Lesejahr B: 2023/2024

1. Lesung (Dtn 6,2-6)

2damit du dort den HERRN, deinen Gott, fürchtest, indem du alle seine Satzungen und Gebote, auf die ich dich verpflichte, dein ganzes Leben lang bewahrst, du, dein Sohn und dein Enkel, und damit du lange lebst. 3Deshalb sollst du hören, Israel, und sollst darauf achten, sie zu halten, damit es dir gut geht und ihr so unermesslich zahlreich werdet, wie es der HERR, der Gott deiner Väter, dir zugesagt hat: ein Land, wo Milch und Honig fließen!

4Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig.

5Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. 6Und diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen.

Überblick

Ein Gott, ein Glaube und eine das gesamte Leben betreffende Konsequenz.

 

1. Verortung im Buch

In der jüdischen Tradition wird Deuteronomium 6,4-9, das sogenannte Schma Jisrael als eine Texteinheit verstanden und liturgisch verwendet. Dieser Text knüpft eng an die im vorherigen Kapitel wiederholten Zehn Gebote an. Die motivierende Begründung für das Elterngebot, das 4. Gebot wird in der Einleitung des Schma Jisrael in den Versen 2-3 aufgenommen. Das in Vers 4 erkennende Bekenntnis liest sich wie eine Antwort auf den Beginn des Dekalogs. Dort sagt Gott, in dem nach jüdischer Zählung ersten Gebot: „Ich bin der HERR, dein Gott“; nun in Deuteronomium 6,4 ruft Mose: „Der HERR [ist] unser Gott“. Im Endeffekt ist das Bekenntnis in Deuteronomium 6,4 die Antwort auf den gesamten Beginn des Dekalogs (Fremdgötter-, Bilder- und Namensmissbrauchsverbot). Und dieses Bekenntnis ist die Grundlage für die Einhaltung aller im Buch Deuteronomium überlieferten Gebote und Gesetze Gottes. Die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk hängt davon ab, ob dieses Bekenntnis von den Gläubigen als Schlüssel zum Leben anerkannt und gelebt wird. Die in Deuteronomium 6,5 geforderte Konsequenz steht auf der Probe: „…der HERR, euer Gott, prüft euch, um zu erkennen, ob ihr das Volk seid, das den HERRN, seinen Gott, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele liebt. Ihr sollt dem HERRN, eurem Gott, nachfolgen, ihn sollt ihr fürchten, seine Gebote sollt ihr bewahren, auf seine Stimme sollt ihr hören, ihm sollt ihr dienen, an ihm sollt ihr euch festhalten.“ (Deuteronomium 13,4-5).

 

2. Aufbau

Bereits in Vers 3 wird Israel das „Hören“ eingeschärft – im Zentrum stehen hier die Gesetze Gottes, die eingehalten werden sollen. In Vers 4 folgt dann die Aufforderung zum Hören – und es erklingt nicht zuerst ein Gebot, sondern ein Bekenntnis, dass die Grundlage für die Einhaltung aller Gesetze ist. Aus diesem Bekenntnis ergibt sich eine allumfassende Konsequenz, wie die dreifache Wiederholung des Wortes „ganz“ in Vers 5 anzeigt. 

 

3. Erklärung einzelner Verse 

Verse 2-3: In der revidierten Einheitsübersetzung ist das Wort „dort“ eine Hinzufügung, die sich nicht im hebräischen Text befindet. Diese Einfügung verdeutlich den Kontext der Aussage über die Gottesfurcht. Mose belehrt das Volk über die Gesetze Gottes und die Bedeutung ihrer Einhaltung für das Leben im Verheißenen Land: „Und das ist das Gebot, das sind die Gesetze und Rechtsentscheide, die ich euch im Auftrag des HERRN, eures Gottes, lehren soll und die ihr halten sollt in dem Land, in das ihr hinüberzieht, um es in Besitz zu nehmen“. Gottesfurcht im Land ist die Einhaltung der Gesetze Gottes „dort“. Sie ist die Grundlage für die Zukunft Israels als Volk in Kanaan – sowie auch die Grundlage für ein langes Leben. Auffallend an dieser individuellen Perspektive ist, dass damit die exakt selbe Motivation wie im sogenannten Elterngebot des Dekalogs gegeben wird: „damit du lange lebst und es dir gut geht in dem Land, das der HERR dir gibt“ (Deuteronomium 5,16). Die im 4. Gebot zudem erklingende zweite Motivation, steht dann wörtlich hier in Vers 3. Durch die übertriebene Wendung „ein Land, wo Milch und Honig fließen“ wird angezeigt, dass – ohne Zweifel – in diesem verheißenen Land ein gutes Leben möglich ist. Die Zusage an die Erzeltern, dass deren Nachkommen unermesslich zahlreich werden (Genesis 16,10 u.ö.) – was indirekt auch die andauernde Herrschaft im verheißenen Land bedeutet – wird nun in ihrer Erfüllung abhängig vom Einhalten der Gesetzes Gottes gemacht. 

Vers 4: Dieser Vers ist eine Bekenntnisformel, aus der sich in den folgenden Verse 5-9 Konsequenzen ergeben. Da es sich im Hebräischen um einen oder zwei Nominalsätze handelt, d.h. Sätze ohne Verben, gibt es verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten – auch ist es möglich, das letzte Wort אֶחָד, (gesprochen: ächad, in der revidierten Einheitsübersetzung mit „einzig“ wiedergegeben) verschiedentlich zu übersetzen: (1.) JHWH, unser Gott, JHWH ist einzig; (2.) JHWH, unser Gott, JHWH ist einer; (3.) JHWH ist unser Gott, JHWH ist einer/einzig; etc. Unstrittig ist, dass der erste Teil des Verses eine Feststellung ist: Israel bekennt sich zu JHWH als Gott des Volkes. Gott stellt in Deuteronomium 5,6, am Anfang des Dekalogs, fest: „Ich bin Dein Gott“; und nun erklingt sozusagen die Antwort: „JHWH ist unser Gott“. Bereits das erste Gebot, verbietet die Anbetung anderer Götter (was indirekt die Existenz anderer Götter voraussetzt): „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.“ (Deuteronomium 5,7). Dann ist die Aussage in Deuteronomium 6,4 vielleicht, dass Israel nur „einen“ Gott verehren darf und dies JHWH ist. Eindeutig monotheistisch wird die Aussage, wenn man von Deuteronomium 4,35 herkommt und diesen Vers als Leseschlüssel liest: „Der HERR ist der Gott, kein anderer ist außer ihm.“

Vers 5: Dem einen / einzigen Gott soll die ungeteilte Loyalität gelten (3x „ganz). Die hier ausgesprochene Forderung klingt an die neuassyrischen Loyalitätseide an. In ihnen bedeutet „Liebe“ nicht anderes als Loyalität und Bundespflicht. Für diese (gegenseitige) Liebe soll der Glaubende sein ganzes Leben – das ist die eigentliche Bedeutung des hebräischen Wortes נֶפֶשׁ (gesprochen: nefesch), das sich hinter der Übersetzung „Seele“ verbirgt – und seine gesamte Kraft einsetzen. Im Endeffekt soll der Gläubige mit seiner ganzen Person, bzw. seinem Personenkern, d.h. seinem Herz, Gott lieben.

Vers 6: Mit „diesen Worten“ ist der Bekenntnissatz in Vers 4 gemeint und die daraus sich ergebende Forderung in Vers 5. Diese Worte sollen in Herz geschrieben werden, und somit wie in Vers 5 gefordert, das Leben des Gläubigen bestimmen. 

Auslegung

Der Prophet Sacharja prophezeit einen apokalyptischen Kampf um Jerusalem, an dessen Ende JHWH als Sieger Herrscher über die gesamte Welt sein wird: „Dann wird der HERR König sein über die ganze Erde. An jenem Tag wird der HERR einzig sein und sein Name einzig.“ (Sacharja 14,9).  In seinen Worten nimmt er einen zentralen Glaubenssatz Moses aus dem Buch Deuteronomium auf, der zum Glaubensdogma des Judentums und dem nachfolgend des Christentums geworden ist: „Höre, Israel, JHWH ist unser Gott, JHWH ist einzig.“ (Deuteronomium 6,4). Hier ist keine Rede mehr davon, dass man keinen anderen Göttern nachfolgen soll. Israel hat einen Gott: das ist JHWH.

Das Bekenntnis zu dem einen Gott durchdringt das ganze Leben. Sein Wille wird zur Lebensweise. Das Volk wird gar dazu verpflichtet alle seine Gesetze zu halten, bevor Sie ihm im Buch Deuteronomium ab Kapitel 12 nochmals, neu verkündet werden. Die exklusive Beziehung des Volkes bedeutet die absolute Abhängigkeit. Sie ist eine Liebe, die keinen Platz für etwas anderes mehr zulässt: „Und du wirst JHWH, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deinem ganzen Leben und mit deiner ganzen Kraft.“ (Deuteronomium 6,5).

Kunst etc.

Juden und Jüdinnen halten, wenn sie Deuteronomium 6,4 rezitieren, die rechte Hand vor ihre geschlossenen Augen, um sich ganz auf den Inhalt der Worte zu konzentrieren und sie zu verinnerlichen.

Fotografiert von „B Negin“, verfügbar auf Flickr. Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0.
Fotografiert von „B Negin“, verfügbar auf Flickr. Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0.