Lesejahr A: 2022/2023

Evangelium (Joh 18,1-19,42)

Die Verhaftung Jesu: 18,1–11

181Nach diesen Worten ging Jesus mit seinen Jüngern hinaus, auf die andere Seite des Baches Kidron. Dort war ein Garten; in den ging er mit seinen Jüngern hinein.

2Auch Judas, der ihn auslieferte, kannte den Ort, weil Jesus dort oft mit seinen Jüngern zusammengekommen war.

3Judas holte die Soldaten und die Gerichtsdiener der Hohepriester und der Pharisäer und kam dorthin mit Fackeln, Laternen und Waffen.

4Jesus, der alles wusste, was mit ihm geschehen sollte, ging hinaus und fragte sie: Wen sucht ihr?

5Sie antworteten ihm: Jesus von Nazaret. Er sagte zu ihnen: Ich bin es. Auch Judas, der ihn auslieferte, stand bei ihnen.

6Als er zu ihnen sagte: Ich bin es!, wichen sie zurück und stürzten zu Boden.

7Er fragte sie noch einmal: Wen sucht ihr? Sie sagten: Jesus von Nazaret.

8Jesus antwortete: Ich habe euch gesagt, dass ich es bin. Wenn ihr also mich sucht, dann lasst diese gehen!

9So sollte sich das Wort erfüllen, das er gesagt hatte: Ich habe keinen von denen verloren, die du mir gegeben hast.

10Simon Petrus, der ein Schwert bei sich hatte, zog es, traf damit den Diener des Hohepriesters und hieb ihm das rechte Ohr ab; der Diener aber hieß Malchus.

11Da sagte Jesus zu Petrus: Steck das Schwert in die Scheide! Der Kelch, den mir der Vater gegeben hat - soll ich ihn nicht trinken?

Jesus vor Hannas: 18,12–27

12Die Soldaten, der Hauptmann und die Gerichtsdiener der Juden nahmen Jesus fest, fesselten ihn

13und führten ihn zuerst zu Hannas; er war nämlich der Schwiegervater des Kajaphas, der in jenem Jahr Hohepriester war.

14Kajaphas aber war es, der den Juden den Rat gegeben hatte: Es ist besser, dass ein einziger Mensch für das Volk stirbt.

15Simon Petrus und ein anderer Jünger folgten Jesus. Dieser Jünger war mit dem Hohepriester bekannt und ging mit Jesus in den Hof des Hohepriesters.

16Petrus aber blieb draußen am Tor stehen. Da kam der andere Jünger, der Bekannte des Hohepriesters, heraus; er sprach mit der Pförtnerin und führte Petrus hinein.

17Da sagte die Pförtnerin zu Petrus: Bist nicht auch du einer von den Jüngern dieses Menschen? Er sagte: Ich bin es nicht.

18Die Knechte und die Diener hatten sich ein Kohlenfeuer angezündet und standen dabei, um sich zu wärmen; denn es war kalt. Auch Petrus stand bei ihnen und wärmte sich.

19Der Hohepriester befragte Jesus über seine Jünger und über seine Lehre.

20Jesus antwortete ihm: Ich habe offen vor aller Welt gesprochen. Ich habe immer in der Synagoge und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen. Nichts habe ich im Geheimen gesprochen.

21Warum fragst du mich? Frag doch die, die gehört haben, was ich zu ihnen gesagt habe; siehe, sie wissen, was ich geredet habe.

22Als er dies sagte, schlug einer von den Dienern, der dabeistand, Jesus ins Gesicht und sagte: Antwortest du so dem Hohepriester?

23Jesus entgegnete ihm: Wenn es nicht recht war, was ich gesagt habe, dann weise es nach; wenn es aber recht war, warum schlägst du mich?

24Da schickte ihn Hannas gefesselt zum Hohepriester Kajaphas.

25Simon Petrus aber stand da und wärmte sich. Da sagten sie zu ihm: Bist nicht auch du einer von seinen Jüngern? Er leugnete und sagte: Ich bin es nicht.

26Einer von den Knechten des Hohepriesters, ein Verwandter dessen, dem Petrus das Ohr abgehauen hatte, sagte: Habe ich dich nicht im Garten bei ihm gesehen?

27Wieder leugnete Petrus und gleich darauf krähte ein Hahn.

Jesus vor Pilatus: 18,28–19,16a

28Von Kajaphas brachten sie Jesus zum Prätorium; es war früh am Morgen. Sie selbst gingen nicht in das Gebäude hinein, um nicht unrein zu werden, sondern das Paschalamm essen zu können.

29Deshalb kam Pilatus zu ihnen heraus und fragte: Welche Anklage erhebt ihr gegen diesen Menschen?

30Sie antworteten ihm: Wenn er kein Übeltäter wäre, hätten wir ihn dir nicht ausgeliefert.

31Pilatus sagte zu ihnen: Nehmt ihr ihn doch und richtet ihn nach eurem Gesetz! Die Juden antworteten ihm: Uns ist es nicht gestattet, jemanden hinzurichten.

32So sollte sich das Wort Jesu erfüllen, mit dem er angedeutet hatte, welchen Tod er sterben werde.

33Da ging Pilatus wieder in das Prätorium hinein, ließ Jesus rufen und fragte ihn: Bist du der König der Juden?

34Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus oder haben es dir andere über mich gesagt?

35Pilatus entgegnete: Bin ich denn ein Jude? Dein Volk und die Hohepriester haben dich an mich ausgeliefert. Was hast du getan?

36Jesus antwortete: Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn mein Königtum von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Nun aber ist mein Königtum nicht von hier.

37Da sagte Pilatus zu ihm: Also bist du doch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.

38Pilatus sagte zu ihm: Was ist Wahrheit?

Nachdem er das gesagt hatte, ging er wieder zu den Juden hinaus und sagte zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.

39Ihr seid aber gewohnt, dass ich euch zum Paschafest einen freilasse. Wollt ihr also, dass ich euch den König der Juden freilasse?

40Da schrien sie wieder: Nicht diesen, sondern Barabbas! Barabbas aber war ein Räuber.

191Darauf nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln.

2Die Soldaten flochten einen Kranz aus Dornen; den setzten sie ihm auf das Haupt und legten ihm einen purpurroten Mantel um.

3Sie traten an ihn heran und sagten: Sei gegrüßt, König der Juden! Und sie schlugen ihm ins Gesicht.

4Pilatus ging wieder hinaus und sagte zu ihnen: Seht, ich bringe ihn zu euch heraus; ihr sollt wissen, dass ich keine Schuld an ihm finde.

5Jesus kam heraus; er trug die Dornenkrone und den purpurroten Mantel. Pilatus sagte zu ihnen: Seht, der Mensch!

6Als die Hohepriester und die Diener ihn sahen, schrien sie: Kreuzige ihn, kreuzige ihn! Pilatus sagte zu ihnen: Nehmt ihr ihn und kreuzigt ihn! Denn ich finde keine Schuld an ihm.

7Die Juden entgegneten ihm: Wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz muss er sterben, weil er sich zum Sohn Gottes gemacht hat.

8Als Pilatus das hörte, fürchtete er sich noch mehr.

9Er ging wieder in das Prätorium hinein und fragte Jesus: Woher bist du? Jesus aber gab ihm keine Antwort.

10Da sagte Pilatus zu ihm: Du sprichst nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich freizulassen, und Macht, dich zu kreuzigen?

11Jesus antwortete ihm: Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre; darum hat auch der eine größere Sünde, der mich dir ausgeliefert hat.

12Daraufhin wollte Pilatus ihn freilassen, aber die Juden schrien: Wenn du diesen freilässt, bist du kein Freund des Kaisers; jeder, der sich zum König macht, lehnt sich gegen den Kaiser auf.

13Auf diese Worte hin ließ Pilatus Jesus herausführen und er setzte sich auf den Richterstuhl an dem Platz, der Lithostrotos, auf Hebräisch Gabbata, heißt.

14Es war Rüsttag des Paschafestes, ungefähr die sechste Stunde. Pilatus sagte zu den Juden: Seht, euer König!

15Sie aber schrien: Hinweg, hinweg, kreuzige ihn! Pilatus sagte zu ihnen: Euren König soll ich kreuzigen? Die Hohepriester antworteten: Wir haben keinen König außer dem Kaiser.

16Da lieferte er ihnen Jesus aus, damit er gekreuzigt würde.

Kreuzigung, Tod und Begräbnis Jesu: 19,16b–42

Sie übernahmen Jesus.

17Und er selbst trug das Kreuz und ging hinaus zur sogenannten Schädelstätte, die auf Hebräisch Golgota heißt.

18Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere, auf jeder Seite einen, in der Mitte aber Jesus.

19Pilatus ließ auch eine Tafel anfertigen und oben am Kreuz befestigen; die Inschrift lautete: Jesus von Nazaret, der König der Juden.

20Diese Tafel lasen viele Juden, weil der Platz, wo Jesus gekreuzigt wurde, nahe bei der Stadt lag. Die Inschrift war hebräisch, lateinisch und griechisch abgefasst.

21Da sagten die Hohepriester der Juden zu Pilatus: Schreib nicht: Der König der Juden, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden.

22Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.

23Nachdem die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile daraus, für jeden Soldaten einen Teil, und dazu das Untergewand. Das Untergewand war aber ohne Naht von oben ganz durchgewoben.

24Da sagten sie zueinander: Wir wollen es nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte sich das Schriftwort erfüllen: Sie verteilten meine Kleider unter sich und warfen das Los um mein Gewand. Dies taten die Soldaten.

25Bei dem Kreuz Jesu standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala.

26Als Jesus die Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zur Mutter: Frau, siehe, dein Sohn!

27Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.

28Danach, da Jesus wusste, dass nun alles vollbracht war, sagte er, damit sich die Schrift erfüllte: Mich dürstet.

29Ein Gefäß voll Essig stand da. Sie steckten einen Schwamm voll Essig auf einen Ysopzweig und hielten ihn an seinen Mund.

30Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und er neigte das Haupt und übergab den Geist.

31Weil Rüsttag war und die Körper während des Sabbats nicht am Kreuz bleiben sollten - dieser Sabbat war nämlich ein großer Feiertag -, baten die Juden Pilatus, man möge ihnen die Beine zerschlagen und sie dann abnehmen.

32Also kamen die Soldaten und zerschlugen dem ersten die Beine, dann dem andern, der mit ihm gekreuzigt worden war.

33Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, dass er schon tot war, zerschlugen sie ihm die Beine nicht,

34sondern einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite und sogleich floss Blut und Wasser heraus.

35Und der es gesehen hat, hat es bezeugt und sein Zeugnis ist wahr. Und er weiß, dass er Wahres sagt, damit auch ihr glaubt.

36Denn das ist geschehen, damit sich das Schriftwort erfüllte: Man soll an ihm kein Gebein zerbrechen.

37Und ein anderes Schriftwort sagt: Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben.

38Josef aus Arimathäa war ein Jünger Jesu, aber aus Furcht vor den Juden nur im Verborgenen. Er bat Pilatus, den Leichnam Jesu abnehmen zu dürfen, und Pilatus erlaubte es. Also kam er und nahm den Leichnam ab.

39Es kam auch Nikodemus, der früher einmal Jesus bei Nacht aufgesucht hatte. Er brachte eine Mischung aus Myrrhe und Aloe, etwa hundert Pfund.

40Sie nahmen den Leichnam Jesu und umwickelten ihn mit Leinenbinden, zusammen mit den wohlriechenden Salben, wie es beim jüdischen Begräbnis Sitte ist.

41An dem Ort, wo man ihn gekreuzigt hatte, war ein Garten und in dem Garten war ein neues Grab, in dem noch niemand bestattet worden war.

42Wegen des Rüsttages der Juden und weil das Grab in der Nähe lag, setzten sie Jesus dort bei.

Überblick

Im Kreuz bündelt sich das Spektrum menschlicher Gefühle: Schrecken, Angst, Hass, Hoffnung und Liebe.

 

 

1. Verortung im Evangelium
Im zweiten Hauptteil des Johannesevangeliums (Joh), der mit dem 13. Kapitel und der Fußwaschung beginnt, steht die Rückkehr Jesu zum Vater und seine Verherrlichung im Mittelpunkt. Zugleich konzentriert sich das Handeln und Verkünden Jesu auf den Kreis seiner Jünger. Seinen engsten Vertrauten hat er die Füße gewaschen und in den folgenden Abschiedsreden eine Deutung seines Leidens anvertraut. In der Passion Jesu im Johannesevangelium tauchen diese beiden Fäden wieder auf: Verherrlichung und Beziehung zu den Seinen. Diese inhaltlichen Schwerpunkte sollen auch für die Auslegung der längsten Passionserzählung des Neuen Testaments im Mittelpunkt stehen.

 

2. Aufbau
Der Aufbau der Erzählungen von Leiden und Sterben Jesu in den anderen Evangelien (Markus, Matthäus und Lukas) weisen übereinstimmend folgende Abschnitte auf:

·       Todesbeschluss, Salbung Jesu, Judas bei den jüdischen Autoritäten

·       Vorbereitung zum Abendmahl, Abendmahl

·       Gang zum Ölberg, Gebet in Getsemani, Verhaftung Jesu

·       Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten

·       Verleugnung des Petrus und Überstellung Jesu an Pilatus

·       Verhör durch Pilatus

·       Kreuzigung Jesu

·       Tod Jesu

·       Grablegung Jesu

 

Johannes hat einen weitestgehend gleichen Aufbau seiner Leidensgeschichte, setzt dabei aber wie jeder der Evangelisten auch seine eigenen Akzente, die bedeutsamsten sollen hier kurz genannt werden:

·       Die langen Abschiedsreden Jesu (Kapitel 14-17) sind markant, nur das Lukasevangelium kennt auch Abschiedsworte Jesu, wenn auch in deutlich kürzerer Form.

·       Die Erzählung von der Fußwaschung ist nur bei Johannes zu finden und überlagert das Geschehen des letzten Abendmahls.

·       Das Gebet in Getsemani lässt Johannes aus.

·       Jesus trägt sein Kreuz selbst zur Hinrichtungsstätte, Simon von Kyrene (zum Beispiel Lukasevangelium 23,26) taucht im Johannesevangelium nicht auf.

 

Deutlich ausführlicher hat Johannes folgende Szenen ausgestaltet:

·       Der Verrat und die Auslieferung durch Judas.

·       Das Verhör zwischen Pilatus und Jesus.

·       Die Szene unter und am Kreuz Jesu.

·       Das Begräbnis Jesu durch Josef von Arimathäa.

 

 

3. Erklärung einzelner Abschnitte
Jesus und Pilatus (Joh 18,28-19,16a und 19,19-22)

Die Szene vor dem römischen Statthalter ist vermutlich von der dramaturgischen Ausgestaltung her ein Höhepunkt in der Erzählung der johanneischen Leidensgeschichte. Sie lässt sich in sieben Teilszenen untergliedern und ist geprägt vom Ortswechsel des Pilatus, der zwischen Jesus im Inneren des Prätoriums und den Juden vor dem Gebäude hin und her läuft. An zwei Stellen führt Pilatus Jesus noch einmal hinaus zu seinen Anklägern (Joh 19,4-7 und 19,13-16) hinaus: Er präsentiert ihnen den gegeißelten Jesus und spricht das Urteil.

Auffällig ist der gegenüber den anderen Evangelisten ausgestaltete Dialog zwischen Jesus und Pilatus. Antwortet Jesus sonst nur knapp auf die Frage „Bist du der König der Juden“ und hüllt sich dann in Schweigen, so kommt es bei Johannes zu einem ausführlichen Gespräch zwischen Jesus und Pilatus um das Königtum Jesu. Dabei ist das Gespräch inhaltlich freilich zum Scheitern verurteilt. Denn wie soll der irdische Machthaber, der ganz in seinen eigenen Kategorien denkt, das Königreich und die Herrschaft Jesu verstehen? Markant ist, dass immer dann, wenn Jesus Pilatus etwas von seiner Wirklichkeit versucht zu erzählen, der Dialog zu einer Unterbrechung kommt und Pilatus seine Richterrolle abgeben will.

Das Ende des ersten Dialogs wir markiert durch die Frage des Pilatus „Was ist Wahrheit?“. Die Rede Jesu von seinem Königtum und von der Notwendigkeit Zeugnis für die Wahrheit abzulegen, hinterlassen bei Pilatus Fragen. Vor allem die Frage nach einer Schuld des Angeklagten, denn nach der Wahrheitsfrage geht Pilatus zu den Juden hinaus und sagt: „Ich finde keine Schuld an ihm.“ Wahrheit und Wahrhaftigkeit sind keine Kategorien weltlicher Herrschaft so scheint es. Pilatus bleibt fragend und unverständig gegenüber dem tieferen Sinn der Antwort Jesu.

Der zweite Dialog wird eingeleitet durch die Rückfrage des Pilatus „Woher bist du?“. Die Aussage des Volkes „er hat sich zum Sohn Gottes gemacht“ hat ihn offensichtlich verunsichert. Nachdem Jesus zunächst nicht antwortet, hakt Pilatus nach. Nun wird „Macht“ zum Thema des Gesprächs. Doch auch hier kommt Pilatus mit seinen Denkvorstellungen an seine Grenzen. Denn Jesus bezweifelt mit gutem Grund die Macht des Pilatus, weiß er doch, dass Pilatus nur Macht hat, damit sich der Weg Jesu an dieser Stelle ungehindert fortsetzt. Sehr direkt führt Jesus Pilatus vor Augen, was dieser direkt im Anschluss erfährt: Er ist nur ein Spielball im Ringen um Macht. Er, der vermeintlich Mächtige, der Repräsentant des größten Reiches und Statthalter eines mächtigen Kaisers, ihm ist die Macht nur gegeben bzw. übertragen. Und je mehr er sich dagegen wehrt, diese Macht auszuüben, desto mehr wird er zum Spielball. Denn als er Jesus freilassen will, werfen ihm die Juden vor, dem Kaiser, dem für ihn eigentlichen Machthaber gegenüber nicht treu zu handeln (Joh 19,12 und 15). Damit haben die Juden Pilatus in der Falle: Er muss die Macht ausüben, die er eigentlich nicht besitzt, die geliehen ist, und er muss sie in andere Weise ausüben, als er selbst es möchte. Macht verpflichtet – das muss Pilatus im zweiten Dialog mit Jesus schmerzlich erfahren. Und Macht kommt an Grenzen, so lernt Pilatus, denn obwohl er mächtig ist, hat er doch nicht die Macht oder Größe, Jesus freizulassen.

 

Das eigentliche Ende der Szene zwischen Pilatus und Jesus ist nicht die Rückgabe des Gefangenen an die Juden, sondern das Anbringen der Kreuzesaufschrift. Selbst wenn Jesus hier nur noch indirekt in Erscheinung tritt, schließt sich doch erst hier die Begegnung ab. Konnte Pilatus seine Einschätzung von der Unschuld Jesu gegenüber der wütenden Menge und den jüdischen Obrigkeiten nicht durchsetzen, mit der Kreuzesinschrift verleiht er seiner Überzeugung in gewisser Form Ausdruck. Indem er nicht nur in hebräischer Sprache, sondern auch in den Amtssprachen Griechisch und Latein „Jesus von Nazaret: der König der Juden“ anschreiben lässt, macht er für die gesamte Öffentlichkeit sichtbar, was geschehen ist. Mit dem Vorwurf, Jesus habe von sich gesagt, er sei der „König der Juden“ waren die jüdischen Obrigkeiten an Pilatus herangetreten. Diesen Vorwurf nimmt Pilatus mit der Kreuzesinschrift wörtlich auf. Jedoch verzichtet er zum Ärger der Juden auf den Zusatz, dass es sich dabei um eine Selbstbehauptung handle. In der Kreuzesinschrift erscheint das Königtum Jesu als Faktum, als Realität. Ob Pilatus damit am Ende doch versteht, wie das Königtum Jesu zu verstehen ist, bleibt offen. Ganz sicher aber hält er den Juden, die behaupten haben, „keinen König außer dem Kaiser“ zu haben, den Spiegel ihrer Selbstgerechtigkeit vor.

 

Die Erfüllung des Schriftwortes (Joh 19,23-24)

Das grausame Geschehen der Kreuzigung als Offenbarung Gottes zu verstehen, ist den Menschen zu keinen Zeiten leicht gefallen. Daher ist die Darstellung der Passion Jesu in allen Evangelien durchsetzt mit Zitaten aus dem Alten Testament, die mal wörtlich, mal im Anklang helfen wollen, das Geschehen zu deuten. Johannes setzt im Unterschied zu den übrigen Evangelisten bei der Beraubung der Kleider ein deutliches und wörtliches Zeichen für die Deutung des Kreuzestodes Jesu aus dem Verständnis des Alten Testaments heraus.
Nachdem Jesus gekreuzigt wurde, nackt und Wind und Wetter ausgesetzt, teilen die Handlanger der Kreuzigung ihre Beute unter sich auf. Der Umgang mit den Kleidern des Gedemütigten verschärft dessen Schmach und betont die Erbarmungslosigkeit der Szene. Wenn Johannes nun den Soldaten das Wort aus Psalm 22,19 in den Mund legt und es nicht nur erwähnt (vgl. Lk 23,34), dann möchte er dem Leser des Evangeliums eine deutliche Hilfestellung geben, die Szene zu verstehen. Im Kontext des Psalms ist das Wort aus dem Munde der Soldaten eingebettet einerseits in die Klage und Hilflosigkeit eines Bedrängten und andererseits in das hoffnungsvolle Rufen zu Gott, er möge sich zeigen. In dem Schriftzitat kommt also die Hoffnung ja fast Gewissheit zum Ausdruck, dass Gott auch in der Schmach nicht von der Seite dessen weicht, der an ihn glaubt. Diese Hoffnung bringt Johannes auch in die trostlose Szene unter dem Kreuz Jesu ein.

Noch auf einer anderen Ebene jedoch ist die Einbettung des Zitats aus Psalm 22 wichtig: Es macht deutlich, dass sich in Jesus realisiert, was im alttestamentlichen Gebet besungen wird. Die Geschichte Jesu wird somit als Teil der Geschichte Gottes mit den Menschen, als Heilsgeschichte gekennzeichnet.

 

Unter dem Kreuz Jesu (Joh 19,25-30)

Die Szene zwischen Jesus, seiner Mutter und dem Jünger, den Jesus liebte, ist der Gegenentwurf zu den beuteteilenden Soldaten. Hier regiert nicht Demütigung, sondern Liebe. Jesus wendet sich denjenigen zu, die bei ihm bleiben: Es sind einige Frauen aus dem engeren Kreise Jesu, seine Mutter und der Lieblingsjünger. Jesu Worte jedoch gelten nur Maria und dem Lieblingsjünger. Er vertraut sie einander an, stiftet zwischen ihnen eine neue unauflösliche Beziehung. Bemerkenswert ist, dass Jesus selbst – auch nach seinem Tod – das Zentrum dieser Gemeinschaft ist, die er in seiner Sterbestunde stiftet. Er überträgt seine „Sohnschaft“ an den Jünger und bleibt damit selbst in gewisser Weise präsent, hat der Jünger seinen Status doch nur aus seiner Beziehung zu Jesus. Dass Jesus der Dreh- und Angelpunkt dieser neuen Familie wist, wird auch dadurch deutlich, dass beide nicht mit einem Namen, sondern nur in Beziehungsaussagen zu Jesus charakterisiert werden: Der Jünger, den Jesus liebte, und die Mutter Jesu. In ihm haben sie Gemeinschaft und sollen auch zukünftig aus dieser Gemeinschaft heraus leben.

 

Erst nachdem Jesus den Jünger und seine Mutter einander anvertraut hat, ist seine Sendung erfüllt. Diese letzte Stiftung von Beziehung bringt die Vollendung seiner Sendung. Nun weiß er, dass „alles vollbracht war“ – zweimal erwähnt Johannes in diesen letzten Minuten Jesu das Wort. Zuletzt und als deutlichen Schlussakkord in den letzten Worten Jesu selbst: „Es ist vollbracht“. Mit diesen Worten meint Jesus nicht nur das gegenseitige Anvertrauen von Jünger und Mutter, sondern seinen gesamten Weg auf Erden. Vom Hineinkommen in die Welt, um der Welt von Gottes Herrlichkeit Kunde zu bringen (Joh 1,18), bis hin zum Liebesdienst an den Seinen, der nicht nur in der Fußwaschung, sondern in der Hingabe seines Lebens zum Ausdruck kommt (vgl. Joh 15,13).

 

Das Zeugnis über den Tod Jesu (19,31-37)

Noch einmal treffen die Juden und Pilatus im Johannesevangelium aufeinander. Die Juden wollen das Ärgernis des Kreuzes mit Blick auf den Festtag so schnell wie möglich beseitigen. Pilatus entspricht ihrem Wunsch, lässt sie aber nicht selbst handeln, sondern seine Soldaten. Durch dessen Lanzenstich wird nicht nur untrüglich der Tod Jesu sichtbar, so dass er bezeugt werden kann. Im Herausfließen von Blut und Wasser erinnert Johannes an Worte Jesu selbst und bringt so eine klare theologische Deutung ein. In Joh 6,55 hatte Jesus den Juden gegenüber in der Auseinandersetzung um die Brotvermehrung gesagt: „Denn mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise und mein Blut ist wahrhaft ein Trank.“ Das Motiv des Wassers als Zeichen des Heils wird von Jesus unter anderem in Joh 3,3 genutzt: „Wenn jemand nicht aus dem Wasser und dem Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen“ (vgl. auch Joh 7,37f.). Wenn hier Wasser und Blut als Zeichen genannt sind, dann werden sich die Leser des Evangeliums an eben diese Aussagen Jesu erinnern. Und sie werden durch das Geschehen am Kreuz an Taufe und Eucharistie als urchristliche Sakramente erinnert, die sie in ihren Gemeinden erleben und feiern.

 

Eine weitere theologische Deutungsebene ist hier aber mitgedacht. Denn Johannes nimmt auch bewusst Bezug auf alttestamentliche Überlieferung bei der Feststellung des Todes Jesu. Zunächst ist an die Vorschriften für das Paschalamm zu denken, dem man keine Knochen brechen durfte (Exodus 12,46). Die Vorstellung von den Knochen, die nicht gebrochen werden, wird in den Psalmen zum Bild für die Bewahrung des Gerechten durch Gott (vgl. Psalm 34,21). Wenn Jesus nun keine Knochen zerbrochen werden, dann ist er der Gerechte und das neue Paschalamm.
In ähnlicher Weise wird ein Zitat aus dem Prophetenbuch Sacharja in der griechischen Überlieferung aufgenommen: „Sie werden auf den schauen, den sie durchbohrt haben.“ (Sacharja 12,10). Dieser Durchbohrte wird zum Zeichen von Gottes Treue werden.

Auslegung

Die Erzählung von Leiden und Tod Jesu im Johannesevangelium bringt die Sendung Jesu in ihren zentralen Punkten zusammen: Verherrlichung und Beziehung. 

Kunst etc.

In beeindruckender Form zeichnet von Munkácsy das Geschehen des Todes Jesu: Gaffer, Trauernde, Handlanger… Jeder von ihnen ist mit seinen ganz persönlichen Emotionen und Gedanken am und ums Kreuz versammelt. Die Düsternis des Bildes gibt die kosmischen Ereignisse wie sie in den anderen Evangelien beschrieben sind auf: Finsternis bricht herein und die Sonne verdunkelt sich.