Lesejahr A: 2022/2023

3. Lesung (Ex 14,15-15,1)

 15 Der HERR sprach zu Mose:

Was schreist du zu mir? Sag den Israeliten, sie sollen aufbrechen. 16 Und du heb deinen Stab hoch, streck deine Hand über das Meer und spalte es, damit die Israeliten auf trockenem Boden in das Meer hineinziehen können! 17 Ich aber will das Herz der Ägypter verhärten, damit sie hinter ihnen hineinziehen. So will ich am Pharao und an seiner ganzen Streitmacht, an seinen Streitwagen und Reitern meine Herrlichkeit erweisen.18 Die Ägypter sollen erkennen, dass ich der HERR bin, wenn ich am Pharao, an seinen Streitwagen und Reitern meine Herrlichkeit erweise.

19 Der Engel Gottes, der den Zug der Israeliten anführte, brach auf und ging nach hinten und die Wolkensäule brach auf und stellte sich hinter sie. 20 Sie kam zwischen das Lager der Ägypter und das Lager der Israeliten. Die Wolke war da und Finsternis und Blitze erhellten die Nacht. So kamen sie die ganze Nacht einander nicht näher.

21 Mose streckte seine Hand über das Meer aus und der HERR trieb die ganze Nacht das Meer durch einen starken Ostwind fort. Er ließ das Meer austrocknen und das Wasser spaltete sich. 22 Die Israeliten zogen auf trockenem Boden ins Meer hinein, während rechts und links von ihnen das Wasser wie eine Mauer stand.

23 Die Ägypter setzten ihnen nach; alle Pferde des Pharao, seine Streitwagen und Reiter zogen hinter ihnen ins Meer hinein. 24 Um die Zeit der Morgenwache blickte der HERR aus der Feuer- und Wolkensäule auf das Lager der Ägypter und brachte es in Verwirrung. 25 Er hemmte die Räder an ihren Wagen und ließ sie nur schwer vorankommen. Da sagte der Ägypter: Ich muss vor Israel fliehen; denn der HERR kämpft auf ihrer Seite gegen Ägypten.

26 Darauf sprach der HERR zu Mose:

Streck deine Hand über das Meer, damit das Wasser zurückflutet und den Ägypter, seine Wagen und Reiter zudeckt!

27 Mose streckte seine Hand über das Meer und gegen Morgen flutete das Meer an seinen alten Platz zurück, während die Ägypter auf der Flucht ihm entgegenliefen. So trieb der HERR die Ägypter mitten ins Meer. 28 Das Wasser kehrte zurück und bedeckte Wagen und Reiter, die ganze Streitmacht des Pharao, die den Israeliten ins Meer nachgezogen war. Nicht ein Einziger von ihnen blieb übrig.

29 Die Israeliten aber waren auf trockenem Boden mitten durch das Meer gezogen, während rechts und links von ihnen das Wasser wie eine Mauer stand. 30 So rettete der HERR an jenem Tag Israel aus der Hand der Ägypter. Israel sah die Ägypter tot am Strand liegen.

31 Als Israel sah, dass der HERR mit mächtiger Hand an den Ägyptern gehandelt hatte, fürchtete das Volk den HERRN. Sie glaubten an den HERRN und an Mose, seinen Knecht.

1 Damals sang Mose mit den Israeliten dem HERRN dieses Lied; sie sagten:

Ich singe dem HERRN ein Lied, denn er ist hoch und erhaben. Ross und Reiter warf er ins Meer.

Überblick

Die Ägypter sind die Opfer der Gewalt Gottes, die am Ende tot am Ufer liegen. Und Mose singt mit den Israeliten ein Loblied auf diese Gewaltszenerie.


1. Verortung im Buch

Zwei grundlegende Verheißungen vom Anfang des Buches Exodus haben sich noch nicht erfüllt, als Israel am Schilfmeer ankommt: Ägypten hat noch nicht die Macht Gottes anerkannt (Exodus 7,5) und Israel ist noch nicht endgültig aus seinem Sklavenhaus erlöst (Exodus 6,6). Erst im Durschreiten der Wassermassen und dem folgenden Tod der Ägypter, anerkennt Israel selbst nicht nur die Macht Gottes, sondern auch die Bedeutung seines Volksnamens: „Gott kämpft“ (vergleiche aber auch Genesis 32,29).

 

2. Aufbau

Die in den Versen 13-31 erzählte Rettung am Schilfmeer ist der Höhepunkt einer Erzählung, die mit dem Weg Israels, angeführt durch Gott, in die Wüste beginnt (Exodus 13,20-22) und sich durch die Verhärtung des Herzens des Pharaos zu einem Drama entwickelt (Exodus 14,1-14), in dessen Zentrum der Unglaube Israels steht. Die, die die militärische Macht Ägyptens fürchten, gelangen zur Gottesfurcht (Exodus 14,11-12 und Vers 31), woraufhin im folgenden Kapitel ein großartiger, psalmenähnlicher Lobgesang Gottes erklingt. Diese Erzählung wird durch drei Reden Gottes strukturiert (Verse 1-4; 15-18; 26), die hervorheben, dass Gott der Handelnde ist: Er zieht für sein Volk in den Krieg: „Fürchtet euch nicht! Bleibt stehen und schaut zu, wie der HERR euch heute rettet! Der HERR kämpft für euch, ihr aber könnt ruhig abwarten.“ (Verse 13-14).

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 15: Mose, der noch in den Versen 13-14 das Volk ermutigt hatte, im Angesicht der ägyptischen Bedrohung auf Gott zu vertrauen, wird von Gott für den Unglauben des Volkes verantwortlich gemacht. In Vers 10 heißt es: „Da erschraken die Israeliten sehr und schrien zum HERRN.“ In Vers 15 antwortet Gott dann: „Was schreist du zu mir?“

Vers 16: Der Stab Moses steht im Buch Exodus und im Besonderen in den Erzählungen von den Plagen für das Handeln Gottes durch Mose (siehe Exodus 4,17). Die Spaltung des Meeres und der dadurch entstehende trockene Boden zeigen die Macht Gottes als Schöpfer der Welt, der die Urwasser spaltete und das Land aus ihnen auftauchen ließ (siehe Genesis 1,6.9).

Verse 17-18: Das verhärtete Herz des Pharaos und die Herrlichkeit Gottes, hängen nicht nur gemäß der Handlung zusammen, sondern beides wird im Hebräischen mit derselben Wortwurzel (כבד) ausgedrückt. Die Absolut-Setzung des menschlichen Willens steht somit der Herrlichkeit Gottes entgegen. Auch der Kontrast zwischen Israel und Ägypten wird drastisch formuliert: Dem Stab Moses stehen Streitwagen und Reiter entgegen.

Verse 19-20:  Der die Israeliten anführende Bote Gottes wird mit der in Exodus 12,21-22 erstmals erwähnten Wolken- bzw. Feuersäule, die das Volk durch die Wüste führt, identifiziert. Sie dient als Trennschutz zwischen den lagernden Israeliten und den herannahenden ägyptischen Streitmächten. Sie hat eine doppelte Funktion, wie der schwer zu übersetzende Vers 20 anzeigt. Wörtlich heißt es hier: „Und es war die Wolke und die Finsternis und er/es erleuchtete die Nacht.“ Das Wort „Finsternis“ verweist zurück zur Erzählung der neunten Plage: Über ganz Ägypten lag die Finsternis und nur die Wohnungen der Israeliten waren hell erleuchtet (siehe Exodus 10,21-29).

Verse 21-22: Es wird betont, dass nicht Mose das Meer spaltet, sondern Gott in dem Moment handelt, als Mose seine Hand, bzw. den Stab über das Meer streckte. Wie schon in der achten Plage wirkt Gott durch den Ostwind (siehe Exodus 10,13). Dort brachte der Ostwind die Heuschrecken ins Land, hier nun lässt er das Meer zum Trockenen werden, indem die Wasser gespalten werden. Im hebräischen Text ist diese Aussage mit einer tiefergehenden Metaphorik verbunden. Der aus dem Osten kommende Wind verdeutlicht, dass Israel in Richtung des Sonnenaufgangs zieht, der für das Handeln Gottes steht (siehe Psalm 46,5).

Verse 23-25: Wie in Vers 17 angekündigt zieht die gesamte ägyptische Streitmacht hinter den Israeliten her inmitten des Meeres. Am Übergang von der Nacht zum Morgen, als aus der Feuersäule die Wolkensäule wird, greift Gott direkt ein. Martin Buber und Franz Rosenzweig zeigen mit ihrer Übersetzung deutlich, was das „Schauen Gottes“ bedeutet: „ER bog sich gegen die Reihen Ägyptens nieder“. Gott selbst tritt nun als Kämpfer auf und erweist seine Herrlichkeit, indem er unter anderem sie in ihrer Panik aufgrund des Gottesschreckens nur „schwerlich vorankommen ließ“. Dies wird, ebenso wie die Herrlichkeit Gottes in Vers 18 mit der Wortwurzel (כבד) ausgedrückt: Die Herrlichkeit Gottes erweist sich im beschwerlichen Vorankommen der Ägypter, wie diese selbst eingestehen – womit sich die Aussage von V 18 sowie die Ermutigungsrede Mose in Vers 14 und die Verheißung aus Exodus 7,5 erfüllen.

Verse 26-28: In den erneuten Worten Gottes zu Mose wird deutlich, dass die Verherrlichung Gottes durch den Tod der Ägypter erfolgen wird. Vorausgesetzt wird im Text, dass die Israeliten bereits durch das Meer hindurchgezogen sind (siehe Vers 29), während die Ägypter sich noch mitten im Meer, das sie nun ertränken wird, befinden. Und zudem wird vorausgesetzt, dass nun ein Westwind, dem die Ägypter entgegenfliehen, die Wasser an ihren Ort zurückbringt (vergleiche den Westwind, der die Heuschrecken zurück ins Schilfmeer trieb in Exodus 10,19).

Verse 29-31: In den letzten Versen der Erzählung werden die Ereignisse kurz und prägnant zusammengefasst. Das Resultat ist ein zweifaches: (1.) Der Text sagt nicht aus, dass die ägyptische Streitmacht oder der Pharao tot am Ufer liegen, sondern verallgemeinert ("die Ägypter"), dass Israel aus der Hand der Ägypter befreit hat und dass somit ganz Ägypten für Israel keine Gefahr mehr darstellt. (2.) Die Furcht der Israeliten vor den Ägyptern (Vers 10) ist nun der Gottesfurcht gewichen. Entgegen der in den Versen 11-12 geäußerten Kritik an Mose glauben sie nun „an den Herrn und Mose, seinen Diener“ (vergleiche Exodus 4,31).

Vers 1: Nach der Rettung stimmt Mose für die Israeliten einen Lobpreis Gottes an, in dessen erstem Satz die todbringende Verherrlichung Gottes an den Ägyptern besungen wird.

Auslegung

Die Befreiung der Israeliten, die mit dem Tod der ägyptischen Soldaten endet, beginnt mit einem Genozid. Am Anfang des Buches Exodus hat sich die Vermehrungsverheißung Gottes an die Erzeltern erfüllt. Als Immigranten in einem fremden Land treffen sie die auch heute noch verbreiteten Vorurteile. Der Pharao wirft ihnen vor, faul zu sein, zu viele Kinder zu bekommen und eine Gefahr für die innere Sicherheit darzustellen. Daher wird Israel nicht nur versklavt, sondern der Pharao gibt den Befehl an jeden Ägypter alle neugeborenen Söhne Israels und somit die zukünftigen Stammhalter des Volkes umzubringen. Gegen diese Gewalt ist Gott von Anfang an parteiisch und steht auf der Seite der Unterdrückten: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne sein Leid“ (Exodus 3,7). Die Gewalt Gottes gegen die Ägypter ist die Antwort Gottes auf die Unterdrückung seines Volkes und dient der Entmachtung Ägyptens.

Menschliche Macht wird in ihre Grenzen gewiesen. Die Ohnmächtigen sind die Siegreichen. Die Erzählung stellt eine Gegenpropaganda gegenüber Unterdrückung und Krieg dar. Nicht die Israeliten ziehen in die Schlacht, sondern sie sind passive Zuschauer des handelnden, für sie kämpfenden Gottes. Ihre Rolle ist rein passiv und wird ihnen von Gott zugewiesen: „Der HERR kämpft für euch, ihr aber könnt ruhig abwarten“ (Exodus 14,14). Das Gewaltmonopol liegt bei Gott. Zugleich lehrt die Erzählung auch, dass Gegengewalt durch Gott legitim sein kann, wenn sie dazu dient, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Nach dem Durchzug durch das Schilfmeer untersteht Israel vollends dem Machtbereich Gottes. Seine Gesetze ordnen Israels Lebenswelt neu und sollen seinem Volk ein Leben in Freiheit ermöglichen. Dazu gehört später im Buch Exodus die Mahnung: „Einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid im Land Ägypten Fremde gewesen.“ (Exodus 22,20). Aus dieser Perspektive gelesen ist die Erzählung vom Schilfmeerwunder auch eine Drohung. Der parteiische, gerechte Gott bestraft die Unterdrücker mit dem Tod.

Aus der Perspektive der menschlichen Autoren der Erzählung des Schilfmeerwunders ist der Tod der Ägypter und das daraufhin erklingende Loblied der Israeliten gerechtfertigt: Die Gewalt der Ägypter hat zur Gegengewalt Gottes geführt, der an ihnen seine Macht erwiesen und die Unterdrückten endgültig befreit, indem er das Meer gespaltet und die Ägypter getötet hat. Bereits im rabbinischen Judentum wurde die Deutung jedoch als problematisch angesehen. Im Talmud wird erzählt, dass die Engel im Himmel nach der Rettung Israels am Schilfmeer ein Loblied anstimmen wollten, worauf ihnen Gott dies verboten haben soll: „Mein Händewerk [= die Ägypter] ertrinkt im Meer, und ihr wollt mir ein Loblied anstimmen!?“

Kunst etc.

Der US-amerikanische Maler Frederick Arthur Bridgman (1847-1928) betont in seiner Darstellung der Meerwundererzählung den Untergang der mächtigen ägyptischen Streitmacht in den zurückkehrenden Fluten. Er zeigt die Soldaten in ihrem Überlebenskampf und den Pharao im Zentrum des Bildes noch machtvoll auf seinem Streitwagen stehend.

“Pharaoh's army engulfed by the Red Sea”, Frederick Arthur Bridgman – Lizenz: gemeinfrei.
“Pharaoh's army engulfed by the Red Sea”, Frederick Arthur Bridgman – Lizenz: gemeinfrei.