Lesejahr A: 2022/2023

1. Lesung (Jes 55,6-9)

6Sucht den HERRN, er lässt sich finden, / ruft ihn an, er ist nah!

7Der Frevler soll seinen Weg verlassen, / der Übeltäter seine Pläne. Er kehre um zum HERRN, / damit er Erbarmen hat mit ihm, und zu unserem Gott; / denn er ist groß im Verzeihen.

8Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken / und eure Wege sind nicht meine Wege - / Spruch des HERRN.

9So hoch der Himmel über der Erde ist, / so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege / und meine Gedanken über eure Gedanken.

Überblick

Gott lässt sich finden – er ist nahe, aber seine Pläne und Taten sind doch himmlisch, dem Menschen entzogen.

 

1. Verortung im Buch

Die Aufforderung zur Heimkehr aus dem Exil und die Verheißung der Wiederherstellung des zerstörten Zions – das ist der Inhalt des zweiten Teils des prophetischen Buches Jesaja (Kapitel 40-55). An dessen Ende geht es nun um die Frage der Durchsetzung dieser Heilsbotschaft. Und als Antwort gegen jedweden Zweifel schreit der Prophet in den Versen 1-3 die Gewissheit wie ein Marktschreier seinem Publikum, bzw. seiner Leserschaft entgegen:

1 Auf, alle Durstigen, kommt zum Wasser! Die ihr kein Geld habt, kommt, kauft Getreide und esst, kommt und kauft ohne Geld und ohne Bezahlung Wein und Milch! 2 Warum bezahlt ihr mit Geld, was euch nicht nährt, und mit dem Lohn eurer Mühen, was euch nicht satt macht? Hört auf mich, dann bekommt ihr das Beste zu essen und könnt euch laben an fetten Speisen! 3 Neigt euer Ohr und kommt zu mir, hört und ihr werdet aufleben! Ich schließe mit euch einen ewigen Bund: Die Erweise der Huld für David sind beständig.“ (Jesaja 55,1-3)

 

2. Aufbau

Die doppelte Aufforderung in Vers 6 knüpft direkt an Jesaja 55,1-3 an. Ihm folgt in Vers 7 ein Mahnspruch über den Frevler, bevor in den Versen 8-9 die anfänglichen Aufforderungen begründet und erklärt werden.

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 6: Die Aufforderung Gott zu suchen, ist ursprünglich wohl ein Kultruf, der zum Gebet und Opfer im Tempel aufforderte (siehe Genesis 25,22), doch wurde sie schon früh zu einer allgemeinen Aufforderung sich Gott zu nähern: „Sucht den HERRN, dann werdet ihr leben.“ (Amos 5,6). Die damit verbundene Aussage ist klar ausgesprochen: Er ist nahe und lässt sich finden. Die Begründung „denn“ hierfür steht in Versen 8-9.

Vers 7: Die vorherige Aufforderung wird durch dieses Mahnwort zu einer zeitlosen Sentenz. Die Nähe Gottes wird selbst dem Frevler zugesagt, weil Gott barmherzig ist und verzeiht – vorausgesetzt sein „Suchen“ ist eine Umkehr zu Gott.

Verse 8-9: Im Hebräischen steht am Anfang dieses Verses das Wort כי (gesprochen: ki), das in der revidierten Einheitsübersetzung ausgelassen wird. Entweder hat es eine bejahende Funktion („fürwahr“) oder es weist den Vers als eine Begründung aus. Verse 8 und 9 können inhaltlich sowohl die Zusage der Barmherzigkeit Gottes aus Vers 7 begründen wie auch die Aufforderung aus Vers 6. Also: Entgegen der momentanen Wahrnehmung ist Gott nahe (Vers 6), denn … . Oder: Gott ist reich an Barmherzigkeit (Vers 7), denn… . Das Hebräische Wort  מַחֲשָׁבָה (gesprochen: machschava), das in der revidierten Einheitsübersetzung mit „Gedanken“ übersetzt ist, meint konkrete Handlungspläne. Und die hier ebenso genannten „Wege“ bedeuten die Umsetzung dieser Handlungspläne, also die konkreten Handlungen. Einerseits wird Gottes Planen und Handeln hier mit dem menschlichen Planen und Handeln verglichen – Gott wird anthropomorph erklärt. Doch direkt wird das Gottesbild diesen Kategorien wieder entzogen. Anders als das menschliche Trachten steht die Durchsetzung des Gottes Willen fest (siehe Jesaja 55,10-11)

Auslegung

Man muss Gott nur suchen, dann lässt er sich finden. Man muss nur zu ihm beten, dann wird man seine Nähe spüren. Solche Zusagen, wie man sie im Buch Jesaja lesen kann, wirken realitätsfern. Im Angesicht des Unrechts in der Welt scheint der rettende Gott eher fern zu sein und Gebete verhallen scheinbar im Nichts. Gott zu suchen ist jedoch kein Kinderspiel. Gemäß dem Sprachgebrauch des Alten Testaments ist ein nach Gott suchender Mensch jemand, der sein Leben an Gott ausrichtet. Hierbei gilt, dass man Gott nicht einfach findet, sondern dass er sich finden lässt. Gott ist nicht frei verfügbar, sondern er macht sich verfügbar. Gott geht auf den Menschen zu, aber den entscheidenden Schritt muss der Mensch tun.

Die Zusage im Buch Jesaja ist radikal. Sowohl den nach Gott Suchenden als auch den Bösewichten wird Gottes Erbarmen und die Versöhnung mit ihm verheißen. Allerdings muss sich dazu der Bösewicht den nach Gott Suchenden angleichen. Er muss seine Lebenswege hinter sich lassen, er muss umkehren und in Gott neues Leben finden. Es gibt somit auch eine göttliche, barmherzige Ungerechtigkeit: Gott ist jedem nahe, der sich zu ihm bekehrt. Diese Zusage steht dem typisch menschlichen Handeln entgegen. Hass sowie Rache- und Vergeltungswünsche sind im Angesicht von Unrecht nicht nur menschlich, sondern sie finden zum Beispiel in der Gebetssprache der Psalmen ihr erlaubtes Echo. Im Buch Deuteronomium sagt Gott sogar von sich selbst: „Mein ist die Rache!“. Aber Gottes Handeln richtet sich nicht an Rachegelüsten aus, sondern es verfolgt einen Heilsplan, der auf Erbarmen und Versöhnung zielt. Es liegt in der Hand der Menschen, das Unrecht in der Welt zu beseitigen und sich mit Gott zu versöhnen.

Das Buch Jesaja macht in diesem Kontext auf einen grundlegenden Unterschied zwischen den menschlichen Absichten und Gottes Plänen aufmerksam. Im Alten Testament ist häufig davon die Rede, dass Gottes Wege unergründlich und verborgen sind; aber Gottes Wege führen unabdingbar zum von ihm gewünschten Ziel. Die Aufforderung „Sucht JHWH, jetzt, da er sich finden lässt!“ ist daher nicht nur eine trostspendende Zusage, sondern sie ist zugleich auch eine Mahnung. Das Alte Testament legt Zeugnis davon ab, dass Gott auch fern von seinen Gläubigen sein kann. Er ist nicht nur eine rettende Hilfe, sondern auch ein bestrafender Richter. Die Aufforderung „Sucht JHWH, jetzt, da er sich finden lässt!“ besagt nicht, dass Gott immer nah sein wird.  Sie ist die Ankündigung einer heilvollen Zeit, aus der die Menschen ihre Konsequenzen im Hier und Jetzt ziehen müssen.  

Kunst etc.

Mir ist keine künstlerische Darstellung von Jesaja 55,6-9 bekannt, aber das Motiv der menschlichen Wege inspiriert zum Nachdenken über diese Verse. Wir bewegen uns oft auf ausgetretenen Pfaden und unser Leben bewegt sich oft in vorgezeichneten Bahnen.  Doch Gottes Pläne und Wege entziehen sich dem menschlichen Trachten – er, seine Pläne und seine Wege führen zum nicht entfernten, sondern nahen Heil.