Lesejahr B: 2023/2024

Evangelium (Mk 12,28b-34)

28Ein Schriftgelehrter ging er zu ihm hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen?

29Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr.

30Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft.

31Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.

32Da sagte der Schriftgelehrte zu ihm: Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr und es gibt keinen anderen außer ihm

33und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer.

34Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte, und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und keiner wagte mehr, Jesus eine Frage zu stellen.

Überblick

Überrascht? Das Evangelium berichtet von einem Schriftgelehrten, der genauso denkt wie Jesus.

1. Verortung im Evangelium
Der Evangelist Markus unternimmt es als erster eine Jesuserzählung zu schreiben und die zuvor meist mündliche Überlieferung zu einer fortlaufenden Geschichte zusammenzustellen. Das Markusevangelium (Mk) entsteht kurz nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n.Chr.) im Jüdischen Krieg. Der Verfasser ist unbekannt, auch wenn es innerhalb der kirchlichen Tradition eine Verbindung zu Markus einem Judenchristen hellenistischer Herkunft gibt. Dieser ist einerseits Paulusbegleiter (Apostelgeschichte 12,12) und andererseits Vertrauter des Petrus (1. Petrusbrief 5,13).
Das Markusevangelium beginnt in der Wüste (Mk 1,1-13) mit dem Auftreten des Täufers und der Taufe Jesu. Dann schildert es den Beginn der Verkündigung Jesu in Galiläa (Mk 1,14-8,26) und den Weg nach Jerusalem (Mk 8,27-10,52) und endet mit den Ereignissen in Jerusalem (Mk 11,1-16,20). Das ursprüngliche Ende des Evangeliums war die Begegnung der Frauen mit dem Engel am leeren Grab (Mk 16,8). Die Erweiterung um die Erscheinungserzählungen sind später hinzugefügt worden (Mk 16,9-20).
Seit Mk 11,1 befindet sich Jesus in Jerusalem. Nach seinem feierlichen Einzug (Mk 11,1-11) ist er mal explizit im Kreis der Jünger unterwegs (Wort über den Feigenbaum Mk 11,12-14 und 20-26) und dann wieder öffentlich tätig (z.B. Reinigung des Tempels Mk 11,15-19). Von Mk 11,27 an sieht sich Jesus wiederholt Fangfragen, Diskussionen und theologischen Auseinandersetzungen mit religiösen Anführern konfrontiert. Die Frage des Schriftgelehrten nach dem ersten Gebot ist einerseits Teil dieser Reihe von Begegnungen und durchbricht sie zugleich.

 

2. Aufbau
Vers 28 stellt die Verknüpfung zwischen diesem ganz anderen Dialog Jesu mit einem Vertreter der religiösen Autoritäten und den vorhergehenden Szenen her. In den Versen 29-31 wird die Antwort Jesu auf die Frage des Schriftgelehrten wiedergeben, worauf er in den Versen 32-33 noch einmal reagiert. Diese Erwiderung mündet in die Feststellung Jesu und seinen Zuspruch in Vers 34.

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 28b: Ein Schriftgelehrter, der den Streit Jesu mit den Sadduzäern mitbekommen hat (Mk 12,28a), geht auf Jesus zu. Als angesehene Ausleger der Schrift gehören die Schriftgelehrten zu den jüdischen Autoritäten zurzeit Jesu. Da sie die Lehre Jesu in Konkurrenz zu ihrem Blick auf die Schrift und zu ihrer Position als Gelehrte sahen, kommt es immer wieder zu Diskussionen und klaren Meinungsverschiedenheiten. Diese vermeintlich klaren „Fronten“ bricht der Evangelist Markus bereits auf, wenn er davon berichtet, dass der Schriftgelehrte die Ausführungen Jesu vorher als „treffend“ einordnet. Markus stellt damit einen Rückbezug zu Mk 12,18-27 her. In dieser Perikope debattiert Jesus mit den Sadduzäern, einer weiteren religiösen Gruppe, über die Auferstehung der Toten.
Der Schriftgelehrte war offenbar Zeuge dieses Streits und sieht sich durch die Haltung Jesu ermutigt, mit seiner Frage auf ihn zuzugehen. Anders als beispielsweise im Vergleichstext im Matthäusevangelium 22,34-40 geht es weder darum Jesus auf die Probe zu stellen, noch dreht sich die Frage um „das wichtigste Gebot im Gesetz“. Der Schriftgelehrte im Markusevangelium hingegen fragt nach dem grundsätzlich („von allen“) ersten Gebot. Damit hebt er bereits die Fixierung auf die Gesetze als solche auf und fragt nach dem Wesentlichen in dem, was von Gottes Wille in der Vielfalt der Schrift erkennbar ist. Die Frage nach dem Stellenwert einzelner Gebote und auch deren „Rangfolge“ ist sicher Teil katechetischer Unterweisungen gewesen. Hier stellt sie mit dem Schriftgelehrten jemand, der eine Klarheit darüber vermeintlich in seinem Leben umsetzt bzw. diese weitergibt.

 

Verse 29-31: Jesus antwortet mit dem Verweis auf Deuteronomium 6,4-5 und das Bekenntnis zu dem einen Gott. Der mit „Höre, Israel!“ (hebräisch: Schema Israel) eingeleitete Text ist die Erinnerung an die Rettungstat Gottes, der sein Volk aus der Knechtschaft Ägyptens befreite. Diese Grunderfahrung Israels führt zu einer Selbstverpflichtung im Handeln und im Glauben an den einen und einzigen Gott. Wenn der Evangelist Jesus den Text aus dem Buch Deuteronomium zitieren lässt, nimmt er jedoch eine interessante Veränderung vor: Steht in Deuteronomium „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“, fügt Jesus ein viertes Element hinzu: „mit ganzem Denken“. (Im Übrigen wird auch der griechische Begriff für Kraft ausgetauscht.) Damit gewinnt der Verstand bei der Erwiderung des erwählenden Handelns Gottes durch den Menschen eine wichtige Rolle.

Hatte der Schriftgelehrte eigentlich nur nach dem „ersten Gebot“ gefragt, wird ihm von Jesus im gleichen Atemzug auch das „zweite Gebot“, die Liebe zum Nächsten, präsentiert und damit dem Gebot der Gottesliebe ergänzend – nicht nachgeordnet – zur Seite gestellt. Der Evangelist Matthäus präsentiert diese Szene auch hier anders, indem Jesus das zweite Gebot als „ebenso wichtig“ dem ersten gleichordnet. Im Markusevangelium wird der Schwerpunkt klar auf die gegenseitige Ergänzung der Gebote gelegt, wenn Jesus hinzufügt: „kein anderes Gebot ist größer als diese beiden“. Hier werden Gottes- und Nächstenliebe als zwei Weisungen gesehen, die eine Einheit bilden, denen alle weiteren Gebote nachgeordnet sind und deren Fundament in der Antwort des Menschen auf das Handeln Gottes besteht. Die Gottesliebe bleibt das erste Gebot, weil es eine direkte Reaktion auf das Erbarmen und Retten Gottes ist. Aus ihm erwächst als Konsequenz das zweite Gebot, das nicht weniger wichtig, aber doch ohne das erste nicht reflektiert ist.

 

Verse 32-33: Der Schriftgelehrte beginnt seine Antwort mit einer Bestätigung des Gesagten: „sehr gut“, „ganz richtig“. Die Anrede „Meister“ ist von ihm, anders als in der Szene mit den Pharisäern und den Herodesanhängern in Mk 12,13-17, überhaupt nicht „falsch“ oder verächtlich. Er belässt es jedoch nicht bei der bloßen Bestätigung, sondern er antwortet mit einem anderen Zitat aus dem Buch Deuteronomium (Deuteronomium 4,35). Unter Bezug auf das „Höre, Israel!“ stellt der Schriftgelehrte dann Gottes- und Nächstenliebe gleichberechtigt nebeneinander. Gleichzeitig erweitert er die Frage nach der Rangfolge der Gebote beziehungsweise nach den Antworten des glaubenden Menschen auf Gottes Errettung um den Aspekt des Tempelkultes. Wenn er – ganz im Sinne – der alttestamentlichen Kultkritik die Bedeutung der Schlacht- und Brandopfer im Vergleich zum Gebot von Gottes- und Nächstenliebe relativiert. Er greift dazu ein Wort des Propheten Hosea auf (Hosea 6,6). Da Jesus sich seit Mk 11,27 wieder in unmittelbarer Nähe zum Jerusalemer Tempel aufhält, verschärft sich das Wort des Schriftgelehrten zusätzlich.

 

Vers 34: Wie der Schriftgelehrte gegenüber Jesus so bringt Jesus auch umgekehrt in seiner Reaktion eine große Wertschätzung zum Ausdruck. Der Evangelist unterstreicht dies mit der Kommentierung „Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte“. Zugleich spricht er ihm die Nähe zum Gottesreich zu. Durch Jesu Wirken ist es bereits gegenwärtig spürbar, der Schriftgelehrte hat sich durch seine Haltung zu den Geboten nicht nur Jesu Verständnis vom Willen Gottes angenähert, sondern damit auch dem Reich Gottes.
Die Folge des Gesprächs über das erste Gebot ist ein „Verstummen“ der Gegner. Von nun an kommt niemand aus dem Kreis der jüdischen Autoritäten mehr auf Jesus zu. Es gibt nichts mehr zu fragen, denn Jesus hat klar und unmissverständlich zum Zentrum des Gesetzesverständnisses Stellung bezogen. Wenn im folgenden Kapitel die religiösen Anführer der Juden noch eine Rolle spielen, dann entweder, weil Jesus über sie spricht (Mk 12,35-40) oder weil diese den endgültigen Beschluss fassen, Jesus zu töten (Mk 14,1-2, vgl. Mk 3,6).

Auslegung

Wer das Markusevangelium kontinuierlich liest und Geschichte an Geschichte reiht, der dürfte sich bei der Einleitung der Szene in Mk 12,28 gedacht haben: „Nicht schon wieder!“ Schließlich versammelt der Evangelist von Mk 11,27 an Erzählungen, in denen Schriftgelehrte, Pharisäer, Anhänger des Herodes und Sadduzäer nach mehr oder weniger gleichem Muster auf Jesus zukommen und ihn in Diskussionen verstricken. Mal ist ihre Absicht, Jesus einen Hinterhalt zu stellen, sofort erkennbar, mal zeigt sich der Konflikt erst im Laufe des Gesprächs.
Nun kommt also wieder ein Schriftgelehrter auf Jesus zu – doch bereits die Einleitung des Evangelisten lenkt darauf hin, dass diese Begegnung anders sein wird als die vorherigen. Als Zeuge des Gesprächs zwischen Jesus und den Sadduzäern hat er offenbar Mut gefasst, eine Frage an Jesus zu adressieren, die ihn wirklich umtreibt. Das unterscheidet ihn von den andere religiösen Autoritäten, die zuvor mit Fragen an Jesus herangetreten waren, auf die sie eigentlich keine Antworten wollten. In den Gesprächen zuvor ging es immer nur um den „Skandal“, den die Antwort Jesu provozieren würde, um den offenen Gegensatz zwischen Jesu Blick auf den Willen des himmlischen Vaters und den Blick der etablierten Glaubensvertreter. Die vorangegangenen Frager hatten für sich selbst bereits alle Antworten fix und fertig ausformuliert. Sie wollten testen, nicht in einen Dialog kommen. Der Schriftgelehrte in dieser Perikope hingegen möchte ein offenes Gespräch und einen Gedankenaustausch zwischen Menschen, die um ein richtiges Verständnis des Willens Gottes ringen. Er möchte lernen und seinen Antwortversuch präsentieren, das zeigt seine ausführliche Antwort in den Versen 32-33, die er um einen zuvor nicht erwähnten Aspekt (Opferkult) erweitert. Mit diesem offenen auf Jesus zutreten durchbricht der Schriftgelehrter die „Fronten“, die sich sonst im Evangelium zwischen Schriftgelehrten (und anderen religiösen Anführern) und Jesus finden. Obwohl er weiß, dass Jesus schon etliche Diskussionen mit „Seinesgleichen“ geführt hat, geht er auf ihn zu ohne die Sorge, Jesus könnte ihm eine Abfuhr erteilen. In diesem Punkt erinnert er an den Synagogenvorsteher Jaïrus in Mk 5,21-24, der ebenfalls ohne Vorurteile und offen auf Jesus zugeht und darauf baut, genauso empfangen zu werden. Es ist auch diese Grundhaltung der Akzeptanz und Demut gegenüber dem Glauben des Anderen und die Offenheit der Begegnung, die den Schriftgelehrten – wie auch Jaïrus – eine Erfahrung der Nähe des Gottesreiches machen lässt. Jaïrus darf die Wirklichkeit Gottes in der Heilung seines Kindes erfahren, der Schriftgelehrte in einem Glaubensgespräch, in dem es nicht um das Rechthaben geht. 
Und genau dieser Aspekt birgt den großen Überraschungseffekt der Perikope: Ohne in Schubladen zu denken, kommen der Schriftgelehrte und Jesus über ihr Verständnis des Willens Gottes ins Gespräch. Natürlich präsentiert Jesus sein Verständnis zuerst – schließlich wird er danach gefragt. Aber wir wissen auch, dass er das Nicht-Verstehen oder Nicht-Mitgehen des Gegenübers akzeptieren kann, wenn eine ehrliche Suche und Auseinandersetzung da ist. Die Erzählung vom reichen Mann in Mk 10,17-23 hatte das zuletzt gezeigt. Es gibt in diesem Dialog, der seinen Namen verdient, keinen Kampf um Deutungshoheiten oder „Richtigkeit“. Es geht einzig und allein um ein gemeinsames Suchen nach einer Antwort auf die Frage nach Gott und einem Leben, das seinem Willen entspricht. Nicht nur, dass der Schriftgelehrte in dieser Erzählung ein Beispiel dafür ist, dass es gilt, den einzelnen Menschen und nicht seine Zugehörigkeit zu einem (religiösen) Lager oder einer Gruppe in den Blick zu nehmen. Die Begegnung zwischen ihm und Jesus ist auch ein Beispiel für ein Glaubensgespräch, das ohne Vorurteile und Belehrungen auskommt und sich im Ringen um ein Verständnis von Gottes Wirklichkeit aus der Schrift heraus entwickelt.