Lesejahr A: 2022/2023

1. Lesung (Jes 11,1-10)

1 Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht. 

2 Der Geist des HERRN ruht auf ihm: der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. 3 Und er hat sein Wohlgefallen an der Furcht des HERRN. Er richtet nicht nach dem Augenschein und nach dem Hörensagen entscheidet er nicht, 4 sondern er richtet die Geringen in Gerechtigkeit und entscheidet für die Armen des Landes, wie es recht ist. Er schlägt das Land mit dem Stock seines Mundes und tötet den Frevler mit dem Hauch seiner Lippen. 5 Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften und die Treue der Gürtel um seine Lenden. 

6 Der Wolf findet Schutz beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Junge leitet sie. 7 Kuh und Bärin nähren sich zusammen, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. 8 Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter und zur Höhle der Schlange streckt das Kind seine Hand aus. 9 Man tut nichts Böses und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; 

denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des HERRN, so wie die Wasser das Meer bedecken.

10 An jenem Tag wird es der Spross aus der Wurzel Isais sein, der dasteht als Feldzeichen für die Völker; die Nationen werden nach ihm fragen und seine Ruhe wird herrlich sein.

Überblick

Seit Tausenden von Jahren, auch im Advent, hoffen die Menschen auf eine friedliche und harmonische Welt, in der selbst ein Säugling ungefährdet neben eine Schlange spielen kann. Der Prophet Jesaja verheißt diese Hoffnung und lässt sie auf einem Baumstumpf beginnen.

 

1. Verortung im Buch

„Wehe der sündigen Nation, dem schuldbeladenen Volk, der Brut von Übeltätern, den Söhnen, die Verderben bringen!“ Mit scharfen Worten beginnt das Buch Jesaja im ersten Kapitel. Dieser Gegenwartsbeschreibung wird in elften Kapitel ein Zukunftvision entgegengesetzt, die auf folgendes Gotteswort zuläuft: „Man tut nichts Böses und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg“ (Vers 9a). Der Weg in diese Zukunft ist ein brachialer: „Der HERR wird die Menschen entfernen, sodass die Verlassenheit groß ist inmitten des Landes. Bleibt darin noch ein Zehntel, so soll es erneut abgeweidet werden, wie bei einer Eiche oder Terebinthe, von denen beim Fällen nur ein Stumpf bleibt. Heiliger Same ist sein Stumpf“ (Jesaja 6,12-13). Das Zeichen der heilsamen Zukunft, dieser heilige Samen, wird nun in Jesaja 11,1 als Reis aus dem Baumstumpf Isais, des Vaters des großen Königs David, verheißen.

Diese Heilsbotschaft ist jedoch nicht urgeschichtlich, sondern in konkrete Geschichtsereignisse hineingesprochen, wie bereits ein Blick auf den Text verrät. Die Heilsbotschaft beginnt nicht erst in Jesaja 11, sondern bereits im vorherigen Kapitel: „Siehe, Gott, der HERR der Heerscharen, schlägt mit schrecklicher Gewalt die Zweige ab. Die Hochgewachsenen werden gefällt und die Emporragenden sinken nieder. Er rodet das Dickicht des Waldes mit dem Eisen und der Libanon fällt durch einen Mächtigen“ (Jesaja 10,33-34). Mit diesen Worten wird der Untergang des Assyrischen Großreiches, das Gott als sein Werkzeug zur Bestrafung Israels auserwählt hatte, verkündet. Die Aussage in Jesaja 11,1 – „Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht“ – setzt grammatisch die Verse in Jesaja 10,33-34 fort als ein zeitliches Kontinuum, wie auch das Ende von Jesaja 11 verdeutlicht. Zwar wird eine Heilsgestalt, der Reis aus dem Baumstumpf Isais erstehen, aber Gott bleibt der eigentliche Herrscher, der sein Volk, dass Assur gefangen genommen und verstreut hat, zurück ins Land führen wird (Verse 11-16).

 

2. Aufbau

In der gesamten Prophetenrede, die eine wunderbare Zukunftsvision entwirft, gibt es nur ein kurzes Gotteswort: „Man tut nichts Böses und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg“ (Vers 9a).

Das besondere Merkmal der in Vers 1 eingeführte Heilsgestalt ist weder seine Stärke, noch wird er König genannt, sondern: „Der Geist des HERRN ruht auf ihm“. Was dies bedeutet entfalten die Verse 2-5. Gottes Wirken durch ihn führt zu einem Friedensreich, in dem selbst der Mensch mit der Natur wieder versöhnt und die Welt von Gotteserkenntnis durchwoben sein wird (Verse 6-9). 

Vers 10 bezeichnet die in Vers 1 ein eingeführte Heilsgestalt als „Feldzeichen“ und verweist damit auch auf seine Funktion als Zeichen – nicht als Machtgestalt – für die Völker.

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 1: Isai ist der Vater König Davids. Zu ihm wurde gemäß 1 Samuel 16,2 der Prophet Samuel von Gott geschickt, um einen seiner Söhne zum König zu salben. An diese Erzählung wird in diesem Vers angeknüpft und ein Neuanfang verheißen. Der Baum ist ein altorientalisches Königsmotiv – somit symbolisiert der Baumstupf Isais das gefällte Königtum Davids, dem aber nun ein Neuanfang entwächst. Das in diesem Vers verwendete Bild kann besser verstanden werden, wenn man es mit Ijob 14,7-8 vergleicht: „Denn für den Baum besteht noch Hoffnung: Ist er gefällt, so treibt er wieder, sein Sprössling bleibt nicht aus. Wenn in der Erde seine Wurzel altert und sein Stumpf im Boden stirbt, vom Dunst des Wassers sprosst er wieder und wie ein Setzling treibt er Zweige.“

Vers 2: Dass der Geist Gottes auf dieser Heilsgestalt ruht, bedeutet, dass er unter der Leitung Gottes steht. Er ist Gottes Werkzeug. Die Bedeutung dessen, wird in drei Wortpaaren zum Ausdruck gebracht: „Weisheit und Einsicht“ ermöglichten ihm, wie es die Aufgabe eines Königs im Alten Orient war, gerecht das Recht zu sprechen (siehe Verse 3-4); „Rat und Stärke“ ermöglichen die geplante Durchführung der Bestrafung von Frevlern (Siehe Verse 4-5); und er ist der Beginn der „Erkenntnis und Gottesfurcht“, die zu einer friedvollen Ordnung im Land führen wird (Verse 6-9). Die Aufgabe dieser angekündigten Heilsgestalt ist somit eine Art heilige Reinigung des Landes, wie sie in Jesaja 4,4 angekündigt ist: „Wenn der Herr den Kot der Töchter Zions abgewaschen und die Bluttaten Jerusalems aus ihrer Mitte durch den Sturm des Gerichts und den Sturm der Verwüstung weggespült hat … “.

Verse 3-5: Heilsgestalt ist der ideale menschliche Herrscher, weil, wie es wörtlich zu Beginn von Vers 3 heißt, „Wohlduft ihm die Furcht JHWHs ist“. Gottesfurcht ist gemäß dem Buch der Sprichwörter der Beginn der Weisheit und hier die Grundlage eines gerechten Herrschens im Auftrag Gottes. Im Alten Orient war der König die höchste richterliche Instanz und seine Aufgabe war die Durchsetzung nicht primär des Rechts, sondern der Gerechtigkeit. Das heißt, sein Ziel sollte der Schutz der Rechtlosen, der Armen und der Unterdrückten sein (siehe Psalm 72,4). Wie sehr die hier verheißene Heilsgestalt dies als Werkzeug Gottes ausführt, wird in der beschriebenen Zurechtweisung und Vergeltung deutlich: Dem Bild des „Hauches seiner Lippen“ liegt das gleiche hebräische Wort zugrunde, das auch den Geist JHWHs benennt (רוּחַ, gesprochen: ru‘ach). Bemerkenswert ist, dass die Autorität der Heilsgestalt nicht auf Gewalt besteht, sondern sich auf das gesprochene Wort beschränkt: Sein Machtwort, ermöglicht durch den Geist Gottes, kommt ohne gewaltsame Machausübung aus. Seine Waffen sind „Gerechtigkeit“ und „Treue“ (man könnte hier auch „Glauben“ übersetzen) – und dieses Wortpaar wird ansonsten in der Bibel verwendet, um Gottes Handeln vom menschlichen Tun zu unterscheiden (siehe Psalm 33,4-5).

Verse 6-9: Es wird die Domestizierung von Raubtieren angekündigt (Vers 6) und aus Fleischfressern werden Pflanzenfresser (Vers 7), so dass eine konfliktfreie Harmonie entsteht, in der selbst die gefährliche Schlange und der wehrlose Säugling gefahrlos miteinander spielen können. Damit wird an die Harmonie im Paradies angeknüpft, die durch den sogenannten Sündenfall zerstört wurde (siehe Genesis 1-3). Diese scheinbare Neuschöpfung wird jedoch zugespitzt oder gar begrenzt auf Jerusalem und das Land Israel. Der Ort des Tempels wird frei von bösen Taten sein und das Handeln der Menschen im Land wird von Gotteserkenntnis geleitet werden. Und dass dies nicht nur ein vorübergehender Zustand sein wird, verdeutlicht das Bild vom ewigen Meer – die Gotteserkenntnis wird das Land und seine Bewohner durchfluten. 

Vers 10: Die Heilsgestalt wird auch die Funktion eines Feldzeichens für die Nationen besitzen – was dies für das Gottesvolk bedeutet, wird in Vers 12 entfaltet: „Er [= Gott] wird ein Feldzeichen für die Nationen aufrichten und die Versprengten Israels zusammenbringen; die Zerstreuten Judas wird er von den vier Enden der Erde sammeln.“ In Vers 10 wird jedoch noch mehr ausgesagt. Der in den Versen 2-9 beschriebene Zustand wird eine Leuchtturmfunktion für die Völker haben. Vielleicht wird hier auf Jesaja 2,2-4 und der Vision der Völkerwallfahrt angespielt. Sie, das Gottesvolk und auch er werden Ruhe finden, wie Gott im Zusammenhang mit seinem Tempel für sein Volk versprochen hat (siehe Deuteronomium 12,8-12).

Auslegung

Jesaja 11,1-9 wird gemeinhin als ein messianischer Text bezeichnet. In ihm werde eine zukünftige Heilsgestalt als Retter und Erlöser Israels verheißen. Der Begriff „Messias“ ist schillernd und hat für das Christentum in Jesus Christus eine gegenüber dem Alten Testament ganz neue Deutung im Neuen Testament erfahren. Die Verheißungen in Jesaja 11,1-9 sind in die konkrete Situation der Verstreuung Israels unter die Völker durch das Großreich Assur gesprochen und der verkündete Frieden, die neue Harmonie in der Welt, hat sich auch in Jesus Christus noch nicht erfüllt. Die Hoffnung, dass ein Säugling ungefährdet neben einer Schlange spielen kann, ist nicht weniger als die Hoffnung auf ein Ende der Welt, wie wir sie kennen, und einem vollständigen Neuanfang. 

Dieser Neuanfang ist der Reis aus dem Baumstumpf Isais nicht selbst, sondern durch Gott wird er mit dem verheißenen Herrscher als Werkzeug gewirkt. Die menschliche Gestalt, die hier verkündet wird, tritt machtvoll auf, aber ist doch ohnmächtig ohne den Geist Gottes. Gott setzt durch ihn seine Königsherrschaft durch, das heißt: Die Gerechtigkeit Gottes soll sich als Weltordnung durchsetzen. Die Grundlage hierfür ist aber nicht nur das Handeln der menschlichen Heilsgestalt, sondern eine Welt, die mit Gotteserkenntnis durchwebt ist.

Diese Hoffnung, auch wenn sie sich weder in der Zeit des Alten Testaments noch in Jesus Christus völlig erfüllt hat, ist nicht gestorben, sondern lebt weiter. Der Text selbst öffnet sie für die geglaubte Zukunft. Weder wird zeitlich konkret festgelegt, wann der Reis aus dem Baumstumpf Isais „auftreten“ wird. Gewiss ist nur, dass der Untergang des Großreiches Assur die Voraussetzung dafür ist. So bleibt dieser Text für gläubige Optimisten auch in der heutigen Zeit eine Verheißung.

Kunst etc.

Der Begriff „Reis“ ist kein Alltagswort. Es bezeichnet einen jungen Spross, einen Schössling. Verbunden mit dem Bild des Baumstumpfs entsteht eine mächtige Hoffnung. Selbst aus dem gewaltsamen Ende – wenn zumindest noch Wurzeln gegeben sind – kann noch aufblühendes Leben entstehen.

„Growth, Plant“, fotografiert von ctvgs – Lizenz: pixabay.com
„Growth, Plant“, fotografiert von ctvgs – Lizenz: pixabay.com