Lesejahr B: 2023/2024

Evangelium (Mk 9,30-37)

30Sie gingen von dort weg und zogen durch Galiläa. Er wollte aber nicht, dass jemand davon erfuhr;

31denn er belehrte seine Jünger und sagte zu ihnen: Der Menschensohn wird in die Hände von Menschen ausgeliefert und sie werden ihn töten; doch drei Tage nach seinem Tod wird er auferstehen.

32Aber sie verstanden das Wort nicht, fürchteten sich jedoch, ihn zu fragen.

33Sie kamen nach Kafarnaum. Als er dann im Haus war, fragte er sie: Worüber habt ihr auf dem Weg gesprochen?

34Sie schwiegen, denn sie hatten auf dem Weg miteinander darüber gesprochen, wer der Größte sei.

35Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.

36Und er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen:

37Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.

Überblick

Erst denken, dann sprechen! Die Jünger Jesu zeigen einmal mehr, dass noch ein weiter Weg vor ihnen liegt

1. Verortung im Evangelium
Der Evangelist Markus unternimmt es als erster eine Jesuserzählung zu schreiben und die zuvor meist mündliche Überlieferung zu einer fortlaufenden Geschichte zusammenzustellen. Das Markusevangelium (Mk) entsteht kurz nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n.Chr.) im Jüdischen Krieg. Der Verfasser ist unbekannt, auch wenn es innerhalb der kirchlichen Tradition eine Verbindung zu Markus einem Judenchristen hellenistischer Herkunft gibt. Dieser ist einerseits Paulusbegleiter (Apostelgeschichte 12,12) und andererseits Vertrauter des Petrus (1. Petrusbrief 5,13).
Das Markusevangelium beginnt in der Wüste (Mk 1,1-13) mit dem Auftreten des Täufers und der Taufe Jesu. Dann schildert es den Beginn der Verkündigung Jesu in Galiläa (Mk 1,14-8,26) und den Weg nach Jerusalem (Mk 8,27-10,52) und endet mit den Ereignissen in Jerusalem (Mk 11,1-16,20). Das ursprüngliche Ende des Evangeliums war die Begegnung der Frauen mit dem Engel am leeren Grab (Mk 16,8). Die Erweiterung um die Erscheinungserzählungen sind später hinzugefügt worden (Mk 16,9-20).
Mit Mk 8,27 hatte ein neuer großer Abschnitt im Markusevangelium begonnen. Nachdem Jesus vorher rund um den See Genesareth unterwegs war, von einer Seite des Sees zur anderen fuhr und sich sogar im heidnischen Grenzgebiet bewegte, ist er nun auf dem Weg nach Jerusalem und damit dem eigenen Leiden entgegen. Dieser Abschnitt ist gegliedert durch drei Ankündigungen des Leidens (Mk 8,31, Mk 9,31 und Mk 10,33-34). Der vorliegende Abschnitt Mk 9,30-37 verbindet die zweite Leidensankündigung mit einer Diskussion zum Thema „Jüngerschaft“, welches ebenfalls eine große Rolle auf dem Wegabschnitt nach Jerusalem spielt. Unmittelbar vor dem Abschnitt Mk 9,30-37 hatten die Jünger erfolglos versucht, einen kranken Jungen zu heilen (Mk 9,14-29).

 

2. Aufbau
Die Perikope vereint zwei verschiedene Sinnabschnitte: In den Versen 30-32 steht die Ankündigung des Leidens im kleinen Kreis zwischen Jesus und den Jüngern im Mittelpunkt. Die Verse 33-37, die nicht „unterwegs“ spielen, sondern in einem Haus in Kafarnaum, nehmen das Weggespräch der Jünger auf. In der Folge muss Jesus seine Jünger deutlich über den wirklichen Charakter der Jüngerschaft belehren.

 

3. Erklärung einzelner Verse

Verse 30-32: Jesus und die Jünger gehen vom namenlosen Ort der Heilung des Jungen weg und wieder durch Galiläa. Anders als zuvor steht nun aber nicht das Wirken Jesu vor dem Volk im Vordergrund. Dies hatte immer wieder dazu geführt, dass Jesus wegen des Ansturms der Menge den Weg geändert hat und „aufgehalten“ wurde. Nun hat er das Ziel Jerusalem einerseits fest im Blick, andererseits widmet er seine Aufmerksamkeit nun vor allem den Jüngern und ihrer expliziten Unterweisung. Deshalb formuliert der Evangelist „er wollte aber nicht, dass jemand davon erfuhr“. Gemeint ist nicht, dass Jesus von nun an heimlich verkündet, aber er möchte Verzögerungen auf seinem Weg vermeiden – das lässt sich nur verwirklichen, wenn ihm keine Volksmenge folgt und auf ihn aufmerksam wird.
Mit der Betonung des „Belehrens“ der Jünger wird Jesus deutlich in seiner Rolle als Lehrer akzentuiert und die Jünger in ihrer Schülerrolle dargestellt. Sie sollen direkt und „mit Freimut“ (Mk 8,32) erzählt bekommen, wie Jesu weiterer Weg aussehen wird und welche Bedeutung seiner Sendung zukommt. Anders als in der ersten Leidensankündigung wird nun das „Ausgeliefertsein“ ins Zentrum gerückt. Der „Menschensohn“ wird von den Menschen, also von Seinesgleichen ausgeliefert – ein typisches Wort, das im Neuen Testament mit den Passionsereignissen verknüpft ist. Es umfasst die gesamte Bandbreite von Verrat, Verkauf, Verleugnung, falscher Anklage etc., alles, was Jesus im Zuge seines Leidensweges von Menschen angetan wird. All diese Handlungen gipfeln in der Tötung des Gottessohnes, der als Mensch zu den Menschen gesandt wurde. Dem passiven Ausgeliefertsein und der Tötung folgt das aktive Auferstehen vom Tod. Der Menschensohn stellt sich den Bedrohungen der Menschen nicht aktiv entgegen, sondern erleidet sie. Dennoch bleibt er der Aktive, indem er den Tod besiegt von ihm aufersteht.

 

Verse 33-37: In Kafarnaum spielten die ersten Episoden des öffentlichen Wirkens Jesu (Mk 1,21-34), dorthin kehrt Jesus nun zurück. Allerdings nicht, um öffentlich zu wirken, sondern um ganz im Sinne des Duktus der Etappe Mk 8,27-10,52 immer in Bewegung („auf dem Weg“) und vor allem mit seinen Jüngern im Gespräch zu bleiben. Deshalb wird Jesus mit seinen Jüngern „im Haus“ über das sprechen, was diese unterwegs bewegt hat.
Die Frage Jesu an die Jünger ist eigentlich nicht relevant, denn er scheint die Antwort zu kennen – sonst macht seine Belehrung keinen Sinn. Die Jünger sind – auch nach der Erfahrung der nicht geglückten Heilung in der Episode zuvor – mit sich selbst beschäftigt. Die Frage nach „dem Größten“ steht vollkommen konträr zu dem, was sie auf ihrer Wanderschaft mit Jesus erleben und wie sie ihn wahrnehmen dürften. Ihr Schweigen auf die Frage Jesu spricht daher Bände, denn sie fühlen sich zurecht „ertappt“ bei einem Gespräch, dass so gar nicht dem entspricht, was sie als Jünger Jesu lernen sollen. In genau diesem Sinne belehrt Jesus sie nun auch. (Gerade) ihnen kann und darf es nicht darum gehen, wer „der Größte“ ist. Jesus selbst lebt vor, nicht sich in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die anderen. Das Beispiel des Kindes dient als Zeichen für all die Menschen, die in der damaligen Gesellschaft einen geringen bis gar keinen Rang haben. In seiner Belehrung bezieht sich Jesus auf die Regel der Gesandtschaft. Das bedeutet, dass der Gesandte so aufgenommen werden soll/wird, wie die Person, die gesendet hat. Wenn die Jünger und die Menschen verstanden haben, wer Jesus gesandt hat, müssten sie ihn auch als Gottes Sohn aufnehmen und ihn entsprechend behandeln.

Auslegung

Die Jünger Jesu haben selbst erkannt, dass sie mit den falschen Themen beschäftigt waren, als sie Jesus eine Antwort schuldig geblieben sind. Er selbst spricht gerade noch – und das schon zum zweiten Mal – von seinem kommenden Schicksal, das durch Auslieferung, Leiden, Tod und Auferstehung gekennzeichnet ist, sie selbst aber kreisen nur um sich selbst. Der Dialog der Jünger über Rangfolge und Bedeutung widerspricht diametral dem, was sie an ihrem Lehrer in diesen Tagen wahrnehmen: Er geht seinen Weg ohne sich in den Mittelpunkt zu spielen, er sucht nicht das Bad in der Menge, er wendet sich denen zu, die Hilfe benötigen und von anderen ausgeschlossen werden. Er verweilt bei Heiden und Sündern und streitet mit den religiösen Wortführern. Wenn Jesus vom „Diener“ sein spricht, dann hat er genau dieses Verhalten im Blick: Eines, das sich auf das Wohl der anderen, aber nicht auf das eigene fokussiert. Hatte die Jüngerbelehrung nach der ersten Leidensankündigung (Mk 8,32-35) im Blick, sich auf Gott und sein Reich und seine Weisungen zu konzentrieren, so geht es nach der zweiten Leidensankündigung um den Umgang untereinander bzw. mit dem und der Nächsten. Denn am Verhalten gegenüber den Mitmenschen entscheidet sich genauso wie an der Fokussierung auf Gott und seine Botschaft, ob man selbst den Schritt in die Nachfolge gegangen ist oder nicht. Das Beispiel des Kindes als Zeichen für die Geringgeachteten bringt dies pointiert zur Geltung. Den „Niedrigen“ soll die Aufmerksamkeit der Jünger zugewandt sein. Sie sollen wertgeschätzt werden, nicht diejenigen, die sich durch Geld, Macht und Einfluss ohnehin alle Aufmerksamkeit erkaufen können. Jüngerschaft bedeutet eben, sich nicht selbst nach vorne zu drängeln, sondern anderen den Vortritt zu lassen.