Lesejahr A: 2022/2023

1. Lesung (Spr 31,10-13.19-20.30-31)

10Eine tüchtige Frau, wer findet sie? /

Sie übertrifft alle Perlen an Wert. 11Das Herz ihres Mannes vertraut auf sie / und es fehlt ihm nicht an Gewinn. 12Sie tut ihm Gutes und nichts Böses / alle Tage ihres Lebens. 13Sie sorgt für Wolle und Flachs / und arbeitet voll Lust mit ihren Händen.

[...]

19Nach dem Spinnrocken greift ihre Hand, / ihre Finger fassen die Spindel. 20Sie öffnet ihre Hand für den Bedürftigen / und reicht ihre Hände dem Armen.

[...]

30Trügerisch ist Anmut, vergänglich die Schönheit, / eine Frau, die den HERRN fürchtet, sie allein soll man rühmen. 31Gebt ihr vom Ertrag ihrer Hände, / denn im Stadttor rühmen sie ihre Werke!

Überblick

Eine tüchtige Frau wird als Paradebeispiel gelebter Weisheit gepriesen – ein Lobpreis, der auch Fragezeichen hinterlässt.

 

1. Verortung im Buch

Kurz nach dem Beginn des Buchs der Sprichwörter ergreift die Weisheit, personifiziert als Frau, das Wort: „Die Weisheit ruft laut auf der Straße, auf den Plätzen erhebt sie ihre Stimme. Im größten Lärm ruft sie, an den Stadttoren hält sie ihre Reden: …“ (Sprichwörter 1,20-21). Die Aussagen über Frau Weisheit stehen in direkter Beziehung zu dem „Lob der tüchtigen Frau“ am Ende des Buches. Die in Sprichwörter 31,10-31 beschriebene tüchtige und weise Frau repräsentiert ein Paradebeispiel für ein gelungenes, menschliches Leben. Ihre Beschreibung fasst die Aussage des Buchs der Sprichwörter zusammen: Die zwei entscheidenden Tugenden sind Fleiß und Barmherzigkeit. So legt sich auch durch die letzten Worte des Buches ein Rahmen um das gesamte Buch. Die beschrieben Frau, „die den HERRN fürchtet, sie allein soll man rühmen“ (Vers 30), denn wie es am Anfang des Buches als Axiom festgestellt wird: „Die Furcht des HERRN ist Anfang der Erkenntnis“ (Sprichwörter 1,7), bzw. „Anfang der Weisheit ist die Furcht des HERRN, die Kenntnis des Heiligen ist Einsicht“ (Sprichwörter 9,10). 

 

2. Aufbau

Das Lehrgedicht schreitet voran von der Perspektive auf die Frau als für Andere Handelnde zu der Perspektive, die sie betrachtet als eine Person, die es verdient hat, von Anderen gelobt zu werden. Dessen Themen sind ihr Wert (Verse 10-12), ihre Aktivitäten (Verse 13-27) und der Lobpreis auf sie (Verse 38-31). In diesem Aufbau bilden die Verse 20-21 in ihrem Aufbau das Zentrum (siehe „Erklärung einzelner Verse“).

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 10: Das erste Wort mit dem die Frau beschrieben wird (חַיִל, gesprochen: hayil) hat eine breites Bedeutungsspektrum: Es drückt Stärke aus, sowohl im Sinne von Reichtum, körperlicher Kraft, militärischer Macht, praktischer Kompetenz und eines guten Charakters. Die folgende rhetorische Frage zeigt an, wie schwer es ist, sie zu finden. Es folgt die Festellung – wörtlich übersetzt: „Ihr Preis übertrifft Korallen.“ Gemeint ist hier tatsächlich der in der damaligen Zeit zu zahlende Brautpreis – jedoch in einem bildlichen Sinn. Sie ist sehr wertvoll (siehe Vers 11).

Vers 11: Üblicherweise gestatten die Texte des Alten Testament den Menschen nur auf Gott und auf keine anderen Menschen zu vertrauen – doch hier darf, kann und soll der Ehemann der beschriebenen Frau auf sie, die Gott fürchtet, vertrauen – u.a. weil sie ihm Gewinn bringt. Das mit „Gewinn“ übersetzte Wort  שָׁלָל (gesprochen: schalal) stammt eigentlich aus der Kriegssprache: Die Frau ist also wie ein Krieger, die Beute nach Hause bringt. 

Verse 12-13: Das geschenkte Vertrauen bringt dem Ehemann Wohlstand und Sicherheit. Sie ist gewillt, bzw. hat Freude daran (auch handwerklich) zu arbeiten.

Verse 19-20: Beide Verse bilden einen Chiasmus, d.h. die beiden Begriffe für die Hände aus Vers 19 werden spiegelbildlich in Vers 20 aufgenommen und es gibt sich eine zusammenhängende Aussage: Hand – Handfläche – Handfläche – Hand. Die schaffenden, gewinnbringenden Hände sind zugleich barmherzige Hände. Besonders interessant daran ist, dass eigentlich die Arbeit an der Spindel nicht besonders hoch angesehen war (siehe 2 Samuel 3,29).  

Vers 30: Auch die Bibel wertschätzt ein gutes Aussehen (siehe zum Beispiel das Hohelied oder Sprichwörter 5,19), so wird hier auch nicht Attraktivität negativ beurteilt, sondern in ihrer Bedeutung eingeschränkt. Sie ist vergänglich, während der Gottesfurcht Beständigkeit zugesprochen wird. Der Vergleich liegt auf der Frage, welcher Ruhm länger hält: die Attraktivität oder die Gottesfurcht?

Vers 31: Der „Ertrag ihrer Hände“ und „ihre Werke“ beschreibend zusammenfassend den gesamten Inhalt des vorher gesungenen Lobpreises. In aller Öffentlichkeit soll ihr Lob gesungen werden und sie somit als Beispiel für gelebte Weisheit bekannt sein.

Auslegung

Der Wert einer Frau bestimmt sich nicht anhand ihres Aussehens – der schönste Anblick vergeht in einem Augenblick. Ein Schatz – so lehrt das Buch der Sprichwörter in seinem letzten Kapitel – ist eine Ehefrau, die selbstständig, unternehmerisch erfolgreich, weise, gütig und gottesfürchtig ist. Eine gute Ehefrau ist kein Objekt, sondern eine eigenständig handelnde Person, auf die der Ehemann vertrauen kann. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Schriften des Alten Testaments in einer patriarchalen Gesellschaft, in der Frauen den Ehemännern untergeordnet waren, entstanden sind. So wird auch im Buch der Sprichwörter eine Frau entsprechend ihrem Handeln gegenüber ihrem Ehemann beurteilt; doch eine gute Ehefrau tritt aus dem Schatten ihres Ehemanns hervor. Sie ist es, die ihre Familie versorgt und finanziell mit-absichert. Sie hat sich ihren Ruhm nicht nur in der Familie, sondern von der Gesellschaft verdient. Sie darf nicht von ihrem Ehemann ausgebeutet werden, sondern – und das ist der letzte Satz des Buchs der Sprichwörter – sie soll selbst den Ertrag ihrer Arbeit genießen dürfen. Sie soll wirtschaftlich gleichberechtig mit ihrem Mann sein.

Vertrauen auf Gott ist eine der wichtigen Lehren der alttestamentlichen Weisheit: „Menschenangst ergibt einen Fallstrick; derjenige, der auf JHWH vertraut ist sicher“ (Sprichwörter 29,25). Gemäß dem Buch der Sprichwörter rettet weder das Vertrauen auf den eigenen Verstand, noch auf den eigenen Reichtum den Menschen, sondern nur auf Gott und auf die eigene Ehefrau darf man vertrauen: „Das Herz ihres Mannes vertraut auf sie, Beute wird ihm nicht fehlen.“ (Sprichwörter 31,11) – und dieses Vertrauen wird reichlich belohnt. Wer auf Gott und auf seine Ehefrau vertraut, erhält Lohn ohne dafür zu arbeiten. Dieser Lohn des Ehemanns ist in der wirtschaftlichen Freiheit der Frau grundgelegt. Ihre wirtschaftliche Tüchtigkeit wird ihr zum Lobpreis, nicht nur in der Familie, sondern durch die Gesellschaft. Ihre Leistung wird anerkannt.

Doch dem Lobpreis auf die tüchtige Ehefrau, die nur schwer zu finden ist und die mehr Wert ist als die teuersten Güter, fehlt aus der heutigen Perspektive ein grundlegender Bestandteil. Es fehlen die glühende Leidenschaft und die verzehrende Liebe zwischen den Ehepartnern, von der das Hohelied Zeugnis gibt. Das Buch der Sprichwörter fasst im Bild der tüchtigen Ehefrau am Ende des Buches die Tugenden der Weisheit zusammen und erhöht somit den sozialen Status der Frau in der Gesellschaft. Aber erst wohlwollende, gegenseitige Liebe ermöglicht eine wahre Gleichberechtigung der Ehepartner. Was ist eine tüchtige Ehefrau wert, wenn die gegenseitige Liebe fehlt?

Kunst etc.

Die israelische Künstlerin Helene Jacubowitz hat versucht, den Text in einer Statue darzustellen. Sie wirkt wie eine Trophäe und der feminine Körper ist stark betont. Was symbolisiert die Platte mit der Kugel, die sie über ihrem Kopf trägt. Dient sie oder hat sie die Welt in ihrer Hand?

Helene Jacubowitz „Woman of valor“, fotografiert von zeevveez – Lizenz: CC BY 2.0.
Helene Jacubowitz „Woman of valor“, fotografiert von zeevveez – Lizenz: CC BY 2.0.