Heiligkeit ist kein Status, sondern ein dynamischer Prozess – „seid heilig“ heißt auch: Liebe deinen Nächsten und selbst Deinen Feind!
1. Verortung im Buch
Mitte in einer bunten Vielzahl von kultischen und religiösen Geboten und Verboten wird in Levitikus 19 der Israelit zur Heiligkeit aufgerufen. Der Weg, der zu diesem Heilig-Sein führt, ist grundgelegt auf einer unaufhebbaren Verbindung der sozialen und religiösen Normen. Das Kapitel ist scheinbar einfach eine Ansammlung von Einzelbestimmungen – und doch wird darin zugleich die Vielfältigkeit der Lebenswirklichkeit deutlich, die es zu heiligen gilt: vom Gebot die Eltern und den Sabbat zu ehren (Vers 3) bis zum Gebot der Fremdenliebe und dem Handlungsprinzip der Gerechtigkeit (Verse 33-46).
2. Aufbau
In der Vielfalt der Einzelbestimmungen kehrt eine Aussage immer, wie ein stetiges Tropfen – sozusagen den Rhythmus angebend – in verschiedenen Formen wieder: „Ich bin JHWH, euer Gott“. Und so verdeutlicht die Struktur des Kapitels, dass Gott und sein Wille die eigentliche Mitte aller Lebensbereiche ist – und dass es in diesem Kapitel um die Heiligkeit des Alltags geht.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 1-2: Die Bedeutung des gesamten Kapitels wird bereits in den ersten Worten deutlich. Es wird betont, dass sich die folgenden Gebote und Verbote allumfassend an die ganze Gemeinde Israels richten: Heiligkeit ist kein Status und kein Ziel einer ausgewählten Minderheit, sondern Israels soll insgesamt ein „heiliges Volk“ werden (siehe Exodus 19,6). Der Weg zu diesem Ziel sind nicht nur die Einhaltung der folgenden Einzelbestimmungen, sondern wie es am Ende des Kapitels ausdrücklich geschrieben steht: „Ihr sollt alle meine Satzungen und alle meine Rechtsentscheide bewahren und sie befolgen. Ich bin der HERR.“ – das bedeutet, „heilig zu sein“. Hierfür wird sowohl in Vers 2 als auch am Ende des Kapitels Gott selbst als Grund angegeben. Und dort steht nicht von Gott gesagt: „Seid heilig, wie ich heilig bin“, sondern „seid heilig, denn ich bin heilig“ (siehe dazu ausführlicher unter „Auslegung“).
Vers 17: Dass die geforderte Reaktion auf den sich in den Geboten ausdrückende Wille Gottes kein rein oberflächlicher Gehorsam sein soll, zeigt sich hier in den Worten „in deinem Herzen“. Im Alten Testament ist das Herz der Ort des Denkens und Entscheiden, der Sitz der Vernunft. In seinem Innersten soll der Israelit keinen Hass gegen seinen Bruder, d.h. gegen einen anderen Israeliten, hegen. Eine schwere Aufgabe, zu deren Bewältigung eine Hilfe und Motivation gegeben wird. Um Hass zu kontrollieren, muss dessen Wurzel – das Problem – offen angesprochen werden. Ansonsten kann aus Hass sozusagen in einer Überreaktion eine Sünde werden. Eine – und das ist entscheidend – Zurechtweisung aus Nächstenliebe kann anstatt Hass Gemeinschaft mit dem „Bruder“ schaffen.
Vers 18: Der erste Teil des Satzes ist noch leicht verständlich. Ein Israelit soll weder Rache üben, noch Groll in seinem Herzen tragen gegenüber einem Volksgenossen. Aber der folgende Satzteil stellt den Leser im Hebräischen vor mehrere Herausforderungen bzw. Fragezeichen. (1.) Wie schließt sich der zweite Satzteil an den ersten an? In der alten Einheitsübersetzung ist ein adversativer Anschluss gegeben: „sondern“. Die beiden Vershälften werden einander gegenübergestellt. Im Hebräischen steht hier der Buchstabe Waw, der vor einem Wort als Konjunktion verwendet wird. Die Grundbedeutung ist „und“, aber es kann ebenso auch eine modale Bedeutung haben („auf diese Weise“) oder konsekutiv verstanden werden („sodass“). Somit ist es möglich, die Aufforderung zur Nächstenliebe als Einzelgebot zu verstehen, oder als Explikation, was es bedeutet, sich nicht an einem anderen Israeliten zu rächen noch ihm zu grollen. (2.) Was bedeutet lieben? Die Konstruktion im Hebräischen zusammen mit der Präposition ל (gesprochen le), verdeutlicht, dass es sich um eine Solidarität und Loyalität handelt, die sich in praktischer Zuwendung äußern soll. Es geht um eine Aufforderung zum Handeln, zum Liebeserweis. (3.) Wie hängt die Selbstliebe mit der Nächstenliebe zusammen? Redet der Text überhaupt von Selbstliebe? Im Hebräischen schließt sich an die Aufforderung zum Liebeserweis gegenüber dem Nächsten nur noch ein Wort an: כמוך (gesprochen: kamocha), ein Vergleichspartikel mit einem unselbständigen Personalpronomen. Dieses Wort bedeutet wörtlich „wie dich/dir“ und kann verschieden interpretiert werden. (a.) „wie dich selbst“: die Rezeption im Matthäusevangelium legt eine reflexive Bedeutung nahe. (b.) „der dir gleich ist“: wenn man das Wort nicht auf das Verb, sondern auf das direkt davorstehende Wort „deinen Nächsten“ bezieht, liegt der Vergleichspunkt nicht in dem Liebeserweis, sondern darin, dass der Nächste ebenso wie der Angesprochene ein Israelit bzw. ein Mensch ist, dem die gleichen Rechte zustehen. (c.) „wie dir“ bzw. „wie (man) dir (Liebe erweist)“. In diesem Falle ist die für sich selbst erhoffte Liebe der Vergleichspunkt für die Nächstenliebe.
Man kann argumentieren, dass die beiden Vershälften von Lev 19,18 nicht gleichwertig sind. Wenn man den hebräischen Text betrachtet, kann man feststellen, dass verschiedene Zeitformen verwendet werden. Die Aufforderungen, keine Rache auszuüben und keinen Groll zu hegen, sind mit verneinten Futurformen formuliert, die als Befehlsformen gelesen werden können: „Du sollst nicht …“. Die Aufforderung zur Nächstenliebe ist hingegen mit einem Folgetempus formuliert. Dies bedeutet, dass diese Aufforderung zeitlich den vorherigen Aufforderungen nachgeordnet ist. Daher ist es naheliegend, die Nächstenliebe als Konsequenz zu verstehen, die daraus folgt, wenn man nicht nach Rache sinnt und keinen Groll hegt. Wenn man Böses nicht mit Bösem zurückzahlt und nicht nachtragend ist, wandelt man sich zu einer Person, die Böses vergibt und dem Anderen mit Gutem begegnet. Dies ist eine mögliche Definition von Nächstenliebe. So betrachtet wäre im Hintergrund schon die Feindesliebe angedeutet. Für eine solche Forderung bedarf es einer überzeugenden Begründung. Leider ist die Begründung nicht eindeutig formuliert. Aber alle möglichen Übersetzungen bieten gute Gründe zur Nächstenliebe. Vielleicht ist diese Vieldeutigkeit im Bibeltext gewollt und es werden dadurch mehrere Begründungen gegeben. Wenn man die Nächstenliebe mit der Liebe zu sich selbst vergleicht und diese Liebe als eine tuende Liebe versteht, dann kann sich daraus die ethische Forderung ergeben, den Nächsten nur so zu behandeln, wie man selbst auch behandelt werden möchte oder wie man sich selbst behandelt. Oder die Nächstenliebe wird durch die Würde des Nächsten begründet. Der Grundsatz der Gleichheit aller würde hier zur Nächstenliebe führen. Dazu passt auch, dass der Vers mit der Selbstvorstellungsformel Gottes abgeschlossen wird: „Ich bin JHWH“. Da JHWH der Gott sowohl des einen und des anderen ist, sind somit beide Personen, sowohl Ich als auch der Nächste gleich und haben somit die gleichen Rechte und Pflichten.