Die Weichen werden am Anfang gestellt. In dieser Hinsicht scheint Paulus bei den Thessalonichern alles richtig gemacht zu haben.
Einordnung der Lesung in den Brief
Nachdem an den letzten beiden Sonntagen die Einleitung des Ersten Briefs an die Gemeinde von Thessalonich gelesen wurde, springt die heutige Lesung in den Hauptteil des Schreibens, der mit Kapitel 2 beginnt. Sein eigentliches Hauptthema, nämlich wie es sich mit dem christlichen Leben unter dem Vorzeichen einer ihrem Ende entgegengehenden Zeit verhält, zögert Paulus bis zum vierten Kapitel hinaus. Bis dahin blickt er vor allem auf die zwischen sich und der Gemeinde gewachsene Beziehung, lobt seine Adressaten ob ihrer Glaubenstreue und begründet sein Wissen über sie mit der Rückkehr seines Missionsgefährten Timotheus, der zeitweilig in Thessalonich zu Besuch war.
Die ausgewählten Verse der heutigen Lesung, die die ersten sechseinhalb Verse des paulinischen Rückblicks ebenso weglässt wie das Selbstlob des Missionartrios Paulus, Timotheus und Silvanus (vgl. 1 Thessalonicher 1,1) in den Versen 10-12 blicken auf die Anfänge der paulinischen Mission in Thessalonich, denn in ihnen wurzelt das von Paulus betonte gute Einvernehmen zwischen ihm und den Seinen.
Die Lesung von Vers zu Vers
Vers 7b: Eine menschenfreundliche Grundhaltung
Die im Lesungstext des Lektionars ausgelassenen Einleitungswörter "Im Gegenteil" machen deutlich: Mit seiner Erinnerung an die "freundliche Begegnung" beim ersten Kennenlernen der Thessalonicher*innen, unter denen Paulus zusammen mit Timotheus und Silvanus missionierte, grenzt er sich von anderen Möglichkeiten ab. Diese nennt er in den vorangehenden Versen 1-7a: Die drei kamen nicht mit "unlauterer oder betrügerischer Absicht", wollten nicht "irreführen" (Vers 3), verzichteten auf "Schmeichelei" (Vers 5), handelten nicht aus "Habgier" (ebd.) - d. h. sie predigten nicht gegen entsprechende finanzielle Zuwendungen -, suchten nicht nach "Ehre" (Vers 6) noch pochten sie auf der ihnen zustehender Ehre als "Apostel" (Vers 7a).
Das Wort "freundlich" (griechisch ʼēpios) wurde im Alltagsgriechisch der biblischen Zeit für die (zumindest idealerweise angenommene) Wohlgesonnenheit eines Vaters gegenüber seinem Sohn, eines Königs gegenüber seinen Untertanen oder eines Richters gegenüber einem Angeklagten gebraucht. In der Rhetorik (Redekunst) wurde es gleichbedeutend mit "Menschenfreundlichkeit" und steht für eine Haltung wohlmeinenden Gebens. So will wohl auch Paulus das Wort verstanden wissen und bezeichnet damit die selbstlose, rein adressatenorientierte Verkündigungshaltung seiner selbst und seiner Gefährten. Genau das verdeutlicht auch das folgende Bild von der "Mutter", wörtlich: der "Amme", die das säugende Kind wie ihr eigenes nährt.
Vers 8: Das Evangelium Gottes
Die genaue Lektüre von Vers 8 lässt jedoch einen wesentlichen Unterschied zu dem, was eine Amme tut, erkennen. Denn Paulus gibt weder "etwas" von sich weg zugunsten der Menschen, vor denen er verkündigt, noch handelt es sich um eine Gabe, die er in irgendeiner Weise "hergestellt" hat - so wie die nährende Milch der Amme - jeder Vergleich hinkt, aber dennoch: - ein Produkt ihres Körpers ist. Seine "Gabe" ist das "Evangelium Gottes". Der Genitiv ist doppelt zu verstehen: Es ist das Evangelium über Gottes Wirken in Jesus Christus, es ist aber auch das Evangelium, das ganz von diesem Gott herkommt. Bereits im für dei Lesung ausgelassenen Vers 4 hatte Paulus versichert: "[3 Denn wir predigen ...,] 4 weil Gott uns geprüft und uns das Evangelium anvertraut hat, nicht also um den Menschen zu gefallen, sondern um Gott zu gefallen, der unsere Herzen prüft" [s. ergänzend das unter "Auslegung" Gesagte].
Zu dieser Wahrheit gehört aber noch eine weitere: Die Boten verkünden das ihnen von Gott anvertraute Evangelium nicht als etwas ihnen persönlich Fremdes oder zumindest von ihrer Person Losgelöstes, sondern sie identifizieren sich derart mit dem lebensbegründenden Wort Gottes ("Evangelium"), dass die Evangeliumsweitergabe für sie gleichzeitig Anteilgabe am eigenen Leben, am eigenen Daseins- und Hoffnungsgrund ist. Viel später, im Römerbrief, wird Paulus aus dieser engen Verknüpfung von eigenem Leben und Evangelium Gottes ein Argument zur Beweiskraft der Botschaft von der Auferweckung Jesu schlagen: "14 Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer, leer auch euer Glaube. 15 Wir werden dann auch als falsche Zeugen entlarvt, weil wir im Widerspruch zu Gott das Zeugnis abgelegt haben.... 20 Nun ist aber Christus von den Toten auferweckt worden ..." (Römer 15,14-15.20a).
Die "Übergabe der eigenen Seelen" (so die ganz wörtliche Übersetzung des in der Einheitsübersetzung mit "an unserem Leben teilhaben lassen" übersetzten griechischen Ausdrucks) hat einen ebenso existentiellen wie emotionalen Aspekt. Diesen greift der Schluss von Vers 8 auf: "denn ihr wart uns sehr lieb geworden", wörtlicher: "denn ihr seid uns Geliebte geworden". Das Beharren auf der Wörtlichkeit geschieht hier nicht um der Rechthaberei willen. Vielmehr umfasst die deutsche Redewendung "lieb geworden" nur die emotionale Dimension. Der von Paulus verwendete Ausdruck "Geliebte" hingegen ist bei ihm geläufge Ansprache der Gemeinden (z. B. 2 Korinther 7,1; Philipper 4,1). Das nimmt dem Wort nichts von der auch mitzuhörenden Emotionalität, begründet diese aber anders als durch eventuelle positive Gefühle, die man für Andere hegt. "Geliebte werden" ist eine Art Status-Anerkennung. So hat Paulus bereits am Anfang seines Briefes festgestellt: "Wir wissen, von Gott geliebte Brüder und Schwestern, dass ihr erwählt seid" (1 Thessalonicher 1,4). "Denn ihr seid uns Geliebte geworden" bedeutet auf diesem Hintergrund, dass Paulus und seine Missionsgefährten in den "heidnischen", ihnen also eigentlich fremden Thessalonichern von Gott Geliebte und damit auch von ihnen selbst mehr und mehr vorbehaltlos anerkannte, wertgeschätzte, umsorgte und am Herzen liegende Mitglieder in der großen Verwandtschaft Gottes ("Erwählung") geworden sind.
Vers 9: Compliance
Dieser Vers bezieht sich auf die bereits in Vers 5 gemachte Feststellung, dass es den Missionaren bei der Verkündigung nie um finanzielle Interessen ging (s. o. zu Vers 7b). Der Beweis ist einfach zu führen: Paulus hat sein Geld mit regulärer Erwerbsarbeit verdient. Gemeinhin gilt er als Zeltmacher, also jemand der mit Stoffen arbeitete. Möglicherweise darf man sich seine Verkündigung so vorstellen, dass er sich vor dem Hauseingang ihm bereits bekannter Personen mit seinen Utensilien niederließ, seine Stoffe zuschnitt oder vernähte und dabei Vorbeikommende ins missionarische Gespräch verwickelte. Beides, Verkauf seiner Waren und Verkündigung, hielt er aber wohl streng voneinander getrennt. Das gab ihm absolute Unabhängigkeit für seine Predigt - eine Voraussetzung, die schon der Prophet Amos im Alten Testament für sich beansprucht (s. unter "Kontext").
Vers 13: Dankbarkeit
In den für die Lesung ausgelassenen Versen 10-12 verweist Paulus darauf, wie sehr er, Timotheus und Silvanus die Thessalonicher*innen "ermahnt, ermutigt und beschworen haben zu leben, wie es Gottes würdig ist" (Vers 12). Angesichts solcher unermüdlicher Anstrengung erklärt sich nun Vers 13: Paulus ist froh und dankbar, mit der Verkündigungsarbeit erfolgreich gewesen zu sein. Dabei zeigt die Argumentation, dass es sich in Thessalonich nicht um eine Bekehrung aus Angst oder Autoritätshörigkeit handelt, sondern um ein Verständnis für das "Evangelium Gottes", das eben nicht "Menschenwort", sondern "Gotteswort" ist (s. bereits oben zu Vers 8) und als solches und nur als solches eine eigene Wirksamkeit entfaltet. Diesen Gedanken wird Paulus im späteren Römerbrief grandios auf eine Kurzformel des Glaubens bringen: "Es [d. i. das Evangelium Gottes] ist eine Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt" (Römer 1,16).