Lesejahr A: 2022/2023

1. Lesung (Jes 49,1-6)

491Hört auf mich, ihr Inseln, / merkt auf, ihr Völker in der Ferne!

Der HERR hat mich schon im Mutterleib berufen; / als ich noch im Schoß meiner Mutter war, hat er meinen Namen genannt. 2Er machte meinen Mund wie ein scharfes Schwert, / er verbarg mich im Schatten seiner Hand. Er machte mich zu einem spitzen Pfeil / und steckte mich in seinen Köcher. 3Er sagte zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, / an dem ich meine Herrlichkeit zeigen will.

4Ich aber sagte: Vergeblich habe ich mich bemüht, / habe meine Kraft für Nichtiges und Windhauch vertan. Aber mein Recht liegt beim HERRN / und mein Lohn bei meinem Gott.

5Jetzt aber hat der HERR gesprochen, / der mich schon im Mutterleib zu seinem Knecht geformt hat, damit ich Jakob zu ihm heimführe / und Israel bei ihm versammelt werde. So wurde ich in den Augen des HERRN geehrt / und mein Gott war meine Stärke.

6Und er sagte: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, / nur um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten / und die Verschonten Israels heimzuführen. Ich mache dich zum Licht der Nationen; / damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht.

Überblick

Der Knecht Gottes hat einen Mund wie ein scharfes Schwert. Er ist ein spitzer Pfeil – und wird so zum Licht der Nationen.

 

1. Verortung im Buch

Nachdem Gott in Jesaja 42,1-4 seinen Diener, den Gottesknecht, als jemand mit einem prophetisch-königlichen Auftrag vorgestellt hat -  „Siehe, das ist mein Knecht, den ich stütze; das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen. Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt, er bringt den Nationen das Recht.“ – kommt dieser nun selbst zu Wort und redet direkt zur Völkerwelt. Die Bedeutung des Gottesknechtes wird bereits in seinen ersten Worten deutlich. In Jesaja 41,1 sagt Gott: „Ihr Inseln, hört schweigend auf mich, die Völker sollen neue Kraft empfangen!“ Nun redet der Gottesknecht wie Gott im Namen Gottes: „Hört auf mich, ihr Inseln, merkt auf, ihr Völker in der Ferne!“ (Vers 1).

In den folgenden Kapiteln tritt an die Seite des männlichen Gottesknechtes die weibliche Figur der Stadt Zion/Jerusalem (Jesaja 49-54). Gottes Wille, seinen Knecht, der mit Israel identifiziert wird, zum „Licht der Welt“ zu machen, wird nur gelingen, wenn Zion/Jerusalem wieder auf die Treue Gottes vertraut (Jesaja 42,14-26).

 

2. Aufbau

Die Worte des Gottesknechtes beginnen mit der Anrede der „Inseln“ und „Völker in der Ferne“ (Vers 1). Er wendet sich an den gesamten Erdenkreis, denn – damit endet seine Rede – Gottes Heil soll „bis an das Ende der Erde“ reichen (Vers 6). Auf die Beschreibung seiner Berufung, in der der Gottesknecht völlig passiv im Mittelpunkt steht (Verse 1-3), folgt ein Satz von ihm, der zugleich Klage und Vertrauen ausdrückt (Vers 4). In den Versen 5 und 6 zitiert er dann den von Gott erhaltenen Auftrag: Er, der mit „Israel“ identifiziert wird, soll „Israel“ zu Gott zurückführen (Vers 5) und „zum Licht der Nationen“ werden (Vers 6).

 

3. Erklärung einzelner Aspekte

Vers 1-3: Im sogenannten ersten Gottesknechtlied sagt Gott über seinem Knecht: „Auf seine Weisung warten die Inseln.“ (Jesaja 42,4). Nun kommt er selbst zu Wort und tritt vor die Weltöffentlichkeit. Die Völker sind nun aufgerufen sich für oder gegen Gott zu entscheiden – doch in den folgenden Worten geht es vor allem nur um ihn. Die Frage wird virulent: Wer ist der Knecht? 

So wie assyrische und neubabylonische Könige, deren Reiche Israel belagert, besiegt und ins Exil geführt haben, so ist auch der Gottesknecht noch vor seiner Geburt erwählt worden. In dieser Aussage findet sich ein erster Hinweis auf die Identität des Knechtes, der zugleich die Welt auf den Kopf stellt. Hier geht es nicht um einen König, sondern wie in Vers 3 deutlich wird um das Volk Israel, das Gottes Schöpfung ist (siehe unter anderem Jesaja 42,4). Dieser Knecht ist zum Kampf ausgerüstet: Bereit für den Nahkampf und dem Kampf auf Distanz ist er nicht nur wie ein Schwert, sondern er ist ein spitzer Pfeil – bereit von Gott eingesetzt zu werden. Seine eigentliche „Waffe“ ist jedoch der Mund, in den Gott seine Botschaft hineinlegt. Der Knecht ist geschaffen, damit Gott sich an ihm und durch ihn – in der bevorstehenden Zukunft – verherrlichen kann. Zur Frage, wer der Gottesknecht ist und wie er mit Israel zu identifizieren ist, siehe die Rubrik „Auslegung“.

Vers 4: Als Schwert und Pfeil Gottes ist der Knecht noch nicht zum Einsatz gekommen – in der Bildsprache gesprochen: Er ruht noch in der verborgenen Hand Gottes und in seinem Köcher. Doch schon jetzt ist der Gottesknecht enttäuscht. Die beklagten vergeblichen Mühen werden von ihm genannt – aber es ist nicht ersichtlich, worauf sich diese Aussage bezieht. Die vorherigen Worte beziehen sich nur auf seine Vorbereitung durch Gott und seine Berufung. Ein Blick auf Vers 5 gibt den Grund seiner Enttäuschung an: Er ist berufen das Volk wieder  zu Gott zurückzuführen, aber seine bisherigen Bemühungen sind erfolglos. Und die Wortwahl verdeutlicht die Frustration: Sein Tun war bisher Leere, Windhauch und Nichtiges. Doch diese Erfahrung führt ihn nicht fort von Gott, sondern hin zu dem, der ihn berufen hat. In ihm findet er sein Recht und seinen Lohn.

Verse 5-6: In die Frustration und das Vertrauen hat Gott hineingesprochen. Sein Wort ist in dieser Situation kein argumentatives „Aber“ gegen die vergeblichen Mühen des Knechtes zu verstehen, sondern als ein: „Jetzt erst recht!“. Zuerst betont der Knecht in seinen Worten seine besondere Berufung. Er legt den Fokus noch auf seine Sendung zum Gottesvolk, um es aus dem Exil zurück nach Jerusalem zu führen. Gott geht einen Schritt weiter. Jetzt verkündet der Knecht das Gotteswort, das die „Inseln“ und „die Völker in der Ferne“ hören sollen. Die Wortwahl ist radikal: Israel aus dem Exil zurückzuführen wäre eine zu „unbedeutende“ Aufgabe. Durch die Rückkehr werden die Völker die Macht Gottes sehen können. Die Rettung Israels und der Wiederaufbau Zions/Jerusalems wird die Völker zur Erkenntnis führen – in den Worten Gottes: „Dann wird alles Fleisch erkennen, dass ich, der HERR, dein Retter bin und ich, der Starke Jakobs, dein Erlöser“ (Vers 26).

Auslegung

„Du bist mein Knecht, Israel, an dem ich meine Herrlichkeit zeigen will,“ sagt Gott zu seinem Auserwählten. Dieser Satz bietet im Hebräischen zwei Lesemöglichkeiten. Entweder wird Israel als Knecht Gottes angesprochen, wie die revidierte Einheitsübersetzung die Aussage übersetzt. Oder – und das ist die eigentlich radikale Aussage des Gotteswortes –, der Knecht wird mit Israel identifiziert: „Du bist mein Knecht, du bist Israel …“. Zwischen beiden Übersetzungen liegt ein bedeutender Unterschied. Beim ersten Lesen des Textes in Jesaja 49,1-6 – besonders aufgrund der Klage in Vers 4 – liegt es nahe, den Gottesknecht mit einer Person zu identifizieren. Diese Deutungsmöglichkeit wird jedoch bereits in Vers 3 zerbrochen. Wie kann der Knecht Israel sein und zugleich den Auftrag haben, Israel aus dem Exil herauszuführen (siehe Vers 5)? Der Knecht ist, was Israel sein soll – ein Diener Gottes. Das was der Knecht tut, ist das was Israel tun soll. Der Knecht soll Gottes Volk wieder in Jerusalem versammeln – Israel soll aus dem Exil wieder in die Gottesstadt ziehen und sie aufbauen. Das Gottesvolk soll zum Gottesknecht werden. Wenn sie sich nach dem Willen Gottes richten – und durch die Rettung Gottes –, werden sie dann zum leuchtenden Beispiel für die Völker. Und so wird sich die Verheißung aus dem ersten Gottesknechtlied erfüllen: „Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt, er bringt den Nationen das Recht“ (Jesaja 42,1). Dazu ist der Gottesknecht bestimmt. Das ist nicht nur ein Prophetenamt, das ist kein Nebenberuf, sondern eine geforderte Lebensart!

Kunst etc.

„Er machte mich zu einem spitzen Pfeil und steckte mich in seinen Köcher,“ so beschreibt sich selbst der Gottesknecht in Vers 2. Mit diesem Bild bezieht er sich sowohl auf sein Werden als auch auf sein Sein. Im Mutterleib bereits hat Gott ihn zu seiner Waffe gemacht. Er selbst ist jedoch völlig passiv. Gott ist der Handelnde. Im Mutterleib lässt er ihn werden und legt ihn dann zu Seite – aber im Köcher ist er doch immer griffbereit, um genommen zu werden und ohne eigene Kraft und entsprechend dem Willen Gottes das zu tun, wozu er bestimmt ist.  

„Archery details“, fotografiert von Manuela Kohl – Lizenz: CC0 1.0
„Archery details“, fotografiert von Manuela Kohl – Lizenz: CC0 1.0