Als Höhepunkt des 8. Römerbriefkapitels schwenkt Paulus vom argumentativen Tonfall der Verse 18-30 in einen geradezu hymnischen Ton um. Aus der Ausgangsthese "Ich bin nämlich überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll." (Vers 18) wird eine grundsätzliche Relativierung und Entmachtung all dessen und derer, die "die Leiden der gegenwärtigen Zeit" verursachen könnten. Provokativ und gewissermassen auch triumphierend stellt Paulus die rhetorische Frage in den Raum:
"Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?" (Vers 31).
Einordnung der Lesung in den Zusammenhang
Man möchte fast sagen: Schon mit dem Vers 31 vorangehenden Vers 30 des achten Kapitels hat sich Paulus im Römerbrief geradezu in Extase geredet. Die These von der jeweils größeren "Herrlichkeit" gegenüber konkreter möglicher oder tatsächlicher Leiderfahrung ist ihm so unwiderlegbar, dass er von der "Verherrlichung", also der Überwindung allen Leidens und der durch nichts betrübten Begegnung mit Gott selbst so sprechen kann, als seien sie bereits erfolgt:
"die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht"
Die in der Leseordnung ausgelassenen Verse 31-34 nennen erstmals ausdrücklich den Grund dieser unerschütterlichen Hoffnung und verdeutlichen den in Vers 30 nur angedeuteten Zusammenhang. Auf sie muss kurz geblickt werden, um die mit Vers 35 einsetzende Lesung des heutigen Sonntag verstehen zu können:
Zur Erläuterung der Formulierung "die er aber gerecht gemacht hat" aus Vers 30 schreibt Paulus in Vers 32:
"Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben".
In der Theologie des Paulus bedeutet dies: Gott hat den Menschen nicht den Folgen seiner Sündhaftigkeit überlassen, nämlich sich defintiv von ihm losgesagt, sondern im Gegenteil: Lieber hat er den eigenen Sohn - Jesus - der schlimmst möglichen Folge menschlichen Sündenhandelns, nämlich der Tötung, überlassen, um deren negative Sogkraft zu überwinden: das ist die Aufweckung. Im Tod des unschuldigen Sohnes wird der Tötungsmechanismus ad absurdum geführt und zugleich erfährt der Mensch, dass Gottes Wille bezüglich des Menschen ein anderer ist. Auf dem Hintergrund des Gotteswortes aus Ezechiel 18,23:
"Habe ich etwa Gefallen am Tod des Schuldigen - Spruch GOTTES, des Herrn - und nicht vielmehr daran, dass er umkehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? "
kann man nach Paulus sagen: Gott hat dem Menschen auch noch die Umkehr abgenommen und selbst die Initiative ergriffen. Gott ist nicht Ankläger, der auf das Todesurteil des Menschen aus ist. Ganz im Gegenteil: Sein Richtspruch über den Menschen lautet: "Lebe - in Gemeinschaft mit mir, deinem Schöpfer - auf ewig!"
Diesen im Blick auf Jesus recht passivisch, also rein erduldend formulierten Gedanken ergänzt Paulus um einen zweiten: Jesus ist nicht nur nicht vom Tod verschont, dann aber auferweckt worden, sondern als Auferweckter tritt er nun beständig beim Vater für die Menschen ein:
"Der auferweckt worden ist, er sitzt zur Rechten Gottes und tritt für uns ein" (Vers 34).
Das Motiv wird im ersten Vers der heutigen Lesung geliefert: die "Liebe Christi". Von ihr spricht Paulus vergleichbar nur noch in Galater 2,20 ("... im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat."). Dennoch ist der Gedanke entscheidend: Jesus ist eben nicht nur ein Dulder, sondern er hat seinen Weg wissend und aus Liebe "für uns alle" (Vers 32), d. h. "uns allen zugute" auf sich genommen. Zwischen Gottes und des Sohnes Willen passt kein Blatt.
Vers 35: Die entscheidende Frage
Deshalb kann Paulus nun - nach Vers 31 - zur zweiten großen rhetorischen Frage vollmundg ausholen:
"Was kann uns scheiden von der Liebe Christi?"
Man ahnt schon, dass sie nur eine mögliche Antwort zulässt: "Gar nichts!"
Die insgesamt sieben und damit nach biblischer Symbolik auf Vollständigkeit in der Aufzählung zielenden Gefahren umfassen zwei Bereiche denkbaren Leids: die Verfolgung aus Glaubensgründen, die Paulus allesamt auch am eigenen Leib erfahren hat und schließlich wohl mit der eigenen Hinrichtung durchleiden musste, und die Strapazen der langen Missionswege in Zeiten, die von Reisekomfort mit angenehmen Transportmitteln und bequemen Unterkünften noch nichts wussten.
Der ausgelassene Vers 36 betont einmal mehr, dass es um Bedrohungen geht, die "um deinetwillen" (Zitat aus Psalm 44,23, das Paulus auf Jesus hin deutet), also um Christi willen erfolgen. Genau das verbindet Glaubensverfolgung und Missionsstrapazen.
Vers 37: Die "Geliebten" sind die "Sieger"
Dieser Vers benennt die Auswirkung der beschriebenen Situation der Glaubenden, nämlich Gott in seiner lebensrettenden Macht und Christus in seiner alles übersteigenden Liebe auf ihrer Seite zu wissen: Gegenüber jeglicher Bedrohung und Einschüchterung sind sie "Sieger". Das griechische Verb müsste man wörtlich mit "über-siegen" (griechisch hypernikáō) übersetzen. Die schon etwas übertreibende Wortwahl (man nennt eine solche Stilfigur Hyperbel) erklärt sich vor allem aus der Fortsetzung:
Vers 38: Die Machtlosigkeit der "Mächte"
Einmal mehr gibt sich Paulus als in der Apokalyptik verwurzelt zu erkennen, also in jener religösen Strömung, die in neuer Sprache und mit neuen Bildern auf die Unterdrückungsszenarien erst der Griechen, dann der Römer reagiert und einen breiten Strom von Literatur hervorgebracht hat. Hierher erklärt sich die zweite Siebenerreihe von Bedrohungen, die sich nicht - wie Vers 35 - auf reale Alltagserfahrungen beziehen, sondern auf "Mächte" der sichtbaren, vor allem aber unsichbaren Welt. Auch sie vermögen nichts angesichts der "Liebe Christi".
Vers 39: Raum und Kreatur
Nachdem Vers 38 mit dem Gegensatzpaar "Gegenwärtiges - Zukünftiges" die Dimension der Zeit angesprochen hat, füllt der letzte Vers die Dimensionen der Wirklichkeit, die die Grundbedingung von Leiderfahrung sind, um die Räumlichkeit ("Höhe - Tiefe") und um die Geschaffenheit ("Kreatur") auf. Letztere steht natürlich für das grundsätzliche Spannungsgefüge von Leben und Tod, insofern die Geschöpflichkeit prinzipiell mit Vergänglichkeit verbunden ist. Aber auch diese irdisch geltende, für Viele so schwer auszuhaltende Grundsatzbegrenzung trennt eben nicht von der Liebe Christi als dem Aufweckten, die wiederum identisch ist mit der Liebe Gottes selbst.
Als Schlusswort des hymnischen Ausklangs von Kapitel 8 erhält der von Paulus immer wieder verwendete Christustitel "Herr" eine besondere Bedeutung: ER - also Christus - der sich als Herr über den Tod und alle denkbaren Mächste erwiesen hat - er ist zugleich "unser Herr". Deshalb und nur deshalb gilt, was Paulus als These an den Anfang seiner Ausführungen (Lesung vom 15.Sonntag) stellte:
"Ich bin nämlich überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll" (Röm 8,18).