Wie die Fünfte Osternacht-Lesung aus Kapitel 55 des Jesajabuches gehört auch die Siebente Lesung aus dem Buch Ezechiel bereits in die Zeit nach der persischen Befreiung von den Babyloniern, die Jerusalem 587 v. Chr. zerstört und viele Menschen nach Babylonien ins Exil verschleppt hatten, im Jahr 538 v. Chr.: Totalzerstörung und Neuaufbau, Tod und und Wiederaufleben sind damit die beiden Erfahrungen israels, die gerade diese Zeit zur Folie für den Sieg des Lebens über den Tod machen, der in der Osternacht gefeiert wird. Der Gott, der hoffnungslosen und verstörenden Untergang in wieder aufblühendes Stadtleben zu verwandeln vermag, ist derselbe, der den ebenso hoffnungslos und verstörend erscheinenden Kreuzestod Jesu in das Hoffnung begründende leere Grab münden lässt, aus dem den Frauen die bestürzende Mitteilung entgegenschallt: "Ihr sucht Jesus von Nazaret, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier." (Markus 16,6).
Einordnung der Lesung in das Buch Ezechiel
Anders als der uns namentlich unbekannte Prophet, der im Buch jesaja ab Kapitel 40 spricht, erfahren wir von Ezechiel, dass er Sohn eines Priesters war und schon beim ersten babylonischen Feldzug gegen Jerusalem in den 590er Jahren v. Chr. nach Babylon verschleppt wurde, Er wird zum theologischen Anführer einer jüdischen, aus Mitverschleppten bestehenden Gemeinde in der Nähe des Euphrat (Irak). Zunächst spricht er mahnend und klagend vom bevorstehenden Ende Jerusalems, das 587/586 v. Chr. eintraf. Als er aber per Bote vom Fall der Hauptstadt hört, endet eine zeitweilige Verstummung (Ezechiel 33,21) und er beginnt mit der Hoffnungsbotschaft von der Rückkehr nach Jerusalem sowie der Vision eines neuen Tempels.
Seine Botschaft ist nach Exil-Ende (538 v. Chr.) wohl noch einmal weitergeschrieben worden. In diesen Teil des Prophetenbuches gehört die Lesung. Das ausgewählte Kapitel 36 geht dabei direkt dem berühmteren Kapitel 37 mit der Vision von Totengebeinen voran, die durch den Geist Gottes wiederbelebt werden. Ursprünglich war dies ein Bild für das in der Fremde lebende, sich wie tot vorkommende Israel, das aus dem "Grab" Babylon ins Reich des Lebens, nach Jerusalem, zurückkehren wird (der Bibeltext findet sich vollständig abgedruckt unter "Kontexte"). Durch den "Vorspann" von Kapitel 36 geht es um eine "Verlebendigung" der mittlerweile nach Jerusalem Zurückgekehrten, die dabei sind, durch "versteinerte Herzen" sich ein neues "Grab" zu schaufeln. Modern würde man von einem "Tod durch soziale Kälte" sprechen, aus dem der Geist Gottes herausführen will.
Aufbau der Lesung
Kapitel 36 gibt Einblick in die Motivation Gottes, warum er sein Volk wieder zurückführen will bzw. vermutlich bereits zurückgeführt hat. Anders als in Jes 54 ist es weniger das Mitleid mit der Stadt und ihren Einwohnern als vielmehr die Bewahrung des eigenen Namens (JHWH - "Er ist [wirksam] (da)", in der Einheitsübersetzung immer: "der HERR") vor Schmach und Schande. Davon ist in zwei Teilen die Rede:
- In den Versen 16-21 wendet sich Gott an den Propheten.
- Ab Vers 22 erfährt Ezechiel, was er dem Volk sagen soll.
Verse 16-21: Die Gründe für die Katastrophe
Die Rede Gottes an den Propheten hält Rückblick auf und begründet den Untergang Jerusalems bzw. die Verschleppung ins Ausland - das dem Israeliten immer als unreiner, gottferner Boden gilt - als göttliche Strafe. Zwei Gründe werden genannt: "Blut vergießen" und "Götzendienst". Beide Vergehen machen "unrein", schließen das Betreten des Tempels als reinem und heiligem Ort der Begegnung zwischen Gott und Mensch aus. Hier hört man sprachlich den Priestersohn Ezechiel heraus, besonders wenn zum nicht gerade freundlich gemeinten Vergleich auch noch die - für die Osternachtlesung weggelassene - Unreinheit der Frau (Menstruation) zum Vergleich herangezogen wird, die ebenfalls mit dem Ausschluss vom Tempelbereich einherging.
Gewalttätigkeit (hebräisch: chāmás) ist in der Heiligen Schrift die Ursünde schlechthin, die die Geschichte von ihren Anfängen an (Kain ermordet seinen Bruder Abel, vgl. Genesis 4) bis in die späten Zeiten Israels durchzieht und weltweit bis heute unendliches Leid verursacht (vgl. den Verzweiflungsruf des Propheten Habakuk in Habakuk 1,3: "Wohin ich blicke, sehe ich Gewalt [chāmás] und Misshandlung, erhebt sich Zwietracht und Streit."). Die anstelle des Begriffs "Gewalt" in der Lesung gebrauchte Wendung "Blut vergießen" kann wörtlich gemeint sein und auf Morde sowie Tötungen aufgrund von falschen Prozessen bei Gericht anspielen; aber auch Andere am Leben hindernde soziale Unterdrückungsmaßnahmen aller Art vom Landraub über gesellschaftliche Ausgrenzung bis hin zu unmenschlichen Sklavenarbeiten könnten gemeint sein.
Das Stichwort "Götzendienst" verweist darauf, dass das 6. Jh. v. Chr. die Zeit ist, in der sich der Glaube an JHWH als einzigen Gott ausbildet. Er ist nicht nur der Gott Israels, sondern der ganzen Welt und des ganzen Kosmos. Er hat alles erschaffen und ohne ihn ist nichts. Mit diesem Gott hat Israel seine Urerfahrung gemacht, als er das Volk aus Ägypten in die Freiheit hinausführte (vgl. die Dritte Lesung der Osternacht aus dem Buch Exodus). Diese Erfahrung kann Israel mit keiner anderen Gottheit, die in der Regel damals als Statue in welcher Gestalt auch immer dagestellt wurde, in Verbindung bringen. Diese Statuen bleiben handgemachte Werkstücke, die genau nichts bewirken. Deshalb spricht Ezechiel bei deren Verehrung von "Nichtsen", in der Einheitsübersetzung: "Götzen". Wer sich dem "Nichts-Bewirker" anschließt und ihn dem unsichtbaren, im Bild nicht darzustellenden Gott Israels vorzieht, hat die Folgen der ausbleibenden Hilfe zu tragen. So ist es Israel ergangen.
Doch die Strafaktion Gottes kann auch ganz anders bewertet werden: Die ausländischen Völker, allen voran das siegreiche Babylon, können nun sagen: "Guckt mal, was Israel für einen schwachen Gott hat. Der konnte sein Volk nicht vor unserem Militär und unserem Kriegsgott Marduk schützen." Damit ist die zweite Sünde Israels schlimmer als die erste: Sie haben nicht nur durch ihre Gewalttätigkeit gegen Gottes Weisung verstoßen, sondern als Besiegte im Land der Sieger Gott selbst in Verruf gebracht.
Mit diesem Argument kann der Prophet erklären, weshalb Gott sich zur Rettung seines Volkes entschließt, obwohl irgendein Sinneswandel bei den Besiegten überhaupt nicht erkennbar ist. Gott reagiert nicht auf die Umkehr, sondern rettet, um so zwar auch seinen Namen vor Schande zu schützen, aber noch mehr, um sein Volk zu einer neuen Lebensausrichtung zu motivieren.
Verse 22-28: Eine Kette von Zusagen
Davon sprechen ganz besonders die Verse 22-23, um dann eine Kette von ermutigenden Zusagen an Israel folgen zu lassen. Sie umfassen:
- die Rückkehr ins eigene Land, also nach Jerusalem (Vers 24);
- die "Reinigung" von Sünden, ausgedrückt im Bild des Abwaschens von Schuld, als ob sie "Flecken" hinterlassen würde, die man auswaschen muss; gemeint ist von Gott her die Wiederherstellung der verloren gegangenen Kultfähigkeit (s. o.): Israel darf wieder den (noch zu bauenden) Tempel als Ort der Gottesbegegnung betreten (Vers 25);
- eine innere "Neuschöpfung", indem die Panzerherzen, aus denen die hartherzige Gewalt hervorging, in fleischliche, d. h. menschliche und mitfühlende Herzen umgewandelt werden (Vers 26);
- die Mitteilung des Geistes Gottes als die Willenskraft, sich im Handeln an diesem Gott zu orientieren (V27).
Das alles geschieht ohne vorangehendes Handeln Israels. Ob aber aus diesem geschenkten Neuanfang etwas Bleibendes wird, das wiederum hängt davon ab, inwieweit sich das Volk zu einer Neuausrichtung motivieren lässt (Vers 28).