Lesejahr B: 2023/2024

Evangelium (Mk 4,26-34)

26Er sagte: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker sät;

27dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst und der Mann weiß nicht, wie.

28Die Erde bringt von selbst ihre Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre.

29Sobald aber die Frucht reif ist, legt er die Sichel an; denn die Zeit der Ernte ist da.

30Er sagte: Womit sollen wir das Reich Gottes vergleichen, mit welchem Gleichnis sollen wir es beschreiben?

31Es gleicht einem Senfkorn. Dieses ist das kleinste von allen Samenkörnern, die man in die Erde sät.

32Ist es aber gesät, dann geht es auf und wird größer als alle anderen Gewächse und treibt große Zweige, sodass in seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können.

33Durch viele solche Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort, so wie sie es aufnehmen konnten.

34Er redete nur in Gleichnissen zu ihnen; seinen Jüngern aber erklärte er alles, wenn er mit ihnen allein war.

Überblick

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte. Die Gleichnisse Jesu und das Geheimnis des Himmelreichs

1. Verortung im Evangelium
Der Evangelist Markus unternimmt es als erster eine Jesuserzählung zu schreiben und die zuvor meist mündliche Überlieferung zu einer fortlaufenden Geschichte zusammenzustellen. Das Markusevangelium (Mk) entsteht kurz nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n.Chr.) im Jüdischen Krieg. Der Verfasser ist unbekannt, auch wenn es innerhalb der kirchlichen Tradition eine Verbindung zu Markus einem Judenchristen hellenistischer Herkunft gibt. Dieser ist einerseits Paulusbegleiter (Apostelgeschichte 12,12) und andererseits Vertrauter des Petrus (1. Petrusbrief 5,13).
Das Markusevangelium beginnt in der Wüste (Mk 1,1-13) mit dem Auftreten des Täufers und der Taufe Jesu. Dann schildert es den Beginn der Verkündigung Jesu in Galiläa (Mk 1,14-8,26) und den Weg nach Jerusalem (Mk 8,27-10,52) und endet mit den Ereignissen in Jerusalem (Mk 11,1-16,20). Das ursprüngliche Ende des Evangeliums war die Begegnung der Frauen mit dem Engel am leeren Grab (Mk 16,8). Die Erweiterung um die Erscheinungserzählungen sind später hinzugefügt worden (Mk 16,9-20).
Das 4. Kapitel des Markusevangeliums ist geprägt von Gleichnissen Jesu. Mit Hilfe von Bildworten und Vergleichen eröffnet er der Menge einen Blick auf das Geheimnis des Reich Gottes. Der Abschnitt Mk 4,26-34 bildet den Abschluss dieser Redeform, in Mk 4,35 schließt sich die Erzählung vom Sturm auf dem See an.

 

2. Aufbau
Drei in sich geschlossene Abschnitte werden im Evangeliumstext miteinander verbunden. Das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Verse 26-29), das Gleichnis vom Senfkorn (Verse 30-32) und ein abschließender Kommentar zur gesamten Gleichnisrede (Verse 33-34).

 

 

3. Erklärung einzelner Verse

Verse 26-29: Das Gleichnis wird mit einem Hinweis eingeleitet: Vergleichspunkt des Bildwortes ist das Reich Gottes. Jesus erzählt dann eine allgemeine Erfahrung: Ein Mensch sät auf seinem Acker aus, die Tage ziehen vorbei und der Same keimt und wächst. Die Aktivität des Wachstums geht ganz von der Erde aus, der Mensch „weiß nicht“ wie es geschieht. Da das „von selbst“ des natürlichen Geschehens so deutlich betont wird, rückt die Ausgangsaktivität des Menschen (säen) ganz in den Hintergrund. Dies wird verstärkt durch den Nacht-Tag-Rhythmus von Schlafen und Aufstehen. Der Mensch versieht seine Lebensroutine während das Korn ganz von selbst wächst. Es geht im Vergleich zum Reich Gottes nicht nur um das „Wunder des Wachstums“, das in Vers 28 in Einzelschritten abgebildet wird, sondern vor allem um die Selbstständigkeit des Wachsens. Das Reich Gottes wächst so selbstverständlich wie ein in den Boden gesätes Korn zur Ähre wird.
Vers 29 verweist auf Joel 4,13 zurück, dort wird ebenfalls vom Anlegen der Sichel zur Zeit der Ernte gesprochen. Die Gerichtsthematik, die hier anklingt, bleibt in ihren existentiellen und bedrohlichen Dimensionen im Hintergrund. Wichtig ist für dieses Bild hier nur: Jedes Wachstum führt zu einer Ernte und damit zu einer Entscheidung bzw. Unterscheidung

 

Verse 30-32: Wieder ist das Reich Gottes der Vergleichspunkt des Gleichnisses. Im Unterschied zu den Versen 26-29 tritt hier jedes menschliche Tun in den Hintergrund. Das Bild lebt von dem Vergleich des kleinen Korns und des Gewächses, das größer wird „als alle anderen Gewächse“. In Vers 32 wird der Grundgedanke des vorangegangenen Gleichnisses aufgenommen, indem auch hier gesagt wird, dass der Samen, wenn er einmal gesät ist, aufgeht und wächst und kein weiteres Zutun notwendig scheint. Zudem nimmt der Vers Bezug zu Ezechiel 17,22-24 (vgl. die erste Lesung dieses Sonntags). Dort ist von dem zarten Zweig die Rede, der von Gott selbst eingepflanzt zu einem prächtigen Baum wird, in dem „alle Vögel“ und „alles, was Flügel hat“ wohnt. Wenn hier der Kontrast nicht zwischen Zweig und Baum, sondern zwischen Samenkorn und großer Staude gezeichnet wird, überbietet das Gleichnis vom Senfkorn das Bild aus dem Buch Ezechiel bewusst. Die Unscheinbarkeit des Beginns und die endgültige Größe des Gottesreichs sollen möglichst kraftvoll und klar zum Ausdruck kommen.

 

Verse 33-34: Vers 33 rundet den in Mk 4,1-2 begonnenen Abschnitt ab. Mit dem Hinweis, dass Jesus „das Wort, so wie sie es aufnehmen konnten“ verkündigt, wird der Sinn der gesamten Gleichnisrede erschlossen. Es geht um eine Rede vom Reich Gottes, die sich an der Verständniswelt der Menschen orientiert. Vers 34 bekräftigt das und weitet zugleich den Blick darauf, dass Jesus den Jüngern gegenüber ausführlicher über die Thematik des Gottesreiches spricht. Die Unterweisung im „kleinen Kreis“ zielt nicht gegen die Menge, sondern nimmt den spezifischen Auftrag der Jünger in den Blick (s. Auslegung).

Auslegung

Wie kann ich von etwas sprechen, was immer geheimnisvoll ist, was alle Vorstellungskraft sprengt, was sichtbar und unsichtbar zugleich ist, was bisher nur ich kenne? Ob Jesus sich diese Fragen gestellt hat oder von sich aus eine bildhafte Sprache bevorzugte, wissen wir nicht. Die biblische Tradition bezeugt aber einhellig, dass ein Reden in Bildern zur authentischen Verkündigung Jesu dazugehörte. Für ihn sind Gleichnisse ein Weg, das Geheimnis des Gottesreiches für die Menschen verstehbar zu machen. Die Tatsache, dass Jesus dabei zu der Menge in Bildern, zu den Jüngern aber „erklärend“ spricht, sagt weder etwas über das intellektuelle Niveau der Menge aus, noch soll damit eine Privilegierung der Jünger ausgedrückt werden.
Jesus spricht zu der Menge mithilfe von Beispielen des täglichen Lebens oder der Alltagserfahrung: Aus einem kleinen und unscheinbaren Saatkorn wächst eine große Staude. Dem Wachstum eines Korns kann zwar zugeschaut, die genauen Zusammenhänge sind den Menschen seiner Zeit aber ein Rätsel – und wir entschlüsseln immer noch Zusammenhänge und Ursachen von Wachsen und Gedeihen in der Natur. Jesus setzt bei den Erfahrungen der Menschen an. Er versucht mit ihrer Hilfe, dem Verborgenen und Sichtbaren des Gottesreiches auf die Spur zu kommen. Die Verkündigung Jesu setzt ein mit den Worten: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.“ (Mk 1,15). Er, der von Gott in die Welt gesandte Sohn, weiß das, er sieht es und er kennt die Fülle und Herrlichkeit des Gottesreiches, weil es der Wirkbereich des Vaters ist. Die Menschen, zu denen er gesandt ist, haben dieses exklusive Wissen des Sohnes nicht. Das Reich Gottes ist für sie eine Verheißung, die in weiter Ferne ist und vielleicht sogar nur mit dem Leben nach dem Tod verbunden ist. Das Reich Gottes als der Ort, an dem Gottes Willen Wirklichkeit wird, wo das Leben so ist, wie es Gott einst in der Schöpfung angelegt hat, es ist für die Menschen, denen Jesus begegnet im wahrsten Sinne des Wortes Theorie. Mit der Menschwerdung Jesu und seinem Wirken kann sich das grundlegend ändern: Denn Gottes Verheißung ist plötzlich mitten unter ihnen und in Jesu Wirken wird das Reich Gottes erfahrbar. Um das jedoch zu erkennen, um wachsam zu sein, für die unscheinbare und unaufhaltsame Ausbreitung des Gottesreiches, um die Wunder und Worte Jesu als Zeichen des Anbruchs dieser Wirklichkeit mitten in der Welt zu begreifen, braucht es eine Verstehenshilfe. Es braucht eine Übersetzung der „grauen Theorie“ und vagen Vorstellung, die die Menschen mitbringen, in Alltagserfahrungen und Deutungsmuster. Die Menschen benötigen eine Sehhilfe, um die Anzeichen des Gottesreichs sehen zu können. Genau deshalb spricht Jesus zu ihnen in Gleichnissen. Er gleicht damit die Lücke aus zwischen dem Wissen, das nur er besitzt, und der Erfahrung, die die Menschen mit ihm machen können.

Wenn die Jünger nun zusätzlich „alles erklärt“ bekommen, werden sie nicht bevorzugt oder für klüger gehalten als die Menge. Auch sie können die Lücke zwischen Wissen und Erfahrung nicht selbst schließen, sie brauchen dazu das Mitleben und Mitgehen, die Gemeinschaft mit Jesus. Für die Jünger aber geht es nicht nur darum, dass sie verstehen, sondern dass sie auch anderen verständlich machen können, was es mit dem Gottes Reich auf sich hat. In Mk 3,13 wählt er die Zwölf aus, damit sie „mit ihm seien und damit er sie aussende, zu verkünden“. Die Apostel, aber auch alle anderen Jüngerinnen und Jünger, die Jesus folgten, sind aufgefordert, selbst zu Zeugen und Dolmetschern des Evangeliums zu werden und den Menschen das Gottesreich nahe zu bringen. Jesus „erklärt“ den Jüngern also den Hintergrund seiner Gleichnisse, damit die Jünger selbst Bilder finden – in ihrer Sprache, ihrer Zeit und bezugnehmend auf die Lebenswelt der Menschen – das Reich Gottes verstehbar zu machen.

Kunst etc.

Gleichnis vom Senfkorn, Stich von Jan Luyken aus der Bowyer Bible, einer Bibelausgabe des 19. Jahrhunderts mit über 7000 Stichen nach Kunstwerken verschiedener Epochen.