); und damit kurz nach deren Offenbarung die Zehn Gebote übertreten (Exodus 20,4-5). Der Höhepunkt des Buches Exodus ist schnell verblasst. In der Begegnung Gottes mit seinem Volk am Berg Sinai (Exodus 19-24) wurde die Tiefendimension sichtbar, um derentwillen sich der Auszug aus Ägypten ereignet hatte: die Begegnung mit dem lebendigen Gott war die Aufnahme dieser Menschen in die Lebensgemeinschaft Gottes. Dies drückt sich in der biblischen Kategorie des „Bundes“ aus. ברית (gesprochen: berit) bezeichnet allgemein im Alten Testament eine wechselseitige Treuebeziehung, sozusagen eine partnerschaftliche Lebensgemeinschaft, zwischen unterschiedlichen Personen oder Gemeinschaften. Diese menschliche Kategorie wurde biblisch der zentrale Begriff, um die Beziehung oder das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen zu beschreiben. Doch diesen Bund brachen die Israeliten direkt. Dass es in Exodus 34,10-35 dennoch zur einer Bundeserneuerung kommen wird, verdankt sich der Fürbitte Moses und dem in Exodus 34,4-9 offenbarten Wesen Gottes (siehe auch die Rubrik „Kontext“!)

Nach der Erzählung vom Goldenen Kalb ist die Fürsprache Mose vor Gott die letzte Hoffnung: „Am folgenden Morgen sprach Mose zum Volk: Ihr habt eine große Sünde begangen. Jetzt will ich zum HERRN hinaufsteigen; vielleicht kann ich für eure Sünde Sühne erwirken“ (Exodus 32,30). Die im Raum stehende Frage lautet: Gibt es Vergebung bei Gott?

 

2. Aufbau

An die Offenbarung dessen, was der Name Gottes verheißt, schließt die konkrete Fürbitte Moses an (Verse 9-10). Im Zentrum stehen fünf Beschreibungen des Wesens Gottes (Vers 6), deren Bedeutung in Vers 7 erklärt werden.

  

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 4: Dass der erneute Bundesschluss kurz bevorsteht, zeigt sich am Anfang dieses Verses bereits dadurch, dass Mose auf Geheiß Gottes nun die neuen Bundestafeln anfertigt – entsprechend der ersten, die er im Angesicht des Goldenen Kalbes zerschmettert hatte (Exodus 32,19). Dass Mose früh aufsteht hat eine besondere Bedeutung und betont sein eifriges Handeln für Gott. Die Formulierung verweist zurück auf Moses Ratifizierung des niedergeschriebenen Bundes Gottes: „Mose schrieb alle Worte des HERRN auf. Am frühen Morgen stand er auf und errichtete am Fuß des Berges einen Altar und zwölf Steinmale für die zwölf Stämme Israels“ (Exodus 24,4).

Vers 5: Im vorherigen Kapitel hatte Mose darum gebeten Gottes Herrlichkeit sehen zu dürfen (Exodus 33,18-19). Dieser Wunsch wird ihm nun gewährt. Moses steigt auf den Gottesberg und Gott kommt zu ihm hernieder. Wie angekündigt ruft Gott nun vor Mose seinen Namen aus, das heißt: Er offenbart sich ihm in der Auslegung seines Namens. Was bedeutet Gottes Name JHWH?

Verse 6-7: Die Bestätigung „JHWH ist JHWH“ ist eine Vergewisserung der Zusage aus Ex 3,14 (siehe dazu die Rubrik „Kontext“). Was sie bedeutet wird in der folgenden Beschreibung offengelegt.

ein barmherziger und gnädiger Gott“: Grob verallgemeinert gibt es in der Hebräischen Bibel drei verschiedene Bezeichnungen für Gott. Den Gottesnamen יהוה, sowie die Bezeichnungen אלוהים (gesprochen: elohim) und אל (gesprochen: el). Warum steht hier das eine und nicht das andere? אלוהים steht meistens in Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch: „unser Gott“, „Gott unserer Väter“, „Gott meines Heils“. אל dagegen ist in vielen Fällen der Gott mit Charakterzügen, der „barmherzige“ oder „heilige“ Gott, „Gott der Treue“, „Gott des Heils“. Das Unveränderliche dominiert, nicht das Relative. Was von Gottes Wesen ausgesagt wird, ist רחום וחנון (gesprochen: rachum vechanun): Beide Adjektive findet sich in der Hebräischen Bibel nur über Gott ausgesagt. Zum ersten Adjektiv: Die Grundbedeutung dieses hebräischen Wortes ist der Mutterleib (רחםm gesprochen: rechem); diese Bezeichnung trägt die feminine Konnotation, der Verbundenheit einer Mutter zu ihrem Kind, das hilflos von ihr aufgenommen und beschützt wird. Die Barmherzigkeit liegt aber nicht an der eindringlichen Klage des Elenden: Ein Imperativ der Wurzel רחם lässt sich nicht belegen. Vielmehr ist mit רחום das innere Empfinden des Mitleids beschrieben, das Gott in seinem Innersten fühlt. Zum zweiten Adjektiv: חנון ist abgeleitet von dem hebräischen Wort für „Gunst“ bzw. „Gnade“. Mit diesem Adjektiv ist eine Aussage darüber getroffen, dass Gott den Bitten der Bedürftigen freundlich gewogen ist („Gnade finden in jmds. Augen“).

langmütig und reich an Huld und Treue“: „Langmütig“ bedeutet hier wörtlich eigentlich „lang (wartend) hinsichtlich des Zorns“ und sollte als Beschreibung der Barmherzigkeit Gottes gelesen werden. Es wird von Gott ausgesagt, dass er auch ein zorniger, vergeltender Gott ist, aber dies wird zeitlich eingeschränkt: Es dauert lange, bis er in Rage gerät. Denn, „er ist reich an Huld und Treue“, wie die Einheitsübersetzung weiter übersetzt. Das mit „Huld“ übersetzte Wort  חסד (gesprochen: chesed) bedeutet an sich erstmal eine „gute Tat“. Zugleich bezeichnet das Wort die Gesinnung des Wohltäters bei der Tatausführung. חסד ist ein Liebeserweis, der sowohl frei geschieht, zu dem sich Gott aber auch in seinem Bund, vergleichbar eines Ehepartners verpflichtet. Dementsprechend wird anschließend von der Treue Gottes gesprochen. Sie ist der Ausdruck Gottes Verbundenheit zu den Menschen, seiner Zuverlässigkeit (das Wort „Amen“ kommt von derselben verwendeten hebräischen Wurzel).

Das Ausgesagte wird in Vers 7 aufgenommen und erklärt: „Er bewahrt tausend Generationen Huld, nimmt Schuld, Frevel und Sünde weg, aber er spricht nicht einfach frei, er sucht die Schuld der Väter bei den Söhnen und Enkeln heim, bis zur dritten und vierten Generation.

Die umfassende, göttliche Barmherzigkeit wird dadurch unterstrichen, dass durch die Begriffe Schuld, Frevel und Sünde alle Dimensionen des menschlichen Handelns gegen Gott umfasst sind. Gott „trägt“ die Schuld. Seine Verbundenheit ist keine leere Worthülse, sondern konkreter Einsatz. Sie geht „so weit, dass er Last und Schaden, die der Mensch in der Verletzung seines eigenen Existenzgrundes gewirkt hat, stellvertretend auf sich lädt, um den Menschen erneut in das Gemeinschaftsverhältnis mit ihm einsetzen zu können“ (E. Zenger). Doch dies bedeutet nicht das Ende der Idee eines strafenden Gottes: „aber er spricht nicht einfach frei“. Die Dialektik der kommenden Aussage folgt der Logik der Beziehung: Barmherzigkeit meint nicht Gleichgültigkeit. Hierbei werden den Tausenden, gemeint sind ungezählte Generationen, auf der einen Seite, die „Kinder und Kindeskinder der dritten und vierten Generation“ gegenübergestellt. Der menschlich kaum überschaubaren Seite von tausenden von Generationen werden das Gnadenhandeln und die Vergebungsbereitschaft Gottes zugeordnet, der - vermittelt durch den Hinweis, dass Gott nicht einfach freispricht – das „Prüfen“ bzw. „Heimsuchen“ der Schuld der Väter bei den darauf folgenden drei bis vier Generationen gegenübersteht. Es geht hier also um das Übermaß der göttlichen Barmherzigkeit gegenüber seiner Strafgerechtigkeit. Die Aussage dieses Textstückes leugnet die Strafgerechtigkeit nicht, ordnet sie aber deutlich gegenüber der göttlichen Barmherzigkeit ein. Die Beschränkung beim Strafen auf die Generationenzahl, die in der altisraelitischen Großfamilie höchstens zusammenleben kann, passt zu dem Basisverständnis der Aussage, dass es nicht um ein Strafen der nachfolgenden Generationen für die Vergehen der Vorausgehenden geht, sondern um ein Prüfen, ob die Sünden der einen Generation bei den Nachgeborenen wieder begegnen.

Ex 34,6-7 kann somit insgesamt folgendermaßen zusammengefasst werden: Gott spricht nicht einfach frei von Schuld. Die menschliche Verantwortung bleibt bestehen, die göttliche Barmherzigkeit ist keine Automatik. Gleichzeitig gilt aber auch: Dieser Gott JHWH ist ein barmherziger und gnädiger Gott, dessen Vergebungsbereitschaft menschlich unfassbar bleibt. Der Gott JHWH hört das Leid der Israeliten in Ägypten, er führt sie in die Freiheit, verzeiht ihre Sünden, verlangt aber, sowie er liebt, ebenso geliebt zu werden.

Vers 8: Mose handelt nun, wie das Volk Israel auf die Ankündigung seiner Befreiung aus Ägypten reagierte (siehe Exodus 4,31 un 12,27). Und nun verneigt sich Mose so „schnell“, wie das Volk den Weg Gottes wieder verlassen hatte (vergleiche Exodus 32,8). In seinem Handeln zeigt sich die Hoffnung auf einen Neuanfang, um den er im folgenden Vers bittet.

Vers 9: In der Wüste hatte das Volk gemurrt und störrisch gefragt: „Ist der HERR in unserer Mitte oder nicht?“ (Exodus 17,3) – obwohl Gott sie anführte. Durch das Goldene Kalb hatten sie Gott aus ihrer Mitte verstoßen. Nun bittet Mose ausdrücklich um Vergebung. Erstmals begegnet in der Bibel hier eine Bitte um Vergebung (סלח). Und er knüpft an eine Verheißung Gottes aus Exodus 19,5 an: „Jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein.“ Nun verdeutlicht sich, dass das Volk nicht aufgrund seines Gesetzesgehorsams die besondere Beziehung zu Gott aufrecht erhält, sondern trotz des menschlichen Versagens diese Zusage eine Gnadengabe Gottes ist.

Auslegung

Dass Israel ein „halsstarriges Volk“ ist, stellt Gott mehrfach fest, nachdem es seinen Bund gebrochen hat (Exodus 32,9; 33,3.5). Und auch Mose gibt ihm in diesem Urteil recht. Doch – und das ist die Aussage der Gnadenformel in den Versen 6-7 – Gottes Barmherzigkeit ist größer als sein Strafwillen. Wenn man Vers 7 überliest, könnte man dabei schnell der Meinung sein, dass es keine Gerechtigkeit gäbe: Wo ist die Strafe für die Sünde? Gott ist zwar „langmütig“, aber er verliert die menschliche Schuld nicht aus dem Blick. Es gehört auch zum Subkontext dieser Namensoffenbarung, dass die Sünder – und damit ist in diesem Kontext das Kollektiv des Volkes gemeint – auf dem Prüfstand steht. Doch Israel kann sich gewiss sein, dass Gottes Gnade sozusagen seinen Zorn immer überlebt und dass sein Willen zur Beziehung zu seinem Volk ein Gnadengeschenk ist (zum Wesen Gottes siehe ausführlicher die Rubrik „Kontext“).

Kunst etc.

In den Nachbarkulturen des biblischen Israels waren Sonnentheologien eine Selbstverständlichkeit. In Ägypten wurde der Sonnenlauf – der Ablauf von Aufgang, Himmelsüberfahrt, Untergang und angenommener Durchquerung der Unterwelt in der Nacht – als sich täglich wiederholende Überwindung der das Leben bedrohenden Chaosmächte gedeutet. Das die Dunkelheit am Morgen durchbrechende Licht wurde als Durchsetzung der Schöpfungsordnung verstanden. Dieses Motiv findet sich auch häufig im Alten Testament (siehe Zefanja 3,5).  In Mesopotamien war der Sonnengott Schamasch „Herr über Recht und Gerechtigkeit“, da das Sonnenlicht nach dieser Sonnentheologie alles erhellt und so selbst in die Herzen der Menschen leuchtet. So verheißt auch im Alten Testament der Sonnenaufgang nicht nur Heil, sondern auch Gericht (siehe Hosea 10,15). Gott selbst wird sogar im Alten Testament metaphorisch mit der Sonne verglichen. In den Psalmen wird Gott dann gar selbst als Sonne bezeichnet (siehe Psalm 84,12). Er ist die immer neu aufgehende Quelle des Lebens und der Gerechtigkeit, er ist die „Sonne der Gerechtigkeit“ (Maleachi 3,20).

Die Sonne ermöglicht Leben, und zerstört es. Daher ist es verständlich, dass im Alten Orient und in der Bibel gerade sie als Vergleichspunkt für das göttliche Handeln herangezogen wurde. Sie jeden Tag auf Neue sehen zu dürfen, bedeutet zu leben (Psalm 58,9) und zugleich litt man unter der Sonne und ihrer glühenden Hitze (Jesaja 49,10). Die in der Kunst häufig zusehende Darstellung des Gottesnamens יהוה als Sonne verdeutlicht eben diese beiden Dimensionen des Wesens Gottes, die in Exodus 34,6/7 in Beziehung gesetzt sind.

Die Darstellung des Gottesnamens „JHWH“ in der schwedischen Kirche Ulrika Eleonora, Söderhamn – Lizenz: gemeinfrei.
Die Darstellung des Gottesnamens „JHWH“ in der schwedischen Kirche Ulrika Eleonora, Söderhamn – Lizenz: gemeinfrei.