Lesejahr B: 2023/2024

2. Lesung (Hebr 2,9-11)

9[... aber] den, der ein wenig unter die Engel erniedrigt war, Jesus, ihn sehen wir um seines Todesleidens willen mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt;

es war nämlich Gottes gnädiger Wille, dass er für alle den Tod erlitt.

10Denn es war angemessen, dass Gott,

für den und durch den das All ist

und der viele Söhne zur Herrlichkeit führen wollte,

den Urheber ihres Heils durch Leiden vollendete.

11Denn er, der heiligt, und sie, die geheiligt werden, stammen alle aus Einem;

darum schämt er sich nicht, sie Brüder zu nennen

Überblick

Mit einer steilen These setzt die erste der Lesungen aus dem Hebräerbriefs ein, der jetzt und an den nächsten Sonntagen die Zweite Lesung bestimmt: Der schändliche Leidensweg Jesu wird als "Königsweg" gewürdigt und auch noch als "Gott angemessen" bezeichnet. Eine Herausforderung für den Glauben - damals wie heute.

 

Einordnung in den Zusammenhang des Buches

Mit diesem Sonntag steigt der Zyklus der Zweiten Lesungen - nach einem Durchgang durch den Jakobusbrief - in den Hebräerbrief ein. Er war schon einmal mit seinem hinteren Teil (Kapitel 11 und 12) im Lesejahr C am 19. - 22. Sonntag im Jahreskreis an der Reihe (plus einigen Einzellesungen an Festtagen). Diesmal sind die Lesungsabschnitte aus dem vorderen Teil gewählt.

Dabei steigt die erste Hebräerbrief-Lesung bereits mittendrin ein. Sie ist Teil der beiden großen Einleitungskapitel des Schreibens, mit dem sich ein unbekannter Autor an Gemeindegruppen wendet, die eher dem Heiden- als dem Judenchristentum zugehören.  Denn ausdrücklich wird bei ihnen eine Hinkehr zum Glauben an den einen Gott betont (vgl. Hebräer 6,1: "wir wollen nicht noch einmal den Grund legen mit der Abkehr von toten Werken und dem Glauben an Gott"), der für Juden selbstverständlich war bzw. ist und nur für die polytheistisch verwurzelten Menschen aus den "Völkern" (sog. "Heiden") eine Neuorientierung bedeutete. Diese Heiden-Christinnen und -Christen sollen im Glauben gestärkt werden angesichts einer weiter heidnisch bestimmten Umwelt mit ihren eigenen Reizen und Verlockungen. Bei seinen ganzen Argumentationen, Predigten und Ermahnungen scheint der Verfasser sehr gebildete Kreise vor sich zu haben, denen die Welt des Alten Testaments eben nicht durch eigene jüdische Abstammung, sondern vermutlich durch Lektüre vertraut ist. Nur so erklären sich die zahlreichen alttestamentlichen Anspielungen bzw. Zitate des Hebräerbriefs.

Nachdem dieser in Kapitel 1 die Einzigkeit Jesu als "Gottessohn" herausgestellt hat und ihn von den "Göttersöhnen", nämlich den Engeln, abegesetzt hat, stellt Kapitel 2 die Menschheit dieses Gottessohnes heraus. Beides, seine Hoheit (Göttlichkeit) wie seine Niedrigkeit (Menschheit) sieht der Brief ganz im Dienste der "vielen Söhne" (Vers 10), das sind die Frauen wie Männer umfassenden Menschen, die - um des "Wortspiels", also der Nähe zum Begriff "Gottes-Sohn" willen -, "Söhne" genannt werden. Wurde der erste Gedanke (Jesu Gottessohnschaft) mit einer langen Kette von Psalmenzitaten (Schluss des ersten Kapitels) begründet, wird der Erniedrigungsgedanke bzw. die darin sich ausdrückende Wertschätzung der Menschheit Jesu durch Gott in Kapitel 2 mit einem Zitat aus Psalm 8 begründet, das den Ausführungen vorangestellt ist:

"6 ... Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, / oder des Menschen Sohn, dass du dich seiner annimmst? 7 Du hast ihn nur ein wenig unter die Engel erniedrigt, / mit Herrlichkeit und Ehre hast du ihn gekrönt, 8 alles hast du ihm unter seine Füße gelegt" (Hebräer 2,7 als Zitat von Psalm 8,5-7, wie er in der griechischen Übersetzung überliefert ist).

Die auch auf Hebräer 2,9-11 folgende Untermalung mit Psalmzitaten (Verse 12-13) als Entsprechung zu Kapitel 1 ist in der Lesung ausgelassen.

Das in Psalm 8 Gesagte bezieht der Hebräerbrief - anders als der Psalm selbst - nicht auf den Menschen allgemein, sondern auf Jesus. Das "unter die Füße gelegt" im Sinne des endgültigen Sieges Christi über die Welt ist für die angesprochene Gemeinde in ihrer angespannten Bedrängnissituation, die von Isolation und Prozessen geprägt ist, allerdings noch nicht erkennbar (Vers 8b: "Jetzt aber sehen wir noch nicht, dass ihm alles unterworfen ist"). So wahr und wirklich die Einsetzung Jesu Christi als "Allherr" über alle denkbaren Mächte im Glauben ist, so schwer ist sie doch angesichts der nach wie vor wirksamen irdischen Mächte im Inneren wahr- und anzunehmen. Deshalb konzentriert sich der Briefschreiber erst einmal auf die Auslegung der ersten Sätze des Psalmzitats.

 

Vers 9

Genau an dieser Stelle setzt die Lesung ein. An das Thema "Engel" aus dem ersten Kapitel anknüpfend, kann der Hebräerbrief sagen: Jesus, der als Sohn Gottes höher war und ist als alle Engel, wurde - zumindest für eine kurze Zeit ("ein wenig" ist im Griechischen [brachý] zeitlich zu verstehen) - weniger als sie: ein sterblicher, ja den Tod erleidender Mensch. Als solcher aber wurde er, weil er sich diesem Weg nicht entzogen hat, sondern ihn bis zum bitteren Ende gegangen ist, von Gott "mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt" (auferweckt und als Sieger über alle todbringenden Mächte eingesetzt). Der Weg der Schmach des Kreuzestodes, der aus römischer Sicht nur mit Verachtung angesehen werden kann, wird von Gott her mit größter Achtung bedacht und als "Königsweg" ("Krönung mit Ehre und Herrlichkeit"!) gewürdigt. Hier wird im Gewand der Psalmensprache, die in ihrer Anwendung gleichermaßen die Adressaten des Briefs stärkt und in Hochstimmung versetzt wie sie die römische Welt - die auch einmal "unterworfen werden wird" - als Scheinwelt entlarvt, in einem positiven Sinne Stimmung gemacht: Menschen, die sich selbst als erniedrigt erfahren, erhalten im erniedrigten und diese Erniedrigung aushaltenden Jesus (das griechische Wort für "leiden" bedeutet wörtlich "kosten, genießen") ein Vorbild.  Zugleich ist er aber in der Überwindung dieser Erniedrigung durch Gott selbst der "Anführer ihres Heils" (Vers 10 [s. dazu unter "Auslegung"]), auf den die Gemeinde ("wir" heißt es im Text) hoffnungsvoll schauen darf. Eine solche Solidaritäts- wie Hoffnungsgestalt in Einem vor Augen haben zu dürfen ist ein Geschenk ("Gnade"; von Wille ["gnädiger Wille"] sagt der griechische Wortlaut nichts!).

 

Vers 10

In einem nächsten Schritt bindet die Lesung das Gesagte in einen größeren Zusammenhang ein:

1. Die Hoffnungsgestalt Jesus wird zurückgebunden an Gott als Ursprung ("durch den") und Ziel ("für den") der Welt. Mitten auf dem Weg, der vom unvordenklichen Anfang zum nicht wirklich absehbaren Ende führt, das aber für jede/n Einzelnen mit dem Tod bereits erfahrbar wird, hat Jesus seinen Platz eingenommen, und zwar als der Gekreuzigte. Auffällig ist, dass der Hebräerbrief dieses Henkerholz ("Kreuz") nur einmal ausdrücklich nennt (Hebräer 12,2), dafür aber um so häufiger das zugehörige "Leiden" als Begriff wählt und auch ausführlicher thematisiert (Hebräer 5,8: "Obwohl er der Sohn war, hat er durch das, was er gelitten hat, den Gehorsam gelernt"). Das "Leiden" scheint auf den Punkt zu bringen, was Jesus mit den Briefadressaten verbindet!

2. Schon die Einleitung des Hebräerbriefs hatte festgehalten: "am Ende dieser Tage hat er [Gott] zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben von allem eingesetzt, durch den er auch die Welt erschaffen hat". Der Autor geht also - wie z. B. auch das Johannesevangelium (Johannes 1,1.14: "Im Anfang war das Wort ... Und das Wort ist Fleisch geworden") davon aus, dass Gott nie ohne Jesus zu denken ist, völlig unabhängig von seinen irdischen biographischen Lebensdaten. Und mit diesem "Sohn" hat Gott von allem Anbeginn an bereits alle Söhne und Töchter [zum Begriff "viele Söhne" s. unter "Auslegung"], d. h. die Menschen im Blick, um auch sie in die ungestörte, von allem Leid und aller Angst vor ihrer möglichen Beendigung befreiten Gemeinschaft mit sich ("Herrlichkeit") zu führen.

3. Die eigentliche Spitzenaussage des Verses ist aber die, dass die Erreichung der Herrlichkeit im Sinne der Gemeinschaft mit Gott für die Menschen nicht nur an "den Sohn"  gebunden ist - und z. B. nicht, wie der Hebräerbrief andernorts ausführlich darlegt, z. B. an die Darbringung von Opfern -, sondern an das "Leiden" dieses Sohns,  und dass dies auch noch "angemessen war"  (griechisch: éprepen). Natürlich kann man diese Aussage im Sinne eines grausamen Zynismus missverstehen und wird dann ein solches Gottesbild berechtigterweise ablehnen. Tatsächlich aber geht es um eine gewaltige Solidaritätsaussage: Gott hält sich aus nichts "fein heraus", und ganz besonders nicht aus allem Leiden dieser Welt, das zu "Schreien und Tränen" (Hebräer 5,7) führt, sondern geht im Sohn genau diesen Weg mit, "durchkostet" (s. oben zu Vers 9) ihn geradezu im Sinne der berühmten Gebetszeile Dietrich Bonhoeffers: "Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand ...". Der Hebräerbrief stellt nicht die spekulative Frage nach einem Gott, der alles Leid der Welt doch gleich hätte verhindern können, sondern geht von der Realität der Welt mit allem Leid, wie sie ist, aus, und sucht in ihr die hilfreiche Spur Gottes. Dieser Realität nicht ausgewichen zu sein, sondern sie im Letzten ausgehalten und durchlitten zu haben, war Jesu Weg, der "zum Ziel geführt hat" (das griechische Wort für "vollenden" [teleíōmai] enthält das Wort télos = "Ziel, Ende").

Vers 11

Der Schlussvers des äußerst dichten Lesungsabschnitt enthält eine weitere Zuspitzung, die so nur an dieser Stelle im gesamten Neuen Testament getroffen wird: Die Herkunft aus dem "Einen", mit dem wohl am ehesten der in Vers 10 genannte "Gott, für den und durch den das All ist" gemeint ist, macht den, durch dessen am Ende in Leben gewandelten Leidensweg (Unterwerfung der Todesmächte = Auferweckung) unbegrenzte "Herrlichkeit" eröffnet wurde (das meint "Heiligung"), und diejenigen, die in diese Herrlichkeitseröffnung mit  hineingenommen werden möchten, zu Geschwistern bzw. zu Kindern. Gott nennt nicht nur den Einen, sondern Alle "Sohn" bzw. "Söhne" (hier wird nicht geschlechtergerecht, sondern ausschließlich von Jesus her denkend formuliert, wohl wissend, dass die "Söhne" auch die Frauen umschließt, so wie Jesus nach biologischem Geschlecht zwar Mann war, aber in seinem Wirken Frauen und Männer gleichermaßen erfasst hat). In Entsprechung dazu nennt Jesus Alle "Brüder" (und Schwestern).

Diese "Definition" über die gemeinsame Herkunft übersteigt noch einmal die ethisch argumentierende Aussage Jesu im Matthäusevangelium: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" [s. unter "Kontext"].

Auslegung

"für alle" (Vers 9)  - "viele Söhne" (Vers 10)?

Was denn nun: "alle" oder "viele" - so darf man zu Recht fragen. Denn immerhin geht es um nicht mehr und nicht weniger als den endgültigen guten Ausgang des Lebens. Gilt er "allen" oder nur "vielen"?

Diese Frage stellt sich im Hebräerbrief etwas anders als beim Wort Jesu von der Selbsthingabe "für viele" (Markus 10,45: "Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele."). Während hier die Klärung der Bedeutung von "viele" über die alttestamentlichen Bezugstexte gesucht werden muss, die eher für eine Gesamtheit ("viele" im Sinne von "die vielen" = "alle") als eine Auswahl ("viele", aber eben nicht "alle") sprechen, stellt sich das Ganze im Hebräerbrief etwas anders dar.

Das Leiden und Sterben Jesu gilt prinzipiell Allen. Eine Unterscheidung zwischen Menschen im Allgemeinen und Glaubenden im Besonderen ist hier nicht auszumachen. Im Hintergrund steht dementsprechend auch "Gott, für den und durch den das All ist". Er ist es, der durch und an Jesus wirkt.

Allerdings vertritt der Autor des Hebräerbriefs hier keinen Automatismus. Gott zwingt nicht, sondern es gibt einen vom Menschen geforderten Anteil, der am Beginn des zweiten Kapitels so formuliert wird:

"1 Darum müssen wir umso aufmerksamer auf das achten, was wir gehört haben, damit wir nicht vom rechten Kurs abgetrieben werden. 2 Denn wenn schon das durch Engel verkündete Wort verpflichtend war und jede Übertretung und jeder Ungehorsam die gerechte Vergeltung fand, 3 wie sollen dann wir entrinnen, wenn wir uns um ein so erhabenes Heil nicht kümmern, das zuerst durch den Herrn verkündet und uns von denen, die es gehört hatten, bestätigt wurde?" (Hebräer 2,1-3).

Der Mensch kann Heilsangebote auch vernachlässigen und damit letztlich verspielen. Dabei vertritt der Hebräerbrief eine besonders harte Position, die sich so neutestamentlich nicht mehr findet: 

"4 Denn es ist unmöglich, jene, die einmal erleuchtet worden sind, die von der himmlischen Gabe genossen und Anteil am Heiligen Geist empfangen haben, 5 die das gute Wort Gottes und die Kräfte der kommenden Weltzeit gekostet haben, 6 dann aber abgefallen sind, erneut zur Umkehr zu bringen ..." (Hebräer 6,4-6).

Diese Position, die mit Getauften ("Erleuchteten"), rechnet, die vom Glauben wieder abfallen und damit unrettbar verloren sind, muss zwangsläufig unterscheiden zwischen "allen" von Gott für das Heil Bestimmten und den "vielen", die diesem Heilsangebot wirklich folgen. Von ihnen spricht Vers 10.

 

"Urheber ihres Heils" (Vers 10)

Es ist kein Zufall, dass gerade in diesem Vers, der von den "vielen Söhnen" spricht, auch der griechische Begriff archēgós begegnet, der zwar auch "Urheber", zunächst aber doch eher "Anführer" (durchaus auch in einem militärischen Sinne) meint. Das bedeutet: Jesus wird verstanden als der, der als "Leidtragender" Gottes [zur Bedeutung des Leidens Jesu s. unter "Überblick"] auf dem Weg in die Heilssphäre Gottes ("Herrlichkeit") vorangeht. Christinnen und Christen sind dann seine Gefolgsleute, die sich aber auch aus dieser Gefolgschaft verabschieden können (vgl. Hebräer 10,25: "Lasst uns nicht unseren Zusammenkünften fernbleiben, wie es einigen zur Gewohnheit geworden ist, ..."). Die Unterscheidung zwischen "allen" und "vielen" ist aber nicht Aufgabe von Menschen auf Erden; sondern wer wohin gehört, bleibt Gott allein überlassen. Bis dahin heißt es eher: wachsen lassen.

Der Titel "Anführer zum Heil" ist auch deshalb besonders spannend, weil er im an vielen Stellen sehr kultisch argumentierenden Hebräerbrief (der Hohepriester Melchisedek, das kultische Handeln des Hohepriesters ganz allgemein beim jüdischen Versöhnungsfest, das für den Opferkult ausgestattete Zelt der Begegnung in der Wüstenzeit Israels spielen eine große Rolle) einen gänzlich unkultischen Hintergrund hat. So erweitert der Hebräerbrief das Spektrum der Bildsprache für das Heilswirken  Gottes in Jesus und regt sicher auch zu weiterer Bildsuche an. Denn anders als in Bildern können wir von Gott nicht reden.

Kunst etc.

Schande. Grammatikblatt CC BY-SA 4.0
Schande. Grammatikblatt CC BY-SA 4.0

"Jesus, ihn sehen wir um seines Todesleidens willen mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt" (Vers 9 der Lesung)

Der Hebräerbrief mutet schon sehr viel zu: Ein Ende, das von außen betrachtet nur eines bedeuten konnte, nämlich ehrloseste Schande, verbindet sich in Jesus mit dem genauen Gegenteil: Herrlichkeit und Ehre. Menschliche Entwürdigung und göttliche "Verköniglichung" fallen in eins, zur Hoffnung und Aussicht für alle, die von diesem Jesus und von Gott als dem "Krönenden" her ihre eigene Würde erkennen können.