Lesejahr A: 2022/2023

1. Lesung (Jer 20,10-13)

10Ich hörte die Verleumdung der Vielen:

Grauen ringsum! Zeigt ihn an! Wir wollen ihn anzeigen.

Meine nächsten Bekannten warten alle darauf, dass ich stürze:

Vielleicht lässt er sich betören, dass wir ihn überwältigen und an ihm Rache nehmen können.

11Doch der HERR steht mir bei wie ein gewaltiger Held. / Darum straucheln meine Verfolger und können nicht überwältigen. Sie werden schmählich zuschanden, da sie nichts erreichen, / in ewiger, unvergesslicher Schmach. 12Aber der HERR der Heerscharen prüft den Gerechten, / er sieht Nieren und Herz. Ich werde deine Vergeltung an ihnen sehen; / denn dir habe ich meinen Rechtsstreit anvertraut.

13Singt dem HERRN, rühmt den HERRN; / denn er rettet das Leben des Armen aus der Hand der Übeltäter. -

Überblick

Die Existenz eines Unheilspropheten kann in die Einsamkeit und Not führen. Aber selbst in seiner Klage darüber vertraut Jeremia doch auf seinen Gott der Rettung. 

 

1. Verortung im Buch

Der Prophet Jeremia ist innerlich zerrissen. Er klagt Gott an und zugleich vertraut er ihm. Er scheint an seiner Sendung zu zerbrechen und doch ruft er zum Gotteslob auf.

Die Botschaft die Jeremia im Namen Gottes gegen Jerusalem auszusprechen hat, ist radikal: „Hört das Wort des HERRN, ihr Könige Judas und ihr Einwohner Jerusalems! So spricht der HERR der Heerscharen, der Gott Israels: Siehe, ich bringe Unheil über diesen Ort, dass jedem, der davon hört, die Ohren gellen werden“ (Jeremia 19,3). Und um das Unheil zu visualisieren, zerbricht er einen Tonkrug vor aller Augen: „So spricht der HERR der Heerscharen: Ebenso zerbreche ich dieses Volk und diese Stadt, wie man Töpfergeschirr zerbricht, sodass es nicht wiederhergestellt werden kann“ (Jeremia 19,11). Dass er Unheil zu verkünden hat, wird für ihn selbst zum lebensbestimmenden Unheil durch die Reaktion der von Gott Verurteilten. So wird er zum Beispiel von einem der Priester, dem Oberaufseher im Tempel, misshandelt (Jeremia 20,1-3). Sein Leid legt er vor Gott mit ungeschönten Worten. Er klagt Gott an. Und aus seinen Worten spricht die Enttäuschung über die inneren und äußeren Nöte, die ihm seine Berufung verursacht haben.: „Denn das Wort des HERRN bringt mir den ganzen Tag nur Hohn und Spott“ (Vers 8). Und auch wenn er zuversichtlich ist, dass Gott ihn aus seiner Not retten werde (Verse 11-13), wie der Lesungstext betont, so steht für ihn doch fest, dass er es vorziehen würde, tot zu sein, als so – als Gottes bedrängter Unheilsprophet – leben zu müssen: „Warum denn kam ich hervor aus dem Mutterschoß? Nur, um Mühsal und Kummer zu erleben und meine Tage in Schande zu beenden?“ (Vers 18).

 

2. Aufbau

Mitte in seiner Konfession (Verse 7-18), in der er sein Seelenleben offenlegt, erklingt umrahmt von Klagen ein fast hymnenartiges Vertrauensbekenntnis (Verse 11-13). Der entscheidende Stimmungsumschwung findet sich am Anfang von Vers 11: „doch…“. Nun inmitten seiner Not entwirft er das Bild eine Gegenwelt, deren Wirklichkeit er erbittet. 

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 10: Die Worte Jeremias in den Versen 7-18 gleichen der Psalmensprache und Vers 10 findet sich auch exakt so in einem Psalm (siehe Psalm 31,14). Im Hebräischen beginnt der Vers mit dem Wort  ‎כִּי (gesprochen: ki), dass man entweder emphatisch (“ja,…”) oder mit einem erklärenden Sinn (“denn …”) übersetzen kann. In jedem Fall knüpft dieser Vers an die vorherige Klage an und nennt nun einen weiteren Grund für Jeremias Not. Gegen ihn und seine Botschaft wird Stimmung gemacht. Er wird nicht nur als unverbesserlicher Pessimist abgewunken, sondern er wird auch denunziert. Das Zitat, mit dem Jeremia die Reaktion auf seine Botschaft darstellt, hat zwei Ebenen. Einerseits ist der erste Teil „Grauen ringsum“ ein direktes Zitat aus seiner Verkündigung: „Geht nicht aufs Feld hinaus, macht euch nicht auf den Weg; denn der Feind greift zum Schwert - Grauen ringsum!“ (Jeremia 6,25). Andrerseits hat es eine ironische Tiefe, denn kurz zuvor hatte er mit dieser Wortwahl den Widerstand eines Priesters gegen seine Verkündigung verurteilt: „Als Paschhur am nächsten Morgen Jeremia aus dem Block freiließ, sagte Jeremia zu ihm: Nicht mehr Paschhur nennt dich der HERR, sondern: Grauen ringsum“ (Vers 3). Dramatisiert wird Jeremias Klage im zweiten Teil von Vers 10. Selbst seine Bekannten – wörtlich: „ein Mensch meines Heils“ – wenden sich gegen ihn und wollen sie wegen seiner Verkündigung an ihm rächen.

Verse 11-12: Die Anfeindungen gegen ihn werden kontrastiert mit seinem Vertrauen auf seine Beziehung zu Gott. Er ist sich sicher, dass Gott parteiisch auf seiner Seite steht und seine bisher erlebte „Schande“ sich gegen seine Feinde wendet. Anders als seine Feinde, die selbst handeln, will Jeremia jedoch auf das Handeln Gottes warten. Im Hintergrund seiner Hoffnung steht das Bild Gottes als eines ehrlichen Richters, der aus seiner Gerechtigkeit heraus parteiisch ist für die Elenden. Nieren und Herz stehen für die körperliche Verortung der menschlichen Gedanken und Gefühle, die Gott nicht verborgen sind und die Grundlage seines Gerichts sind.

Vers 13: Gott der Richter steht im Kontrast zu den ungerechten menschlichen Richtern, die Jeremia anklagt: „Das Recht pflegen sie nicht, dem Recht der Waisen verhalfen sie nicht zum Erfolg und die Sache der Armen entscheiden sie nicht.“ (Jeremia 5,28) Der Gott Jeremias ist jedoch ein Gott der Rettung für die personae miserae. Und die nun erklingende Aufforderung zum Lobpreis knüpft direkt an die Berufung Jeremias am Anfang des Buches an. Denn bereits dort hat Gott ihm die Rettung zugesagt: „Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin mit dir um dich zu retten - Spruch des HERRN“ (Jeremia 1,8).

Auslegung

Man sollte nicht den Überbringer von schlechten Nachrichten bestrafen. Doch wie reagiert man, wenn man mit der Wahrheit nicht umgehen kann? Wenn man glaubt, unfähig zu sein die Realität zu ändern – oder dazu nicht bereit ist -, dann verbleibt es nur denjenigen zum Schweigen zu bringen, der die Probleme zur Sprache bringt. Das ändert nichts, doch verschafft zumindest temporär Ruhe. Doch dies ist trügerisch. Die Botschaft Gottes ist keine reine Heilsgeschichte, sondern zu ihr gehört auch Unheil. Eine Religion ist nie nur eine süße, sondern immer eine bittersüße Botschaft. Die Botschaft des Buches Jeremia ist: Durch das Unheil entsteht Heil. Doch man muss das Unheil anerkennen. Es bedarf der Unheilspropheten. Doch wer will ihre Botschaft schon hören, oder gar ein solcher sein?

Jeremia zerbricht fast an seiner Berufung. Er wünscht, sich niemals geboren worden zu sein. Doch anders als seine Umwelt erkennt er, dass in seiner Unheilsprophetie das Heil angelegt ist. Der strafende Gott ist der Gott der Rettung der Elenden, Unterdrückten und Armen. Gerechtigkeit hat einen bittersüßen Geschmack.   

Kunst etc.

In Jeremias Worten wird auch deutlich, dass der Unheilsprophet nicht identisch mit seiner Botschaft ist. Seine Botschaft wird ihm selbst zum Unheil und er droht daran zu zerbrechen – er durchsteht diese Berufung nur, wenn er im Unheil das Heil entdeckt. Er leidet unter dem Unheil – er selbst ist nicht das Unheil. Diese Klarstellung hat der russische Maler Ilja Jefimowitsch Repin sehr deutlich ins Bild gebracht in seinem Gemälde, auf dem der Prophet die zerstörte Stadt Jerusalem beweint.

„Cry of prophet Jeremiah on the Ruins of Jerusalem“, Ilja Jefimowitsch Repin, entstanden 1870, heute zu sehen in der Tretjakow-Galerie in Moskau – Lizenz: gemeinfrei
„Cry of prophet Jeremiah on the Ruins of Jerusalem“, Ilja Jefimowitsch Repin, entstanden 1870, heute zu sehen in der Tretjakow-Galerie in Moskau – Lizenz: gemeinfrei