Nicht nur Hörer, sondern Täter des göttlichen Wortes sind Christen. Sie – wir! – sind zur Gottes- und Nächstenliebe neugeboren.
1. Verortung
Der Jakobusbrief bestimmt für seine Leser und Leserinnen Vollkommenheit als das ideale Ziel christlichen Lebenswandels. Er ist ein Plädoyer für ein Christentum der Tat und eine Frömmigkeit, die praktizierte Nächstenliebe bedeutet. Das Grundanliegen des Briefes ist bereits in den ersten Versen ausbuchstabiert: „Nehmt es voll Freude auf, meine Brüder und Schwestern, wenn ihr in mancherlei Versuchungen geratet! Ihr wisst, dass die Prüfung eures Glaubens Geduld bewirkt. Die Geduld aber soll zu einem vollkommenen Werk führen, damit ihr vollkommen und untadelig seid und es euch an nichts fehlt.“ (Jakobus 1,2-4). Das theologische und anthropologische Grundgerüst hierfür bieten die Verse 13-27.
Es wäre falsch, den Jakobusbrief nun als eine „freischwebende ethische Hausapotheke“ zu verstehen, sondern es geht de facto um Leben und Tod: „Keiner, der in Versuchung gerät, soll sagen: Ich werde von Gott in Versuchung geführt. Denn Gott lässt sich nicht zum Bösen versuchen, er führt aber auch selbst niemanden in Versuchung. Vielmehr wird jeder von seiner eigenen Begierde in Versuchung geführt, die ihn lockt und fängt. Wenn die Begierde dann schwanger geworden ist, bringt sie die Sünde zur Welt; ist die Sünde reif geworden, bringt sie den Tod hervor.“ (Verse 13-15) – die Warnung vor der Sünde und dem Tod liegt als Rahmen um den gesamten Brief: „Meine Brüder und Schwestern, wenn einer unter euch von der Wahrheit abirrt und jemand ihn zur Umkehr bewegt, dann soll er wissen: Wer einen Sünder, der auf einem Irrweg ist, zur Umkehr bewegt, rettet ihn vor dem Tod und deckt viele Sünden zu.“ Dem Irrweg – weg von der Wahrheit, bzw. dem Wort der Wahrheit – stellt der Jakobusbrief in seinem ersten Kapitel eine Theologie des Wortes entgegen.
2. Aufbau
Die für die Lesung ausgewählten Verse zeigen die Gedankenlinie dieser Theologie des Wortes auf. Durch das Wort der Wahrheit wird der Mensch neugeboren (Vers 18). Dieses anzunehmen, bedeutet ihm entsprechend zu handeln – vom Hörer zum Täter des Wortes zu werden (Vers 22). Was dies konkret bedeutet, erklärt Vers 27: Nächstenliebe und Gottesliebe.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 17: Zuvor hatte der Autor des Jakobusbriefes in den Versen 13-14 klargestellt, dass die Versuchungen, d.h. die Begierden aus dem Inneren des Menschen – und somit nicht von Gott – stammen. Nun erklärt er, dass Gott nicht nur der Geber der Weisheit (siehe Vers 5), sondern generell ein Gott, der mit Guten beschenkt, ist. Entscheidend an dieser Aussage ist die räumliche und damit qualitative Unterscheidung, zwischen dem Himmel („oben“) als Quelle des Guten und der Welt (siehe die Erklärung zu Vers 27). Gott, der das Gute gibt, tut dies nicht nur punktuell, sondern dauerhaft und unveränderlich. Die aus der griechischen Philosophie bekannte Vorstellung der Unveränderlichkeit Gottes, die bereits im Alten Testament im Motiv der Treue Gottes anklingt (siehe auch 1 Johannes 1,5), wird hier schöpfungstheologisch erklärt. Er ist – so heißt es wörtlich – „Vater der Lichter“. Damit wird sicherlich auf die Erschaffung der Gestirne durch Gott angespielt (Genesis 1,14-18). Die theologische Aussage ist jedoch eine andere. Bereits der alttestamentliche Weisheitslehrer Jesus Sirach schrieb: „Was leuchtet heller als die Sonne? Auch sie verblasst“ (Sirach 17,31) – bei Gott hingegen gibt es keine Veränderung und – um im Bild zu bleiben – keine Sonnenwende; kein Zeitfaktor hat einen Einfluss auf die ewige Güte Gottes (vgl. Jesaja 40,8: „Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, doch das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit.“ – siehe die Erklärung zu Vers 18).
Vers 18: Betont wird der freie Willensentschluss Gottes und sein Handeln – beides in einer fundamentalen Bedeutung für „uns“. Die Aussage, dass wir durch das „Wort der Wahrheit geboren“ wurden, hat mehrere Bedeutungsebenen. Das Wort Gottes ist im Alten Testament Gottes Werkzeug zur Schöpfung, sowohl im Anfang als auch immer wieder neu; so sprich Gott zum Beispiel in Jesaja 55,11: „so ist es auch mit dem Wort, das meinen Mund verlässt: Es kehrt nicht leer zu mir zurück, ohne zu bewirken, was ich will, und das zu erreichen, wozu ich es ausgesandt habe.“ Zudem ist die Wendung „Wort der Wahrheit“ sowohl bei Paulus als auch in den nachpaulinischen Schriften zu finden, wo sie auf die Verkündigung des Evangeliums verweist: „In ihm [d.i. Christus] habt auch ihr das Wort der Wahrheit gehört, das Evangelium von eurer Rettung“ (Epheser 1,13). Das heißt, bezogen auf das Verständnis von Vers 18: Das (neu)schöpfende Wort Gottes, das zuverlässig und treu ist, hat „uns“ hervorgebracht; „unser“ Christ-Sein ist ein gewollter Schöpfungsakt Gottes eines neuen Menschen. Das Ziel dieser Neuschöpfung ist, dass die Christen – wörtlich übersetzt – „eine Art Erstling seiner Geschöpfe seien“. Bemerkenswert ist die Aussage der Beziehung, dass selbstverständlich alle Lebewesen zu Gott gehören, aber dass die Christen als „Erstlingsgabe“ ausgesondert seien – die erste Frucht der Schöpfung, die Gott als Gabe dargebracht wird. Im Alten Testament wird das Gottesvolk als Erstlingsgabe beschrieben: „Heilig war Israel dem HERRN, Erstlingsfrucht seiner Ernte“ (Jeremia 2,3).
Vers 21b-22: Christen sollen zorniges Verhalten, das im ersten Teilvers als „Schmutz“ und „Böses“ gebrandmarkt wird, ablegen und stattdessen Sanftmut walten lassen. Sie ist die Haltung, in der man das Wort (vgl. Vers 18) annehmen soll – das sozusagen schon längst in die Person eingegeben ist. Im Buch des Propheten Jeremia gibt es die Prophezeiung, dass Gott den Menschen seine Gesetze ins Herz einschreiben wird: „Spruch des HERRN: Ich habe meine Weisung in ihre Mitte gegeben und werde sie auf ihr Herz schreiben. Ich werde ihnen Gott sein und sie werden mir Volk sein.“ (Jeremia 31,33). Im Epheserbrief nun ist der Mensch durch das „Wort der Wahrheit“ (Vers 18) neugeboren und zugleich ist ihm eben dieses Wort eingepflanzt, das heißt: Das Wort ist Teil seines Wesens, das nun das Leben der Christen bestimmen soll. Daher mahnt der Jakobusbrief eindringlich davor, nicht nur Hörer dieses Wortes, sondern auch Täter dieses Wortes zu sein. So wie es im Alten Testament selbstverständlich ist, dass die Gesetze Gottes nicht nur gehört, sondern befolgt werden; so gilt auch für die Christen, dass sie entsprechend des in Vers 25 als „vollkommenes Gesetz der Freiheit“ bezeichnete Wort der Wahrheit (siehe dazu die Auslegung) auch in ihrem Leben aktiv umsetzen sollen. Das Christ-Sein hat praktische Konsequenzen, die in der Verantwortung des einzelnen Christen liegen. Sie müssen das Wort der Wahrheit in ihrem Leben realisieren – ansonsten verneinen sie, wer sie selbst sind. Wer nicht entsprechend dem Wort der Wahrheit handelt, betrügt sich selbst, denn das gehörte Wort ist eine Aufforderung, wie auch Paulus mahnt: „Denn nicht die sind vor Gott gerecht, die das Gesetz hören, sondern die das Gesetz tun; die werden für gerecht erklärt werden.“ (Römer 2,13).
Vers 27: Die Worte „rein“, „makellos“ und „unbefleckt“ stammen aus der Opferkultsprache. Aber bereits im Alten Testament beginnt der Wandel dieser Begriffe hin zu ethischen Vorstellungen. In den frühen Prophetenschriften findet sich zudem eine Kritik, die darauf verweist, dass die Grundlage des Gottesdienstes zuvorderst das ethische Verhalten ist: „Denn an Liebe habe ich Gefallen, nicht an Schlachtopfern, an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern.“ (Hosea 6,6). Ebenso verweist der Jakobusbrief darauf, dass der wahre Gottesdienst und somit das Tun des Wortes der Wahrheit im ethischen Handeln stattfindet. Ganz konkret bedeutet dies: Der Täter des Wortes der Wahrheit ist derjenige, der den Ärmsten der Armen, den Witwen und Waisen – in ihrer Not -, beisteht. Darüber hinaus wird eine Warnung ausgesprochen. Die Welt vermag den Menschen zu beflecken, das heißt, kultunfähig zu machen. Der Jakobusbrief empfiehlt seinen Lesern und Leserinnen damit keinen Rückzug aus der Welt, aber eine Distanzierung, denn das Gute kommt „von oben“ (Vers 17). Radikal wird dieser Punkt in Jakobus 4,4 zugespitzt: „Ihr Ehebrecher, wisst ihr nicht, dass Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott ist? Wer also ein Freund der Welt sein will, der wird zum Feind Gottes.“