Lesejahr B: 2023/2024

1. Lesung (Jes 63,16b-17.19b; 64,3-7)

16bDu, HERR, bist unser Vater, / Unser Erlöser von jeher ist dein Name.

17Warum lässt du uns, HERR, von deinen Wegen abirren / und machst unser Herz hart, / sodass wir dich nicht fürchten?

Kehre zurück um deiner Knechte willen, / um der Stämme willen, die dein Erbbesitz sind!

[...]

Hättest du doch den Himmel zerrissen und wärest herabgestiegen, / sodass die Berge vor dir erzitterten,

[...]

3Seit Urzeiten hat man nicht vernommen, / hat man nicht gehört; kein Auge hat je einen Gott außer dir gesehen, / der an dem handelt, der auf ihn harrt. 4Du kamst dem entgegen, / der freudig Gerechtigkeit übt, / denen, die auf deinen Wegen an dich denken.

Siehe, du warst zornig / und wir sündigten; / bleiben wir künftig auf ihnen, werden wir gerettet werden. 5Wie ein Unreiner sind wir alle geworden, / unsere ganze Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Kleid. Wie Laub sind wir alle verwelkt, / unsere Schuld trägt uns fort wie der Wind. 6Niemand ruft deinen Namen an, / keiner rafft sich dazu auf, festzuhalten an dir. Denn du hast dein Angesicht vor uns verborgen / und hast uns zergehen lassen in der Gewalt unserer Schuld.

7Doch nun, HERR, du bist unser Vater. / Wir sind der Ton und du bist unser Töpfer, / wir alle sind das Werk deiner Hände.

Überblick

Gott wird als Vater angeklagt. Ist er verantwortlich, haftbar für die Sünden seines Volkes?

 

1. Verortung im Buch

Am Ende des Buches Jesaja, vor allem ab Jesaja 60, steht Zion im Mittelpunkt. Gott wird sich an der Stadt endgültig verherrlichen und seine Verheißungen erfüllen. Dazu gehört auch die Verheißung einer inneren Erneuerung der Zionsgemeinde. Der Stadt Gottes wird Gerechtigkeit widerfahren – und im Angesicht dessen erklingt in Jesaja 63,7-64,11 ein Volksklagelied. In diesem wird des Erbarmens Gottes erinnert und auch eingeklagt. Dieses Gebet steht mitten im Spannungsfeld zwischen dem Ideal der Verheißung und der Realität der Erfahrung.  Im vorherigen Kapitel sagt der Prophet zu den Gläubigen schon: „Lasst ihm [= Gott] keine Ruhe, bis er Jerusalem festigt und bis er es einsetzt als Ruhm auf Erden!“ (Jesaja 62,7). Nun steht das Bekenntnis zu Gott als Vater im Mittelpunkt, worauf Gott antwortet, dass er wie eine Mutter zu seinem Volk ist (Jesaja 65,1-66,24).

 

2. Aufbau

Der Prophet ergreift im Namen des Volkes das Wort und betet, ja klagt zu Gott. Diese Klage ist perspektivisch auf erhofftes Heil nach der Zerstörung Jerusalems 587 v. Chr. und dem folgenden Exil gerichtet. In Jesaja 63,8-14 zeigt der Blick zurück in die Heilsgeschichte die heilvollen Taten Gottes. Auf dieser Grundlage erklingt in Jesaja 63,15-64,11 das eigentliche Gebet. Es beginnt mit einer Bitte um Zuwendung: „Blick vom Himmel herab und sieh her von deiner heiligen, prachtvollen Wohnung! Wo ist dein leidenschaftlicher Eifer und deine Macht? Dein großes Mitgefühl und dein Erbarmen - sie bleiben mir versagt!“. Und es endet in einer Frage: „Kannst du dich bei alldem zurückhalten, HERR, kannst du schweigen und uns so sehr erniedrigen?“ 

Die Auswahl der Verse für die Sonntagslesung legt den Fokus auf die Bitte um die Zuwendung Gottes, die in eine Klage, ja Anklage mündet (Jesaja 63,16-17) und der Bitte um Gottes direktes Eingreifen in die Weltgeschichte (Vers 19b). Die Lesung endet dann mit dem Sündenbekenntnis und Zuversicht (Jesaja 64,3-7). So beginnt und endet die Lesung mit dem Bekenntnis zu Gott als Vater: „Du, HERR, bist unser Vater,“ …. „Doch nun, HERR, du bist unser Vater“.

 

3. Erklärung einzelner Aspekte

Vers 16b: Um die Anrede Gottes als „Vater“, die im Alten Testament noch nicht selbstverständlich ist, zu verstehen, ist ein Blick auf den Anfang des Verses hilfreich: „Du bist doch unser Vater! Abraham weiß nichts von uns, Israel kennt uns nicht.“ Die menschlichen Vätergestalten des Volkes – die großen Verheißungsträger – sind wie alle Menschen machtlos. Vergangenheit alleine rettet nicht, sondern die besondere Beziehung zu Gott. Abraham und Israel hatten sie als Personen erfahren – und nun bittet das Volk darum. Und es tut dies aus der zuvor in Vers 8 ausgesprochenen Gewissheit: „Er [= Gott] sagte: Gewiss, sie sind mein Volk, Kinder, die nicht treulos handeln. So wurde er ihnen zum Retter.“ Anstatt mit „Kinder“ müsste man hier eigentlich „Söhne (inklusive Töchter)“ übersetzen, denn schon hier geht es um das spirituelle Vater-Kind-Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk. Und damit kein Missverständnis entsteht wird direkt geklärt, was die Vaterschaft Gottes bedeutet: Gott handelt dauernd, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als beschützender Retter seiner Kinder.

Vers 17: Dem Bekenntnis folgt der Kontrast und der Ein-Gott-Glaube wird sozusagen auf die Spitze getrieben. Gott wird als Initiator der Sünde, die Israel ins Exil geführt hat, angeklagt. Es war der Auftrag Gottes an den Propheten das Volk zur Verstockung zu führen: „Da sagte er: Geh und sag diesem Volk: Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen. Sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen. Verfette das Herz dieses Volkes, mach schwer seine Ohren, verkleb seine Augen, damit es mit seinen Augen nicht sieht, mit seinen Ohren nicht hört, damit sein Herz nicht zur Einsicht kommt und es sich nicht bekehrt und sich so Heilung verschafft.“ (Jesaja 6,9-10). Im Motiv der Verstockung klingt zugleich auch die Plagenerzählung und der Exodus aus Ägypten an: Gott verstockte auch dort ein Herz, das Herz des Pharaos. Um dieses Motiv jedoch hier im Buch Jesaja zu verstehen, ist es wichtig, die damit verbundene Frage zu verstehen. Es wird nicht nach dem Warum für die Verstockung gefragt, sondern zielgerichtet nach dem Wozu. In die Zukunft blickend verlangt der Prophet im Namen des Volkes nun nicht die Umkehr der Menschen, sondern die Umkehr Gottes. Er möge die herrschende Ferne zu Gott wieder in göttliche Nähe wandeln. Gott soll sich wieder um diejenigen kümmern, für die er verantwortlich ist – sein Volk, sein Erbbesitz. 

Vers 19b: Das Erzittern der Berge ist ein Theophaniemotiv. Die Trennung zwischen dem Himmel und der Erde soll aufgehoben werden und die Gegenwart Gottes soll die Welt erschüttern. Diese indirekte Bitte ist das Zentrum des gesamten Volksklagelieds. Statt der ausgesprochenen Verheißungen wird eine direkte Theophanie erhofft.

Vers 3: Gottes Handeln, auch das erbetene, ist analogielos in der Geschichte. Hier zeigt sich die tief in der Heilsgeschichte verankerte Hoffnung Israels. Wer auf den Gott Israels hofft, wird nicht enttäuscht – denn es gibt keinen Gott außer JHWH.

Vers 4: Der Beginn dieses Verses ist doppeldeutig und kann auf den vorherigen Vers bezogen werden, oder den Beginn der folgenden Thematik markieren. Es gibt zwei Übersetzungmöglichkeiten: 1. „Du begegnest dem, der sich freut und das Rechte tut …“; oder 2. „Du trafst [im Sinne von schlägst] den, der sich freut und das Rechte tut.“. Je nachdem, wie man übersetzt, tritt einem ein barmherziger oder grauenvoller Gott entgegen. Auch die Forsetzung des Verses ist schwierig zu übersetzen. Entweder: „Ja, du warst zornig, denn wir haben gesündigt“. Oder: „Ja, du warst zornig, sodass wir gesündigt haben.“ War die Sünde des Volkes nun eine Folge des Zorn Gottes oder vice versa? Auch wenn diese Frage offenbleiben kann, gilt in der Gegenwart die Aufforderung auf Gottes Wegen zu wandeln.

Verse 5-6: Unreinheit bedeutet die kultische Unmöglichkeit Kontakt zu Gott aufzunehmen. Das Motiv des verwelkten Laubs steht für den Tod, der im damaligen Denken eine endgültige Trennung zwischen Gott und dem Menschen bedeutet. Es wird klargestellt, dass die Schuld des Volkes die Beziehung zu Gott verhindert und dies hat zu einem fatalen Zustand geführt: Die Menschen wenden sich Gott nicht mehr zu – und Gott hat sich von den Menschen abgewendet.

Vers 7: Der in den Versen 5-6 beschriebenen zweiseitig zerbrochenen Beziehung wird die Anrufung Gottes als Vater entgegengehalten. Gott ist der Vater und Schöpfer des Menschen. Das Motiv des Töpferns ist weitverbreitet im Alten Orient, um die Schöpfung des Menschen zu beschreiben. Es verdeutlicht nicht nur, dass der Mensch seinen Ursprung in Gott hat, sondern auch, dass das „Wie“ des Menschen als Werk Gottes zu verstehen ist.

Auslegung

Wenn man sich in tiefer Vertrautheit Gott zuwendet und ihn aus dem Innersten heraus als „Vater“ anredet, versteckt sich hinter diesem Wort bei jedem Beter und jeder Beterin ein großes Geflecht von Gedanken und Erinnerungen. Beziehungen zu dem eigenen Vater können von kalter Distanz oder inniger Nähe geprägt sein. Väter können für den eigenen Erfolg oder für die eigenen Fehler verantwortlich gemacht werden. Im Buch des Propheten Jesaja sind diese Extreme im Bild Gottes als Vater vereint. Die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier und das Exil lässt die Beter ihre kindliche Angewiesenheit auf Gott erkennen – und zugleich mahnen sie ihn: als Vater trägt er auch Verantwortung. Egal wie zerrüttet die Beziehung zwischen einem Vater und seiner Tochter oder seinem Sohn sein mag, die Verbundenheit ist unauflöslich. 

Die Anrede „Vater“, an Gott gerichtet, kann sowohl eine Zuwendung als auch eine Forderung sein. Im Bewusstsein gesündigt zu haben, wenden sich die Israeliten zu Gott und bitten um seine Barmherzigkeit. Zugleich wird er zur Umkehr aufgerufen. Er soll der liebende Vater sein, der sich fürsorglich kümmert; er, der diesem Ideal aus der Perspektive der Israeliten in der Vergangenheit nicht entsprochen hat. Ganz bewusst hinterfragen sie, selbst sich ihrer eigenen Schuld bewusst, sein Handeln: „Wozu lässt du, JHWH, uns abirren von deinen Wegen, du verhärtest unser Herz, dass wir dich nicht fürchten. Kehre um, um deiner Knechte willen, den Stämmen deines Erbbesitzes.“ (Jesaja 63,17) Wozu soll es gut sein, dass Gott sie nicht behütet hat? Gott, der sein Volk aus Ägypten geführt hat zur Freiheit in der Eigenstaatlichkeit, hat durch seine Vernachlässigung seinen eigenen Tempel zerstört und sein eigenes Heilswerk zunichtegemacht. 

Die Schuld dafür liegt nicht bei Gott, sondern bei den Israeliten. Sie haben sich von ihrem Vater abgewendet, sind eigene Wege gegangen, die sie am Ende wieder als verlorener Sohn zum barmherzigen Vater zurückführen. Gott als Vater hört nicht auf, Vater zu sein: „Und nun, JHWH, unser Vater bist du. Wir sind das Material und du bist der Hersteller. Die Tat deiner Hand sind wir alle. JHWH, zürne nicht zu sehr und erinnere unsere Schuld nicht für immer. Sieh, blick doch her, wir alle sind dein Volk.“ (Jesaja 64,7-8). Kann ein Vater unberührt zusehen, wenn sein Kind leidet? Ja, er kann es, aber darf er es? Wer sich zu Gott bekennt und ihn als Vater anredet, der hofft, dass er seine Barmherzigkeit walten lässt, trotz der eigenen Fehler: Vater, führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von allem Bösen.

Kunst etc.

Gott der Vater – dies ist in der christlich-geprägten Kunst ein häufig dargestelltes Motiv: ein alter Mann mit weißem Bart, oft mit einem gütigen Gesichtsausdruck. Auf einer Zeichnung von Rembrandt van Rijn sieht man ihn gar, wie er von Engeln gestützt werden muss. Doch in Jesaja 63,7-64,11 ist Gott der Vater zugleich der mächtige Erlöser als auch der, der die Herzen seines Volkes verhärtet. Gottesbilder sind niemals eindimensional. Sein Erbarmen wird erbeten, weil er der allmächtige Schöpfer ist.

Rembrandt van Rijn „God the Father supported by Angels“, ca. 1655/1660. Lizenz: gemeinfrei.
Rembrandt van Rijn „God the Father supported by Angels“, ca. 1655/1660. Lizenz: gemeinfrei.