Kein Märchenkönig. Und doch ist das Königreich Jesu nicht von dieser Welt.
1. Verortung im Evangelium
Der Evangelist Johannes eröffnet sein Evangelium, seine frohe Kunde vom Leben und Wirken Jesu anders als die anderen Evangelisten (Matthäus, Markus, Lukas). Das Johannesevangelium (Joh) beginnt mit einem philosophisch anmuteten Hymnus (Joh 1,1-18). In ihm spricht der Evangelist über Jesus als das Wort vor aller Zeit, aus dem alles entstanden ist und das in die Welt kam; das Wort, das Gott selbst ist.Im zweiten Hauptteil des Johannesevangeliums (Joh), der mit dem 13. Kapitel und der Fußwaschung beginnt, steht die Rückkehr Jesu zum Vater und seine Verherrlichung im Mittelpunkt. Zugleich konzentriert sich das Handeln und Verkünden Jesu auf den Kreis seiner Jünger. Seinen engsten Vertrauten hat er die Füße gewaschen und in den folgenden Abschiedsreden eine Deutung seines Leidens anvertraut. In der Passion Jesu im Johannesevangelium tauchen diese beiden Fäden wieder auf: Verherrlichung und Beziehung zu den Seinen.
Innerhalb der Passionserzählungen steht die Szene zwischen Jesus und Pilatus an dritter Stelle. Zuvor war Jesus verhaftet worden (Joh 18,1-11) und vor den Hohepriester Hannas geführt worden (Joh 18,12-27). Von dort gelangt er zu Pilatus, den römischen Statthalter (Joh 18,28-19,16a und 19,19-22). Die Begegnung lässt sich in insgesamt sieben Szenen unterteilen, ist ein Höhepunkt in der Erzählung der johanneischen Leidensgeschichte und geprägt vom Ortswechsel des Pilatus, der zwischen Jesus im Inneren des Prätoriums und den Juden vor dem Gebäude hin und her läuft.
2. Erklärung einzelner Verse
Verse 33-35: Das Zentrum der Szene ist die Frage des Pilatus: „Bist du der König der Juden?“. An ihm hängt ein Dialog, der innerhalb der vier Evangelien einzigartig ist. Bei den Evangelisten Markus, Matthäus und Lukas antwortet Jesus sonst nur knapp auf die Frage „Bist du der König der Juden“ und hüllt sich dann in Schweigen. Hier kommt es zu einem ausführlichen Gespräch zwischen Jesus und Pilatus um das Königtum Jesu. Im ersten Dialogteil bleibt die Frage jedoch zunächst unbeantwortet. Stattdessen fragt Jesus zurück, woher Pilatus dieses vermeintliche Wissen hat. Er will wissen, ob Pilatus von sich aus fragt und handelt oder durch andere zum Handeln bewegt worden ist. Denn die Anklage, mit der die Juden Jesus an Pilatus übergaben, war mehr als „dünn“. Auf die Frage nach dem Vorwurf, den die Juden gegen Jesus erheben (Joh 18,29), antworteten diese ausweichend: „Wenn er kein Übeltäter wäre, hätten wir ihn dir nicht ausgeliefert“ (Joh 18,30).
Pilatus möchte also offenbar selbst erfragen, warum Jesus vor ihn geführt wird. Gleichzeitig lässt er sich durch das Handeln der Juden und deren Hinweis, dass Jesus hingerichtet werden soll (Joh 18,31) aktivieren. Die Frage Jesu trifft also den Kern des Problems des Statthalters: Bildet er sich selbst eine Meinung oder ist er „Spielball“ in der Intrige der Juden?
Die Antwort des Pilatus ist doppeldeutig. Spricht er von Jesus als König der Juden, weil er als Römer nur zu gut weiß, dass die Juden keinen rechtmäßigen und politisch wirksamen König haben können oder hat er verstanden, dass die Juden Jesus mit dieser Zuschreibung zu einem Aufrührer machen wollen? Die Feststellung, dass Jesus von „seinem eigenen Volk“ und den religiösen Führern ausgeliefert wurde, ist rein beschreibend.
Verse 36-37: Jesus beantwortet die Ausgangsfrage des Pilatus, wenn zunächst auch nur auf indirekte Weise. Er bejaht nicht seine Königswürde, sondern spricht stattdessen von seinem Königtum. Indem er es außerhalb der Welt und damit in einem anderen Machtbereich verortet, grenzt er sein Verständnis vom Königtum von dem des Statthalters ab. Denn Pilatus‘ Vorstellung von Herrschaft und Macht ist sicher begrenzt auf die Zusammenhänge, die er als Staatsdiener einer Besatzungsmacht kennt. Mit dem Hinweis auf „sein“ Königtum verbindet Jesus den Hinweis darauf, dass er dort über Personal („meine Leute“) verfügt. In diesem Punkt ähnelt sein Herrschaftsbereich den irdischen Konventionen, denn es gibt offenbar Anhänger des Königs und seiner Macht.
Pilatus schlussfolgert: Jesus muss also wirklich ein König sein. Erst jetzt bestätigt Jesus die Eingangsfrage und definiert zugleich den Zusammenhang seines Königtums. Anders als man es vermuten könnte, ist der Sinn seiner Macht keine klassische Herrschaftsausübung, sondern das Eintreten für die Wahrheit. Mit „jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“ definiert Jesus abschließend „seine Leute“. Es sind solche, die auf ihn hören und sich damit zur Wahrheit bekennen.
An den letzten Satz Jesu schließt sich die berühmte Frage des Pilatus („Was ist Wahrheit?“) an, die für den Abschnitt des Sonntags ausgelassen wurde.